Читать книгу Perry Rhodan: Pan-Thau-Ra (Sammelband) - Andreas Brandhorst - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3
Lifkom Tremter war ein Schwächling.
Ein jämmerlicher Wicht.
Ein Nichts.
Für die hundert Meter benötigte er mehr als zehn Sekunden, mit beiden Armen stemmte er gerade einmal 80 Kilo, und das nur für Sekunden und bei lächerlicher Erdschwerkraft. Stürmte es – und wann tat es das nicht? – musste er den Schwerkraftanker seines Schutzanzugs aktivieren, der ihn an den Boden fesselte. Andernfalls hätte der Wind ihn weggeweht wie ein Blatt, und man hätte nie wieder von ihm gehört. Gab es einen Kälteeinbruch, rettete ihn nur sein Anzug davor, nach wenigen Schritten zu einem Eisblock zu gefrieren. Kam danach die Hitze – und sie pflegte unmittelbar nach Kälteeinbrüchen die höchsten Grade zu erreichen – bewahrte ihn derselbe Anzug davor, wie ein Wassertropfen zu verdampfen. Käme er auf die Idee, den Helm seines Anzugs zu öffnen, um frische Luft zu atmen, wäre es sein letztes Vergnügen dieser Art gewesen: Der achtfache irdische Luftdruck hätte ihn umgebracht.
Jeder Schritt, den Lifkom auf Oxtorne unternahm, musste wohlüberlegt sein. Sein Anzug schützte ihn vor den Elementen, die auf diesem Höllenplaneten nur einen Gefühlszustand zu kennen schienen: den der unbändigen Wut. Die Oxtorner selbst sahen es natürlich anders. Sie werteten die Extreme, mit der ihre Welt aufwartete, als Ausdruck schrankenloser Ausgelassenheit. Und je ausgelassener der Planet Oxtorne sich austobte, desto ausgelassener wurden seine Bewohner.
Die Oxtorner spielten. Sie stürzten sich wie die Lemminge der altterranischen Legende über Klippen ins Meer, wetteiferten darum, wer am längsten den turmhohen Wellen standhielt. Der Rekord, bei Sturmstärke 16, lag irgendwo bei über einer Woche. Lifkom selbst hätte keine Minute durchgehalten, bevor er ertrunken oder an den Felsen zu Brei zerschmettert worden wäre.
Aber das war auch kein Wunder. Er war ja ein Schwächling. Seine Haut glich nicht einem Stahlpanzer, seine Knochen übertrafen nicht Metallplastik an Festigkeit. Und wenn er einmal eine Woche nichts trank, war er tot. Für einen Oxtorner begann dann erst der Spaß. Bei acht Wochen lag mittlerweile der Rekord. Ohne bleibende Schäden für den Rekordhalter, aber belohnt mit psychedelischen Effekten, an die keine bekannte Droge auch nur annähernd herankam, und der Hochachtung der Mitmenschen. Natürlich gab es auch noch andere Wege, Achtung zu erreichen. Man konnte beispielsweise aus dem Fenster springen – der Rekord für einen unversehrten Aufprall lag inzwischen bei 14 Stockwerken –, mit Okrills ringen – Rekord: ein halbes Dutzend ausgewachsene Tiere, bezwungen von einem einzigen Oxtorner – oder, war man weniger ehrgeizig, einfach nur seine feste Behausung aufgeben und den Elementen Oxtornes ungeschützt trotzen.
Nichts davon kam für Lifkom in Frage, war er nicht auf Selbstmord aus. Oxtorne war eine Welt der Umweltangepassten. Kein Ort für einen gewöhnlichen Terraner. Ohne Mikrogravitator hätte die Schwerkraft, die mehr als das Vierfache der irdischen betrug, ihn an den Boden genagelt, ihm langsam aber unerbittlich das Leben aus dem Leib gequetscht.
Doch Lifkom harrte aus. Trotzte der Höllenwelt und ihren Bewohnern. Er war der Botschafter Terras auf Oxtorne, direkter Beauftragter der Terranischen Residenz, Repräsentant der Liga Freier Terraner. Eines Sternenreichs der Schwächlinge, zugegeben, aber auf jeden Riesen kamen tausende von Schwächlingen, und in diesem Zahlenverhältnis drückte sich ein Machtgefälle aus, das die Riesen er- und anerkannten. Oxtorne war Zentrum der Praesepe-Koalition, einem Gebilde, zu dem Precheur, Suavity, Folgogon sowie dreißig weitere Welten gehörten, zu wenige und zu dünn besiedelt, um sich den Titel »Sternenreich« zu verdienen. Deshalb hatte sie sich folgerichtig der Liga angeschlossen. Und Oxtorne und die Praesepe-Koalition würden solange keine Anstalten machen, der Liga abtrünnig zu werden, solange man ihre Bewohner nicht über Gebühr belästigte. Ein Sachverhalt, den wiederum die Schwächlinge spürten, weshalb die Liga ihre Präsenz auf Oxtorne, der Zentralwelt der Koalition, auf das absolute Minimum beschränkte: den Botschafter Lifkom Tremter.
»Lifkom?« Das Visiphon des Botschafters sprach an.
»Ja. Wer ist da?« Es war eine unnötige Frage. Er hatte die Stimme erkannt, noch bevor das Bild sich aufgebaut hatte. Doch Lifkom war dazu übergegangen, ab und an seine Unzulänglichkeiten als Terraner überzubetonen, um bei Bedarf sein oxtornisches Gegenüber zu verblüffen.
»Talina natürlich, du blinder und tauber Terraner!« Das Gesicht einer jungen Frau erschien. Ihr Schädel und Gesicht waren haarlos bis auf die Augenbrauen, die, wenn sie sprach, auf- und abhüpften, als führten sie ein eigenes Leben. Zwei wache, große Augen funkelten den Botschafter an. Angriffslustig. Neckisch. »Wenn alle Terraner so sind wie du, wundert es mich, dass euer Volk nicht längst ausgestorben ist!«
»Wir tun unser Bestes, aber es scheint so, dass wir nicht einmal dazu fähig sind.«
Die Oxtornerin und der Terraner lachten. Talinas Bemerkung und Lifkoms Retourkutsche waren längst zum Ritual erstarrt. Dennoch konnte Talina ihren Scherz nicht lassen. Er lag für sie zu sehr auf der Hand, als dass es anders hätte sein können. Der Scherz war Ausdruck ehrlicher, nicht enden wollender Verblüffung: Es wollte den Oxtornern einfach nicht in den Kopf, dass so schwächliche Wesen wie die Terraner in der Lage waren, sich zu behaupten.
»Ich bin hier, um dich aus deinem Bau zu locken, Kleiner!«
»Eine charmante Idee, Große. Aber ich fürchte, ich habe noch zu tun. Die Residenz erwartet meinen Monatsbericht ...«
»Vergiss die Residenz, Kleiner! Die Residenz ist weit, ich aber sitze dir im Nacken ...«
Lifkom rief die Ortsdaten der Anruferin auf. Talina stand vor dem Vierfachschirm seiner Dienstvilla und hüpfte ungeduldig wie ein Kind auf und ab.
»Ich kann nicht einfach alles liegen und stehen lassen«, seufzte der Konsul. Die Wahrheit war, dass er sich seit Tagen mit dem Bericht quälte und nichts mehr willkommen hieß als eine Unterbrechung. Selbst, wenn das bedeutete, die Sicherheit seiner Villa zu verlassen. Aber sein Sträuben gehörte ebenso zu ihrem privaten Spiel wie ihre Spitzen. Beides zusammen machte erst den Reiz aus. »Um was geht es?«
»Das wirst du schon sehen, mein Männchen!«
Oxtorner waren seltsam schwerhörig, wenn Worte wie »nein«, »das geht nicht« oder »unmöglich« fielen. Talina war in dieser Hinsicht noch schlimmer: Sie war stocktaub. Sie würde nicht nachgeben, bis er nachgab.
»In Ordnung«, sagte Lifkom. »Gib mir fünf Minuten.«
Sie gingen zu Fuß.
Talina rannte, in dem Tempo, das unter Oxtornern als Trab durchging: mit 100 Kilometern die Stunde. Lifkom glitt neben ihr über den Boden, getragen vom Flugaggregat seines Anzugs. Er überließ der Anzugpositronik die Steuerung; anders hätte er es niemals vermocht, den Haken zu folgen, die die Oxtornerin schlug. Das Gelände war felsig, ließ keinen geraden Weg zu. Eine Straße gab es natürlich nicht. Es gab nirgends mehr auf Oxtorne Straßen, bestenfalls Trampelpfade, die an den wenigen Orten entstanden, die von vielen Einheimischen frequentiert wurden. Oxtorner verachteten Straßen. Straßen waren für Schwächlinge. Und ein Schwächling war das Letzte, was ein Oxtorner sein wollte.
»Schau nicht so unglücklich drein, Kleiner«, japste Talina. »Es ist ein wunderbarer Tag. Und du wirst es nicht bereuen, vertrau mir.« Ihr Tonfall war mühelos, spielerisch, als würde sie nicht wie eine Verrückte über eine Geröllebene rennen. Ihr Brustkorb, der der oxtornischen Physiognomie entsprechend gut das doppelte von Lifkoms maß, hob und senkte sich kaum wahrnehmbar.
»Wohin gehen wir?«
»Dahin.« Die Oxtornerin zeigte auf die schneebedeckten Gipfel, die die Ebene im Süden abschlossen.
Natürlich, die Berge. Die Oxtorner waren im Grunde Einzelgänger, die ihre eigenen Wege gingen. Wege, die sich dort überkreuzten, wo Extreme lockten: im Hochgebirge, an den Polen, in den Tropen, den Wüsten und auf und in den Meeren. Lifkoms Dienstvilla, in der schützenden Senke einer Ebene errichtet, lief den Idealen der Oxtorner so sehr zuwider, dass es ihnen beinahe schon wieder so etwas wie Respekt einflößte. Hier ging jemand seinen eigenen Weg, ganz gleich, was andere dachten. Die Oxtorner mochten solche Leute.
»Was ist dort?«, fragte der Terraner.
»Es wird dir gefallen!«, sagte Talina nur und zog das Tempo an.
Eine halbe Stunde später hatten sie das Ende der Ebene erreicht. Talina hatte keine weitere Silbe über ihr Ziel aus sich herausquetschen lassen, hatte Lifkoms Versuche in dieser Hinsicht in einem Redefluss ertränkt, gegen den es keine Abwehr gab. Als die beiden die ersten Hügel erklommen, wusste der Terraner über alles Bescheid, was auf Oxtorne zählte: die neuesten Rekorde, die neuesten, noch verrückteren, noch halsbrecherischen Spiele, auf die Oxtorner verfallen waren, und natürlich das wer mit wem, wer mit wem nicht mehr und wer vielleicht mit wem eventuell. Oxtorner blieben Menschen, trotz aller genetischen Modifikationen.
»He, Modesto!« Talina winkte. Lifkom sah in die Richtung, in die die Oxtornerin gestikulierte. Er erkannte einen dunklen Punkt, der sich in wilden Sprüngen durch das karge Grün der Vorberge arbeitete.
»He, Talina!«, kam die Antwort. Der Punkt machte einen abrupten Schwenk und kam auf sie zu, verwandelte sich in einen Oxtorner. Der Mann war bis auf einen breiten, mit Taschen versehenen Gürtel um die Hüften nackt. Seine braune Haut war makellos, wie die aller Oxtorner. Sein Brustkorb erinnerte Lifkom in seiner Mächtigkeit und muskulösen Härte an einen Baumstamm.
»Auch auf dem Sprung?«, rief er. Die beiden Oxtorner machten keine Anstalten, ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen. Sie hielten nicht viel von umständlichen Begrüßungszeremonien.
»Klar! Wer würde sich das entgehen lassen?«
»Niemand. Und ich als allerletzter!«
Der Oxtorner musterte Lifkom, der, eingehüllt in die künstliche Umwelt seines Anzugs, neben ihnen flog. »Du solltest ab und zu die frische Luft unseres Planeten schnuppern, Terraner«, sagte er. »Sie ist überaus kräftigend. Würde dir gut tun!«
Der Botschafter lebte schon zu lange unter Oxtornern, um sich die Mühe einer Entgegnung zu machen. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte sich Modesto, kaum, dass er den Satz beendet hatte, bereits Talina zugewandt. Angeregt unterhielten sich die beiden über Methoden der Abhärtung. Es war eine lautstarke Diskussion: Modesto sah in Kälte und dem Aufenthalt in großen Höhen den Schlüssel zu gesteigerter Unempfindlichkeit, Talina in extremer Hitze. Die Differenzen waren unüberbrückbar, und während der mit Felsen übersäte Talboden unter ihren unfehlbar sicheren, kraftvollen Schritten dahinschwand, steigerten sich die beiden Oxtorner in einen Streit.
Lifkom, der den weiteren Fortgang ahnte, vergrößerte seinen Abstand zu den beiden. Kurze Zeit später kam es, wie es kommen musste: Talinas und Modestos Streit eskalierte in eine handfeste Auseinandersetzung. Die Oxtorner machten Halt, gingen wie terranische Bullen aufeinander los, verkeilten sich ineinander und rollten unter lauten Verwünschungen über die Felsen. Talina riss Modesto den Gürtel vom Leib und versuchte, ihn damit zu erwürgen. Modesto lachte nur darüber, entrang ihr den Gürtel und zerfetzte ihre Kleidung, von der Lifkom überzeugt war, dass sie sie ohnehin nur deshalb angelegt hatte, um die empfindlichen Sensibilitäten ihres terranischen Begleiters zu schonen.
Die Schreie gingen in ein verbissenes Grunzen über, das Grunzen in Stöhnen, das Stöhnen schließlich in wohlige Stammellaute. Das Ringen der Oxtorner verwandelte sich in einen sexuellen Akt. Lifkom drehte sich taktvoll weg. Den Oxtornern war es zwar gleich, wenn er ihnen zuschaute, nicht aber ihm.
Nach einiger Zeit rief Talina: »Lifkom! Worauf wartest du? Wir sind viel zu spät dran! Wir müssen uns beeilen!«
Der Terraner hörte schwere Schritte. Die Oxtorner rannten bereits weiter, hatten schon beinahe den Pass erreicht. Lifkom holte sie mit Hilfe seines Flugaggregats ein.
»Das solltest du auch einmal probieren. Würde dir gut tun«, beschied ihm Modesto, als Lifkom wieder neben den Oxtornern flog.
Kurze Zeit und einige haarsträubende Aufstiege später erreichten sie ihr Ziel. Auf einem mit Eis bedeckten Hochplateau hatte sich eine für oxtornische Verhältnisse beachtliche Menschenmenge versammelt. Lifkom schätzte ihre Zahl auf über zweihundert. Ein weiter Kreis hatte sich um ein halbes Dutzend kleinerer Gruppen gebildet, die so eng zusammenstanden, dass der Terraner nicht erkennen konnte, was bei ihnen vorging.
»Gerade noch rechtzeitig!«, stieß Talina hervor, als wäre die Welt untergegangen, hätten sie sich noch weiter verspätet.
»Du sagst es!«, entgegnete Modesto. »Sie warten auf mich!« Ohne weiteren Gruß schloss sich der Oxtorner einer der Gruppen im Innern des Kreises an. Hoch erhobene Hände und erleichterte Ausrufe begrüßten ihn.
»Komm!« Talina zog Lifkom mit sich. Das Flugaggregat seines Anzugs heulte kurz auf, sah dann aber die Vergeblichkeit seiner Mühen ein und gab die Gegenwehr gegen die Naturgewalt auf. Die Oxtornerin reihte sich in den Kreis der Wartenden ein. Der eine oder andere prüfende Blick streifte den Terraner, dann wandte sich wieder alle Aufmerksamkeit den Gruppen im Kreis zu.
Die Versammelten beugten sich über primitive Apparaturen. Lifkom sah Gestänge, schreiend bunte Flächen aus Leinwand sowie Gurte und Seile.
»Was geht hier vor?«, fragte er.
»Was wohl, Dummerchen? Ein Spiel, ein Rennen.«
»Natürlich. Ich hätte es gleich wissen sollen. Aber was für ein Rennen?«
Talina, die den Blick nicht von der Kreismitte abgewandt hatte, sprang aufgeregt hoch. »Sieh nur! Es geht los!«
Die einzelnen Gruppen hoben ihre Apparaturen an, schritten mit ihnen prahlerisch auf und ab und beschimpften, einer geheiligten oxtornischen Sitte folgend, ihre Konkurrenten.
»Tichklan, was willst du mit diesem Okrill-Frühstück? Mit diesem Klotz hebst du niemals ab!«
»Modesto, du siehst ja völlig abgewrackt aus! Wieder zu viel mit den Weibern rumgemacht, was?«
»Nimm dir einen Regenschutz mit, Grango. Ich werde auf dich runterpissen!«
Als sich die Gemüter zur allgemeinen Zufriedenheit erhitzt hatten, erfolgte der Start. Die Mannschaften hielten ihre Apparaturen in den Wind, und bald darauf flatterten acht Drachen über den Köpfen der Menge – die Schnüre von zweien hatten sich, absichtlich oder durch einen Zufall, beim Start verheddert, und die Fluggeräte waren unter allgemeinem Gelächter abgestürzt. Die Oxtorner brachten wenig Mitgefühl für Verlierer auf.
Dann geschah eine Weile nichts. Die Drachen zogen ihre Kreise. Die Mannschaften verzichteten darauf, einander in die Quere zu kommen, und die Zuschauer nutzten die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Mahlzeit.
»Ist das etwa alles?«, wandte er sich an Talina. »Dafür schleppst du mich in die Berge? Für ein Drachensteigen?«
Sie sah ihn mit ihren großen Augen an und schüttelte den Kopf. »Dummerchen, wirst schon sehen, gleich geht es mächtig los.«
»Was du nicht sagst.«
Lifkom hätte es ihr nie eingestanden, aber er genoss die Geplänkel mit Talina. Wenn er mit ihr unterwegs war, konnte er aus seiner steifen Diplomatenhaut heraus, und ihm schien, als verstärke sich mit jedem Wortwechsel das Band zwischen ihnen.
Eine Bö erfasste ihn, hätte ihn davongetragen, wäre nicht der Anzug gewesen. Der Terraner rief die Umgebungsdaten ab. 23 Grad unter null, Luftfeuchtigkeit 14 Prozent, Luftdruck – selbst in dieser Höhe – noch knapp das Sechsfache des irdischen, Windgeschwindigkeit laue 70 Kilometer pro Stunde, keine Wolke am Himmel. Die rote Scheibe der Sonne Illema, um die Oxtorne sich drehte, stand hoch am Himmel. Hätte Lifkom ihr seine ungeschützte Haut ausgesetzt, sie wäre innerhalb von Minuten verbrannt. Den nackten Oxtornern dagegen machte sie nichts aus. Nicht weiter überraschend, wusste man, dass ihre Haut sogar dem Beschuss aus schwachen Strahlern standhielt.
Alles in allem ein perfekter Tag für ein Picknick. Laue Temperaturen, ein laues Lüftchen und Sonne satt, dazu ein grandioser Blick auf die Elftausender der Martianen-Kette, die im Süden des Plateaus aufragten.
Nur: Oxtornern war die Vorstellung eines Picknicks ein Gräuel. Organisierte Untätigkeit? Wer sich so etwas hingab, war so gut wie tot.
Aber was trieb die Oxtorner dann auf das Plateau?
Wie als Antwort schrillte ein Pfiff. Sofort kam Bewegung in die Mannschaften. Sie gaben den Drachen Leine, die Apparaturen schraubten sich höher in den blauen Himmel. Anfeuernde Rufe ertönten – und dann kam der Donner.
Es war ein Schlag, der Lifkom trotz seines Anzugs um ein Haar von den Beinen gerissen hätte. Mit klingelnden Ohren drehte er sich um, nach Norden, die Richtung, in der die Ebene lag. Er blickte auf eine Gewitterfront. Wie eine Wand schob sie sich auf das Plateau zu. Eine rasende Wand.
Regen stürzte auf die Versammelten. Eine kompakte Masse, die ihren Winkel veränderte und rasch aus der Horizontalen über sie fegte, zu einer Flutwelle wurde. Nur der Anzug bewahrte den Terraner davor, weggeweht zu werden. Er sah auf das Display: Windgeschwindigkeit 354 Kilometer pro Stunde. Temperatur plus acht Grad.
»Jaaaaa!!!!«
Talina schrie. Die Zuschauer schrien. Die Mannschaften schrien. Und, zu Lifkoms eigener Verwunderung, er selbst. Der Diplomat, dessen Credo die Zurückhaltung war, schrie sich die Kehle aus dem Leib.
Die Drachen hatten sich in Schemen verwandelt, die abgehackten Tänzen nachgingen, hin- und hergestoßen vom Gewittersturm. Lifkoms Blick suchte und fand Modesto. Der Oxtorner gehörte der Mannschaft an, die am nächsten zu dem Terraner stand. Modesto, nach wie vor nackt, hatte beide Hände in die Führungsleinen verkrallt. Der Drachen zog an ihm mit brachialer Gewalt. Nur das Gewicht der übrigen Mannschaft, die sich in einem kompakten Knäuel um seine Beine klammerte, bewahrte ihn davor, fortgerissen zu werden.
»Los!«
Der Schrei kam von allen Seiten, vielkehlig, ohne dass Lifkom ausmachen konnte, wer das Signal gegeben hatte. Die Oxtorner spürten einfach, wann es Zeit war. In diesen Dingen hatte er bei ihnen noch nie nur die geringste Unsicherheit festgestellt. Es musste ein Instinkt sein, der in seiner Unscheinbarkeit meist unbemerkt blieb.
Die Mannschaften lösten ihren Klammergriff, sprangen zur Seite. Lifkom wurde an eine Blüte erinnert, die sich der Sonne öffnete, nur, dass der Vorgang um ein Vielfaches beschleunigt ablief. Die Flieger schnellten in den Sturm, und innerhalb von Sekunden hatten die dunklen Wolken sie verschluckt.
Ein Blitz zuckte herab, erhellte für einen Augenblick die Umrisse von Drachen und Fliegern in scharfen Konturen.
»Das ist doch Wahnsinn!«, brüllte Lifkom. Ihm wurde die Sache langsam unheimlich, trotz des Anzugs, der ihn schützte. Die Böen erreichten jetzt Spitzen von nahezu 500 Stundenkilometern. »Sie ...« Ein Donnerschlag schnitt ihm das Wort ab.
»Wieso?«, antwortete Talina. »Mach dir keine Sorgen um die Blitze. Sie geben eine großartige Kulisse ab, können ihnen aber nichts anhaben.«
»Das meine ich nicht! Die Flieger, sie haben keine Gurte, keine Haltevorrichtung. Sie klammern sich mit bloßen Händen an die Seile!«
Talina sah ihn erstaunt an. »Natürlich, Dummerchen. Alles andere würde das Rennen verderben. Das ist kein Training.«
»Was, wenn jemand in der dünnen Luft das Bewusstsein verliert? Ihr habt doch sicher Rettungssysteme? Antigravgeräte?«
»Du hörst mir nicht zu. Das ist ein echtes Rennen. Die Wettkämpfer haben lange für diesen Tag trainiert. Was du vorschlägst, würde sie beleidigen!«
Ein geisterhaft wirkendes Holo legte sich über den Startplatz. Es zeigte die einzelnen Flieger. Sie wirkten so konzentriert, als befänden sie sich in ungestörter Abgeschiedenheit. Regen floss in Strömen an ihren Körpern herunter, Hagel prallte an ihnen ab, während sie versuchten, den bockenden Drachen ihren Willen aufzuzwingen. Robotkameras mussten die Flieger begleiten. Und wer Robotkameras besaß, für den wäre es auch ein Leichtes gewesen, andere Roboter auszusenden. Solche, die in Not geratene und stürzende Flieger retteten. Doch davon wollten die Oxtorner nichts wissen.
»Wo ist das Ziel?«, fragte der Terraner.
»Jenseits der Berge.«
»Aber das ist unmöglich! Sie sind über zehntausend Meter hoch.«
»Unmöglich. Das ist das Lieblingswort von euch Terranern, was?« Talina schüttelte tadelnd den Kopf. »Unmöglich gibt es nicht. Es gibt nur Dinge, die noch nie versucht worden sind. Noch nicht oder noch nicht richtig. Das ist alles. Die Flieger sind nicht dumm. Sie haben die Meteorologie dieses Gebiets lange untersucht. Über dem Gewitter befindet sich eine ruhige, fast windstille Zone. Sie müssen es nur durchstoßen, oben etwas schneller nach Luft schnappen und auf der anderen Seite landen.«
»Nur! Und wenn sie es nicht schaffen, knallen sie gegen die Berge wie Vögel gegen eine Scheibe!«
Talina grinste ihn an. »Und wenn schon. Dann sehen wir, wer stärker ist. Oxtorner oder Fels. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe zu tun ...« Sie wandte sich ab und feuerte Modesto brüllend an.
Die Zuschauer verfolgten das Rennen auf dem Holo. Vom Sturm, der weiter an Stärke zulegte, nahmen sie keine Notiz. Das Gebrüll der Oxtorner übertönte ihn spielend. Sie beschimpften die Flieger, die am Boden zurückgebliebenen Mannschaften und einander. Lifkom war bereits auf der Suche nach einem sicheren Rückzugsplatz, für den Fall, dass die Oxtorner ihre überschüssigen Energien in einer Massenschlägerei verausgabten, als das Gebrüll abbrach.
Der Terraner wandte sich verwirrt um. Was war los? War einer der Drachenlenker abgestürzt? Er sah zu dem Holo, zählte die Flieger durch. Alle acht hingen noch an den Seilen. Hingen. Sie hatten aufgehört, gegen den Sturm anzukämpfen, ließen sich einfach treiben. Lifkom erhaschte einen Blick auf Modestos Gesicht. Der Oxtorner hatte die Augen geschlossen, horchte in sich hinein.
Eine Regelverletzung? Der Terraner hatte einmal, bei einem Tauchwettbewerb, miterlebt, was dann geschah. Einer der Taucher hatte heimlich einen Sauerstoffvorrat entlang der Strecke platziert und war aufgeflogen. Die Oxtorner hatten das Rennen auf der Stelle abgebrochen. Die Empörung war so groß gewesen, dass Lifkom gefürchtet hatte, Zuschauer und Sportler würden den Betrüger buchstäblich in der Luft zerreißen.
Aber hier? Die Oxtorner gaben keinen Laut von sich. Sie wirkten ernst. Betroffen, wie er sie noch nie gesehen hatte.
»Talina?«
»Pst!«
Das Rennen war vorüber. Die Flieger öffneten die Augen, zogen mit grimmiger Entschlossenheit an den Seilen ihrer Drachen, dirigierten sie aus dem Gewittersturm. Zuschauer und Mannschaften sammelten ihren Abfall zusammen, tilgten die Spuren ihrer Anwesenheit – Oxtorner unterließen das nie, es war eine Höflichkeit gegenüber dem Mitmenschen, der zumindest das Gefühl haben sollte, als Erster den Fuß an einen bestimmten Ort zu setzen. Dann rannten sie los. Wie Irre die steilen Hänge herunter. Nach einigen wenigen Augenblicken verloren die Rennenden den Boden unter den Füßen und hüpften wie Gummibälle dem Tal entgegen.
Nur Lifkom und Talina blieben zurück.
»Talina, was geht hier vor?«
»Mein kleiner Mensch, ich glaube, es wird Zeit, dass du Kontakt mit Terra aufnimmst.«
»Wieso das? Mein Bericht ...«
Am Horizont schossen glühende Speere in den Himmel. Raumschiffe, die mit Vollschub starteten. Einige Augenblicke später schnitt das Donnern ihrer Triebwerke, das selbst den Gewittersturm übertönte, Lifkom das Wort ab.
Die oxtornische Heimatflotte flog in den Einsatz.