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Kapitel 8

LFT-Einheit LUCKY JIM

17. April 1341 NGZ, 15:12 Bordzeit

Vernehmung: Yun, Eingeborener der Kolonialwelt Snowflake

Vernehmungsgegenstand: Snowflake

Vernehmender Spezialist: Wilton Dolson

DOLSON: Erzähl mir von Snowflake, Yun.

YUN: Flake. Niemand sagt Snowflake. Keiner, außer Leuten, die gutes und schlechtes Eis nicht unterscheiden können. Kupplern, Terranern und so.

DOLSON: Entschuldige. Dann Flake. Erzähl mir von Flake.

YUN: Da gibt's nicht viel zu erzählen. Außerdem – wen soll das jetzt noch scheren?

DOLSON: Mich. Viele andere hier an Bord und in der Liga. Mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst.

YUN: Was du nicht sagst.

DOLSON: Bitte, Yun!

YUN: Okay. [Überlegt.] Ist halt so, wie der Name sagt. Der ganze Name, meine ich. Schneeflocke. Eine Eiswelt. Schnee, Schnee, Schnee, wohin man sieht, und wo keiner ist, guckst du auf den Eispanzer. Die Nächte sind manchmal endlos, Wochen und Monate lang, dafür sind aber zu anderen Zeiten die Tage genauso lang. Und es ist immer schön kalt. Immer unter null.

DOLSON: [Sieht in ein Display, nickt.] Ja, Sno... Flake folgt einem außerordentlich exzentrischen Orbit. Die Jahreszeiten dauern dort nicht Monate, sondern Jahrzehntausende. Ansonsten: terraähnliche Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre, Schwerkraft bei 1,04 Gravos, durchschnittliche Temperatur am Äquator minus 5,4 Grad Celsius, an den Polen minus 47,2 Grad Celsius. Oberfläche zu 99,8 Prozent von Schnee und Eis bedeckt. Einwohnerzahl zwei Millionen, davon 1,8 Millionen unter Kuppe...

YUN: Wieso fragst du mich, wenn dein Holo sowieso alles viel besser weiß als ich?

DOLSON: Wie kommst du darauf? Ich wollte nur ...

YUN: Du wolltest mir nur zeigen, wie toll ihr Terraner seid, was? Dem Jungen vom kalten Hintern des Universums mit der komischen Fettschicht unter der Haut zeigen, was ihr draufhabt, was?

DOLSON: Nein!

YUN: Ihr seid so großartig! Schippert mit euren überhitzten Monsterkisten durch die Gegend, und wenn ihr irgendwas braucht, drückt ihr 'nen Knopf oder klatscht in die Hände oder brummelt es vor euch hin, und schon kriegt ihr es von euren tausend Robotern nachgetragen. Cold kommt ihr euch vor. Ultracold, was?

DOLSON: Yun, du verrennst dich. Es ist ...

YUN: Aber ich sag dir und deinen Kumpeln was: Fresst Schnee! Nehmt eure ganze Wundertechnik und kommt mit nach Flake, und wir gehen raus aufs Eis, am Pol oder sonst wo, und warten, bis ein Sturm kommt. Kein besonders schlimmer, ein stinknormaler genügt. Kann schon mal drei Wochen dauern. Dann will ich euch colde Typen sehen! Ihr fallt vor Angst tot um in euren schicken Thermoanzügen, wetten?

Oder wir gehen jagen. Killerrobben. Mann, die Viecher sind clever. Du passt einen Moment nicht auf, und plötzlich bist du der, der gejagt wird. Dann hast du das Rudel am Hals, Dutzende fiese Viecher. Und ich sag dir eins: Ein Flossenschlag, selbst von 'nem Jungen, und dein Kopf fliegt samt Helm einmal um den Planeten. Und glaub' nur nicht, dass dir dein Schutzschirm was nützt. Die Robben lauern dir auf. Sie sind dir auf der Fährte, lang, bevor du überhaupt merkst, was los ist.

Wie würde dir das gefallen, Terraner? Zu aufregend? Gut, dann gehen wir einfach fischen. Brenn' ein Loch ins Eis, wenn du 'nen Strahler hast. So'n Magazin reicht immerhin für 'nen halbes Loch, das Eis schluckt. Also heißt es irgendwann, selber Hand anlegen. Wir schlagen ein Loch ins Eis, dauert nur 'nen Tag, und warten noch mal drei Tage, bis was anbeißt. Eher nach deinem Geschmack? Du musst nicht mal 'nen Finger rühren, um dein Essen zu kriegen. Beinahe noch bequemer als hier, nicht? Aber pass auf: Keine Bewegung, sonst sind die Fische weg, und du hast drei Tage umsonst dagehockt. Und dann musst du ein neues Loch schlagen, kostet 'ne Menge Kraft. Kraft, die du nicht mehr hast. Und das riechen die Robben, und dann schleichen sie sich ran. Und wenn du dann am Loch sitzt, siehst du plötzlich, wie sich im Wasser was bewegt und du denkst: »Endlich! Endlich ein Fisch!«, und es ist das Letzte, was du denkst, denn zu mehr kommst du nicht, bevor dir 'ne Flosse den Kopf abgehauen hat.

Was ist, Terraner? Bist du dabei? Ihr seid doch so verrückt nach Abenteuern, oder?

DOLSON: Auch wenn du mir das nicht glauben wirst: Ja, auf der Stelle käme ich mit. Aber es geht nicht. Nicht mehr. Und du weißt wieso, Yun.

YUN: [Schweigt, birgt das Gesicht in den Händen.]

DOLSON: Yun ...

YUN: [Winselt leise.]

DOLSON: Yun, es tut mir Leid. Für dich. Um deine Welt. Um alle, die gestorben sind. Um alles, was vergangen ist.

YUN: [Blickt auf.] Nein, es muss dir nicht Leid tun. Ich will niemandem Leid tun. Nie!

DOLSON: Du tust es aber. Dir wurde Leid angetan. Dir und deinesgleichen. Und dagegen habe ich etwas. Ich will es wieder gutmachen.

YUN: Das geht nicht!

DOLSON: Ich kann es zumindest versuchen, nicht wahr? Und ich kann verhindern, dass anderen solches Leid wie euch geschieht. Wir beide zusammen können es, Yun.

YUN: Wieso ... wieso erzählst du mir dann so einen ... einen ...

DOLSON: ... Scheiß?

YUN: [Nickt.]

DOLSON: Weil ich nicht halb so toll oder überlegen bin, wie du insgeheim vielleicht denkst. Ich bin ein Mensch wie du, ich mache Fehler. Ich hatte befürchtet, dass du mir nichts über Flake erzählen willst oder kannst. Die Daten habe ich dir vorgelesen, weil ich hoffte, dass es dir vielleicht hilft. Dich zum Reden bringt.

YUN: [Grinst.] Hat es ja getan.

DOLSON: Das hat es. Aber so habe ich es bestimmt nicht gewollt. Das musst du mir glauben.

YUN: Okay, ich glaub' dir. Trotzdem, was soll das Ganze? Ihr wisst ja schon alles über Flake. Viel mehr als ich.

DOLSON: Täusche dich nicht. Wir wissen alles – und nichts. Ich kann beinahe beliebige Informationen abrufen. Du willst die Wetterdaten der letzten dreißig Jahre für Flake haben? Für jeden beliebigen Ort, für jede beliebige Uhrzeit? Dauert nur einen Augenblick. Alles gespeichert.

Aber das nützt mir nichts. Im Gegenteil, dieser Wust von Daten versperrt mir den Blick auf das Wesentliche. Das kannst nur du mir geben.

YUN: Was ist das Wesentliche?

DOLSON: Wie es sich anfühlt. Wie es sich anfühlt, ganz allein auf einer hunderte Kilometer durchmessenden Eisebene zu sein, wenn ein Sturm hereinbricht. Was in einem vorgeht, wenn die Nacht kein Ende nimmt oder der Proviant zu Ende geht. Was für Gedanken einem durch den Kopf schießen, wenn ein Rudel Killerrobben einen jagt.

YUN: Keiner. Kein Einziger. Du willst nur überleben. Nur überleben.

DOLSON: Flake ist eine grausame Welt, nicht?

YUN: Wie kommst du darauf?

DOLSON: Na ja, du hast mir eben die Naturgewalten und Gefahren nachdrücklich geschildert. Es hört sich so an, als müsste man bei jedem Schritt aufpassen, sonst verschluckt einen diese Welt zum Frühstück und rülpst fröhlich.

YUN: [Lacht.] Nein, Flake ist nicht fies. Man muss einfach aufpassen, was man tut. Ab und zu nachdenken, nicht jeden Scheiß mitmachen, Augen und Ohren offen halten. Ist nicht so viel anders wie bei euch auf diesem Monsterkahn. »Yun, pass auf, da darfst du nicht hin!«, »Yun, lass die Finger von dem Knopf!«, »Yun, nein! Yun, halt! Yun, nicht!« Ich kann's schon nicht mehr hören. Ein falscher Schritt, und es ist aus mit mir – ich hab's kapiert! Kapiert? Und okay, ist ja was dran: Dieses Ding in meiner Kabine, diese Dusche hätt' mir beim ersten Mal fast das Fett unter der Haut weggekocht.

DOLSON: Oh, das tut mir ...

YUN: Spar dir das ständige Mitfühlen und Entschuldigen. Ich bin selber groß. Meine Blödheiten brauchen nur mir selber Leid zu tun. Genügt völlig. Diese Dusche ... ich wollt' eben wissen, wie sich geschmolzenes Eis anfühlt.

DOLSON: Du hast noch nie Wasser gespürt?

YUN: Klar. Aber noch nie so viel. Auf Flake gab's immer nur so kleine Behälter. Kaum wärmer als der Schnee oder das Eis. Drin vielleicht ein paar Schlucke.

DOLSON: Und was ist mit dem Meerwasser? Du hast mir doch vom Fischen erzählt. Trinken kann man es nicht, aber fühlen ...

YUN: Ich geb dir 'nen guten Rat: Bleib' über'm Loch. Fällst du rein, ist es aus mit dir. Fettschicht hin oder her. Klar, später, mit Shon und Felton bin ich ins Meer. Aber das zählt nicht. Wir haben das Wasser nicht wirklich berührt. Und außerdem waren wir so baff, dass ich von dem Wasser sowieso nichts mitgekriegt hab'.

Eure Dusche aber. Cold. Nein, total uncold. Der Computer hat mich gefragt, wie ich's gern hätte, und ich sag': »Warm natürlich!« Bin ja auf 'nem Terraner-Raumer. Kalt hab' ich schon zu Hause. Und dann hab' ich's gekriegt. Gejault hab' ich wie ein Robbenbaby, dem man die Mutter erschlagen hat! Mann, hat das gebrannt! Kein Wunder, dass ihr Terraner keine anständige Fettschicht habt, brennt sie euch morgens und abends weg, was?

DOLSON: Die Positronik hat das Wasser sofort abgestellt, nehme ich an.

YUN: Von wegen! Muss mein Jaulen als Freudenjauchzer genommen haben. Die Tür war verriegelt – zu dumm zum Schneeschippen, dieser Scheißcomputer! Musste die Tür einschlagen.

DOLSON: Aber das geht nicht! Die Duschtüren sind aus Glassit, sie sind unzerbrechlich. Kein Mensch ...

YUN: He, ich bin ein Vierter, schon vergessen? Auf jeden Fall juckt meine Haut jetzt noch, wenn ich nur dran denk'. Wenn du mich fragst, hier ist es viel gefährlicher als auf Flake.

DOLSON: Das ist ein kluger Gedanke. Wenigstens, was dich angeht. Du kennst dich hier eben nicht aus. Trotzdem, Flake klingt so unwirtlich, so ungemütlich ...

YUN: Nicht für Flakies. Und viele andere Leute denken genauso, sonst würden sie nicht nach Flake kommen. Und denk' an die ersten Siedler.

DOLSON: Es waren keine Siedler, es waren Schiffbrüchige. Die ENCORE war ein Kreuzfahrtschiff, auf einer Tour von einem tropischen Paradies zum nächsten. Flake lag nicht auf ihrer Route, der Stopp auf der Eiswelt war eine verzweifelte Notlandung, eher ein kontrollierter Absturz. Die Besatzung hat ihn gut hinbekommen. Eine Hand voll Tote nur. Aber als man das Wrack zwei Jahre später fand, war von den 3000 Touristen und Besatzungsmitgliedern nur noch knapp die Hälfte am Leben. So war es doch, nicht?

YUN: So erzählen es sich die Leute. Aber weißt du, was passiert ist, als eure Flotte auf Flake aufgetaucht ist? Fünfhundert der Leute haben drauf gepfiffen, an Bord zu gehen. Sind auf Flake geblieben. Hatten sich in unsere Welt verliebt. Haben gespürt, wie gut es tut, wenn dir an 'nem klaren, eisigen Tag die Sonne das Gesicht verbrennt und es dir jedes Mal, wenn du Luft holst, in deiner Lunge sticht. Was für 'n lecker Ding 'n Eisfisch ist, roh, nachdem du drei Tage und Nächte an dem Loch im Eis gekauert hast, das du eigenhändig mit 'ner Metallstange gebohrt hast. Wenn du am ganzen Leib zitterst, wenn du um ein Haar den Killerrobben entkommen bist, dich das Leben durchschüttelt.

Diese Leute sind geblieben. Wurden die ersten Flakies. Mann, die konnten einstecken – mussten sie ja auch, hatten ja kein Gramm Fett auf den Rippen! Ich sag dir was: Wenn Felton jetzt hier wär', der würde dir was erzählen. Der würd' sich nicht so rumkommandieren lassen wie ich. Bei dem würdet ihr auf Eis beißen! Aber Felton ist ... Felton ...

DOLSON: Was ist mit Felton?

YUN: Nichts. Gar nichts. [Reibt sich mit beiden Händen die Augen.]

DOLSON: Yun, willst du nicht mit mir darüber sprechen? Es würde dir gut tun. Du siehst nicht gut aus. Überhaupt nicht gut.

YUN: Und wenn schon! [Gähnt.]

DOLSON: Ich will dir helfen, aber das kann ich nur ...

YUN: Ich brauch' keine Hilfe. [Gähnt.] Bin nur ... müde. Ja, müde. Muss schlafen. Dieses ganze Gequatsche macht mich total hitzig. Hab' in meinem ganzen Leben noch nicht so viel gequatscht! Mir schwirrt der Kopf. Nicht gut! Ich will nur schlafen ... schlafen ... [Fällt vornüber.]

DOLSON: Yun!

Perry Rhodan: Pan-Thau-Ra (Sammelband)

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