Читать книгу Acht - Andreas Michels - Страница 8
Оглавление1. Kapitel
Alex konnte nicht genau sagen, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Kandidaten hierfür existierten reichlich, wie zum Beispiel die allmorgendliche Lärmcollage aus mehr als einem Dutzend Kirchtürme der Regensburger Altstadt. Dann gab es da noch den lärmenden Staubsauger aus der Nachbarwohnung oder der auf Hirnschmelze aufgedrehte Hip-Hop aus dem Nebenhaus.
Eine Weile blieb der ehemalige Student noch liegen und starrte schlaftrunken in Richtung Tisch, wo ein halbvolles Glas Cola vom Vortag stand. Darin konnte man herrlich die Vibrationswellen beobachten, die mit jedem der Bassschläge einhergingen.
Bevor sein auf Sparflamme arbeitender Verstand aber die ersten Gegenmaßnahmen formulieren konnte, übernahmen andere Hirnzentren das Sagen. Automatenhaft stemmte er sich aus dem Bett hoch und streckte sich zunächst einmal ausgiebig, um dann aus dem Bett zu steigen. Als er ein vergilbtes Foto an der Wand erblickte, verdüsterte sich die Miene des jungen Mannes schlagartig. Der Anblick seiner Ex, die ihm auf dem Bild frech grinsend die Zunge herausstreckte, während sie auf einer Kaimauer entlang der Donau balancierte, wirkte sich wenig Laune fördernd auf ihn aus.
Also krabbelte er nochmal über das Doppelbett, mit nur noch einer von ehemals zwei Matratzen hinweg, um das Foto abzureißen. Dabei machte sich Alex nicht die Mühe, auch den zugehörigen Reißnagel aus der Wand zu entfernen. Anschließend warf er das Foto kurzerhand in einen Mülleimer und schlurfte in den Gang hinaus.
Zu seiner Freude fand er die Badezimmertür nur angelehnt vor. Tage, an denen man in einer fünf Personen WG auf Anhieb das Bad unbesetzt erwischte, qualifizierten sich normalerweise für einen Kalendereintrag. Lediglich Miss Daisy, die WG-Katze, protestierte energisch maunzend gegen die Störung ihrer Morgentoilette.
Davon unberührt widmete sich Alex zunächst der Zahnhygiene und ging gleichzeitig der Frage nach, ob das heutige Tagesgeschehen Dusche und Rasur rechtfertigte. Sein Blick fiel dabei auf den Spruch, den einer der ehemaligen Bewohner über dem Spiegel mit einem dicken Filzstift verewigt hatte: Grunge ist in!
Ganz in diesem Sinne warf er sich nur ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht und schlenderte dann in Richtung Küche. Neben der Zubereitung von Mahlzeiten stellte jener Ort auch das soziale Zentrum der Wohnung dar. Und noch viel wichtiger: Dort stand die Kaffeemaschine!
Galant überstieg er zunächst zwei halbvolle Müllbeutel, um sich im Anschluss in der verwaisten Küche umzuschauen, die sich momentan vor allem durch den eklatanten Mangel von genussfertigem Kaffee auszeichnete. Ein Missstand, den er sofort abzustellen gedachte.
Bald schon saß er auf einem der wackligen Küchenstühle, woraufhin sich Miss Daisy taktisch günstig auf seinem Schoß niederließ. Nach Katzenlogik brauchte er wohl nur eine Hand zum Kaffeetrinken, die andere konnte gewinnbringend für Streicheleinheiten eingesetzt werden. Im Tausch dafür gab es auch reichlich Katzenhaare. So ließ sich Alex eine Weile von der Morgensonne den Rücken wärmen, bis schließlich die Tür aufging und eine seiner Mitbewohnerinnen hereinkam.
Nur gekleidet in T-Shirt und Shorts stakste Jessy ebenfalls über die beiden Müllbeutel hinweg und wäre dabei fast auf die empört flüchtende Katze getreten, die ihr eigentlich zur Begrüßung entgegengekommen wollte.
Alex wurde kurz mit einem verschlafenen Winken bedacht, ehe sich seine Mitbewohnerin über die Kaffeekanne hermachte. Der Geruch frisch aufgebrühten Kaffees fungierte von je her als universelles Weckmittel in dieser WG, schon deswegen hatte er mehr als genug davon aufgesetzt. Und ganz nebenbei konnte er so Jessy eine geraume Weile ungeniert anstarren. Selbst jetzt, verquollen vom Schlaf und ohne extensiven Einsatz einer Schminkflinte, sah sie einfach zum Anbeißen aus. Bis zur Mitte ihres Rückens reichende, dunkelrote Haare standen im Kontrast zu einer hellen Haut und einem wilden Rudel Sommersprossen um die Nasengegend herum. Alex konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob ihre grünen Augen nicht auf Kontaktlinsen beruhten, aber so oder so passten sie ganz ausgezeichnet zum Rest des Äußeren seiner Mitbewohnerin. Hinzu kam, dass man Jessys Figur am besten mit „Wofür Männer töten!“ umschreiben konnte.
Schnell schob er sich ankündigende Gedanken unzüchtiger Natur beiseite. Jessy stellte eine absolute Tabuzone für ihn dar und das gleich aus mehreren Gründen: Zum einem lag das schmerzliche Ende der letzten Beziehung von Alex noch gar nicht so lange zurück und der Stachel der Zurückweisung steckte immer noch tief. Und zum anderen gehörte die sich mit einer Unzahl von Jobs über Wasser haltende Lebenskünstlerin zu jenem kleinen und erlesenen Kreis von Menschen, die Alex uneingeschränkt als Freund bezeichnen konnte. Nicht nur verdankte er ihr seinen Platz in dieser WG, nein, im Laufe der Zeit wären einige unschöne Situationen ohne Jessys tatkräftige Hilfe auch weitaus übler für Alex ausgegangen.
Erst mit Beginn seiner letzten Beziehung hatte sie sich etwas mehr zurückgezogen, wohl auch, weil sie sich ebenfalls seit einiger Zeit in festen Händen befand.
Bald machte sich Jessy mit einer Tasse und etwas Essbarem aus dem Kühlschrank auf den Rückweg in ihr Zimmer, womit Alex allein in der Küche zurückblieb. Mangels anderer Beschäftigung starrte er eine Weile in die teerschwarze Finsternis seiner Tasse und lauschte auf die Geräusche der Stadt.
Außerhalb der Wohnung schien Regensburg langsam zum Leben zu erwachen. Das Morgenläuten war schon vor einer Weile vom mittlerweile obligatorischen Lärm der Touristengruppen am Domplatz ersetzt worden. Alex konnte die von den Touristikführern erzählten Geschichten inzwischen im Schlaf aufsagen. Dennoch blieb er sitzen und lauschte wartend zum wiederholten Male der Mär des mittelalterlichen Wettstreits zwischen Dombaumeister und Brückenbaumeister. Gerade als sich die Erzählung unten dem Ende zuneigte, wurde das Schloss der Wohnungstür betätigt und kurze Zeit später öffnete sich die Küchentür. Automatisch griff Alex nach einer bestimmten Steingut-Tasse im Regal neben sich, schenkte ein, um sie sie alsbald Sven, einem weiteren seiner Mitbewohner, in die Hand zu drücken.
Der Leipziger bedankte sich mit einem einsilbigen Grunzen und machte es sich Alex gegenüber am Küchentisch bequem. Einträchtiges Schweigen breitete sich in der Küche aus, nur unterbrochen vom Straßenlärm und dem regelmäßigen Ticktack der Uhr. Den Beginn dieses gemeinsamen Rituals, welches sich so nahezu jeden Tag wiederholte, konnte Alex noch in die eigene Studienzeit zurückverfolgen, während der er ebenfalls zu unmenschlichen Zeiten sein Zubrot verdient hatte.
Etwa zehn Minuten später zog der Kaffeeduft auch den letzten Bewohner der WG an, was das Ende der einträchtigen Ruhe bedeutete. Mit Miss Daisy als Vorhut kam Jochen in die Küche geschlurft. Der Philosophiestudent sah aus, als habe er die Nacht wieder einmal über irgendwelchen Büchern verbracht. Einsilbig brummelte er einen Gruß und leerte die Kaffeekanne in eine mitgebrachte Tasse. Wenigstens besaß er aber den Anstand, anschließend eine Neue aufzusetzen. Wie auch Jessy gehörte er zum inneren Kreis der Gemeinschaft und schien sein Studentenleben auf absehbare Zeit noch nicht beenden zu wollen. Alex konnte den mitunter etwas altklug klingenden Mittdreißiger, der unangefochten den Posten des WG-Ältesten belegte, verdammt gut leiden.
Während der neue Kaffee durch die Maschine lief und Jochen den Kühlschrank plünderte, erhob sich Sven, gähnte ungeniert mit weit offenem Mund, bevor er sich anschickte, die Küche zu verlassen. Prompt stolperte er über die beiden Müllsäcke nahe der Tür, was Alex und Jochen schadenfroh grinsen ließ, denn einer ungeschriebenen Regel zufolge fiel ihm damit der Mülldienst zu. Murrend schnappte er sich beide Säcke, um sie aus der Wohnung zu schaffen. Jochen gesellte sich derweil an den Tisch zu Alex und steckte seine Nase in ein mitgebrachtes Buch. Aus Erfahrung wusste Alex, dass die Chancen auf eine normale Konversation mit dem angehenden Philosophen somit erfahrungsgemäß gegen null tendierten.
Sven dagegen erwies sich nach seiner Rückkehr von der Müllexkursion als umso mitteilungsfreudiger und ließ Alex in klinisch exakten Details an den Ereignissen der letzten Schicht teilhaben. Entweder entgingen ihm dabei die verzweifelten Blicke, die Alex zur Decke warf oder aber es kümmerte ihn einfach nicht.
Die WG-Katze hatte sich derweil abermals Alex als Opfer auserkoren und machte es sich schon bald wieder auf seinem Schoß bequem. Automatisch begann er sie erneut zu kraulen, was ihm mit genüsslichem Schnurren gedankt wurde. Trotz Svens Geplapper befand Alex, dass ihm wohl ein recht gemütlicher Tag ins Haus stand. In absehbarer Zeit musste somit die Essens- sowie die Abendplanung angegangen werden. Und wie üblich würde sich Jochen nur mit einem gelegentlichen Brummen beteiligen, während Jessy durch Abwesenheit glänzte.
Unvermittelt jedoch richtete sich Jochen auf, starrte ihn an und verengte die Augen. Alex entging die Haltungsänderung des angehenden Philosophen über den Rand seiner Tasse hinweg nicht, also setzte er sie ab und hob fragend die Brauen. »Sag mal, Alex? Hattest du nicht heute das Bewerbungsgespräch bei dieser Webdesign Firma?« Jochens Frage unterbrach den bislang nicht enden wollenden Erzählstrom von Sven, der ihn daraufhin beleidigt anstarrte, jedoch ignoriert wurde.
Ein eisiger Klumpen ballte sich in der Magengegend von Alex zusammen. Gleichzeitig versetzte sich die Welt irgendwie in Zeitlupe, bevor sein Verstand einen panischen Kickstart hinlegte. Er brachte nicht mehr als »Ach du Scheiße!« heraus und fuhr in die Höhe, sehr zum Unwillen von Miss Daisy, die mit ausgefahrenen Krallen ihre Position zu behaupten versuchte. Seine Oberschenkel brannten demzufolge wie Feuer, als er aus der Küche hetzte, die Kaffeetasse auf der erstbesten Unterlage im Flur abstellte und Richtung Bad sprintete.
Hastig riss er den Wäschetrockner auf und fand nach einigem Suchen das für das Gespräch vorgesehene Hemd, wobei nun energisches Ausschütteln zum Interim-Ersatz für fehlendes Bügeln wurde.
Mit einem Arm schon im Hemd hetzte er weiter in sein Zimmer, um dort aus einem Klamottenhaufen die zugehörige Jeans zu ziehen. Die beiden Ketchup-Flecken auf dem linken Hosenbein bemerkte er erst jetzt, aber für eine Reinigung blieb keine Zeit mehr. Also schlüpfte er hinein, stakste zum Schreibtisch und begann die dort aufgestapelten Unterlagen nach der vorbereiteten Bewerbungs-mappe zu durchwühlen.
Ein hastiger Blick auf die Uhr besagte, dass ihm noch etwa zwanzig Minuten bis zu seinem Gesprächstermin blieben. Wenn sich nicht alle Schicksalsgötter gegen ihn verschworen hatten, bestand noch eine kleine Chance, rechtzeitig anzukommen.
Schon stürmte er durch den Flur hin zur Wohnungstür. Doch just in diesem Moment kam die Wohnungskatze im vollen Galopp aus der Küche gesprintet. Alex gelang es gerade noch auszuweichen, was ihn aber auf direkten Kollisionskurs mit dem kleinen Schränkchen im Flur brachte. Abermals wechselte seine Wahrnehmung in Zeitlupe. Detailliert konnte er verfolgen, wie die von ihm dort zuvor abgestellte Kaffeetasse durch den Stoß ins Kippen geriet und ihren asphaltschwarzen Inhalt über seine Hose verteilte.
Fassungslos starrte Alex auf den sich ausbreitenden Fleck, um dann auf dem Fuße umzudrehen und zurückzuhetzen. Hektisches Suchen, begleitet von einigen maßlosen Flüchen, förderte in seinem Zimmer eine andere Hose zutage, die eher schlecht als recht als Ersatz dienen konnte.
Wieder zurück im Flur bückte er sich, hob die, nun ebenfalls mit Kaffeeflecken bedeckte Mappe auf und hetzte zur Wohnungstür hinaus. Im Treppenhaus nahm er gleich zwei Stufen auf einmal, warf die Haustür unten auf und verharrte erschrocken vor dem spiegelnden Fensterglas: Seine Frisur konnte selbst mit viel Wohlwollen nur als chaotisch bezeichnet werden. Ein paar Mal fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass er mit einer Robert-Pattinson-Gedächtnisfrisur bei dem Termin aufkreuzen würde. Fluchend begann Alex in Richtung Bushaltestelle zu rennen.