Читать книгу Perry Rhodan: Pan-Thau-Ra (Sammelband) - Andreas Brandhorst - Страница 39
ОглавлениеKapitel 34
Später, als sich die erste Unruhe gelegt hatte, erhielt das Geschehen einen Namen: das Große Sterben.
Saleng-Merv und Belor-Thon waren nur zwei von vielen Millionen Zweidenkern, die an diesem Tag ihr Leben ließen. Kaum ein Trupp war von der Gegenoffensive der Flachaugen verschont geblieben. Die Bewohner des Sporenschiffs mussten lange auf diesen Tag hingearbeitet, ihre Kräfte konzentriert haben, während die Loower hochmütig, im Glauben an einen bereits errungenen Sieg, immer tiefer in die PAN-THAU-RA vorgedrungen waren.
Aber wie hatten sie es angestellt? Wie hatten die Flachaugen Millionen von Loowern dazu bringen können, gegen ihre eigenen Artgenossen vorzugehen? Es schien unmöglich, aber dennoch war es geschehen.
»Sie haben uns belogen!«, behauptete Jevek-Kart. Der Söldner hatte als Erster so etwas wie Fassung zurückgewonnen. »Das Oberkommando! Der Neundenker persönlich!«
Negan-Parr reagierte nicht auf die Anmaßung des Söldners. Es war ein Gradmesser seiner Erschütterung.
»Der Krieg verläuft nicht so reibungslos, wie man uns über das Helk-Netz immer weismachen will! Man erzählt uns Lügen!«
Der Trupp – die fünf Loower, die noch geblieben waren – hatte sich in ein provisorisches Lager zurückgezogen, gesichert von allen verfügbaren Helk-Modulen. Das Oberkommando hatte keinen Befehl gegeben, den Vormarsch einzustellen, aber keiner der Soldaten dachte daran, ihn fortzusetzen.
Lef-Krar raffte sich zu einer Entgegnung auf. An-Keyt sah dem Navigator an, dass es ihm nicht anders erging als ihr. Am liebsten hätte er die Flughäute über sich ausgebreitet, sich zusammengekauert und geschlafen, in der Hoffnung, aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.
»Und woher willst du das wissen?«
»Die Erfahrung sagt es mir. Das ist nicht mein erster Krieg. Im Krieg sagt niemand die Wahrheit.«
»Wenn das stimmt, brauche ich dir nicht zuzuhören. Du kannst überhaupt nicht die Wahrheit sagen. Du hast es eben selbst gesagt.« Lef-Krar schüttelte sich. »Aber egal. Lass uns deine Wahrheit hören.«
»Du löst dich aus deinem Schock. Gut, wenigstens einer.« Der Söldner überprüfte die neuesten Ortungsdaten des Helks. »Wir gewinnen diesen Krieg nicht, das ist meine Wahrheit. Es liegt nicht daran, dass wir uns nicht genug Mühe geben. Auch nicht daran, dass die Kosmokraten eingegriffen hätten. Nein, das haben sie gar nicht nötig. Es ist viel einfacher: Wir sind zu wenige.«
»Das sehe ich«, entgegnete der Vordenker gereizt und ließ die Stielaugen über den zusammengeschmolzenen Trupp kreisen. Sie blieben an Mirton-Kehn hängen. Der Logistiker war in einen komaähnlichen Schlaf gefallen, erschöpft von seiner rasenden Trauer um Belor-Thon. An-Keyt beneidete ihn um den Schlaf.
»Ja, jetzt ist es offensichtlich. Aber es ist von Anfang an so gewesen. Erobern ist einfach. Doch das Eroberte zu halten, das ist die eigentliche Aufgabe. Denk an all die Sektoren, die wir als gesäubert zurückgelassen haben. Wer weiß, was dort wirklich vor sich geht? Gut möglich, dass wir längst umzingelt sind!«
An-Keyt stockte der Atem. War es Einbildung, oder fixierte der Söldner sie mit seinen Stielaugen?
»Dafür gibt es keinen Beleg«, wandte Lef-Krar ein. »Wenn es so wäre, wie du behauptest, wären wir jetzt tot. Die Flachaugen hätten uns alle umgebracht.«
»Richtig, das denke ich auch. Und wir leben noch. Immerhin. Das ist nicht zu verachten.« Der Söldner lachte freudlos. Es klang natürlich, als hätte er schon oft so gelacht. »Was ich sagen will: Nichts ist unmöglich. Erinnert euch doch! Die Meldungen aus dem Helk-Netz sind zu gut, um wahr zu sein. Vormarsch nach Plan, Vormarsch dem Plan voraus, Siege, Siege, Siege! Verluste: keine, bis auf den einen oder anderen unglücklichen Unfall. Klingt das glaubhaft? Denkt an den Hinterhalt. Der Feind ist nicht so wehrlos, wie man uns erzählt hat.«
»Worauf willst du hinaus?«, drängte der Vordenker. Es gefiel ihm nicht, dass Jevek-Kart den Ton angab.
»Dass es im Krieg Verluste gibt. Immer. Du kannst gewinnen, so viel du willst, der eine oder andere arme Kerl muss dran glauben. Oder schlimmer noch: Er gerät in die Gewalt der anderen Seite. Dann ist alles möglich.«
»Willst du damit sagen, dass ...?« Der Vordenker ruckte hoch.
»Ich sage nur, wie es die Flachaugen gemacht haben müssen. Sie haben Gefangene gemacht. Es muss so sein. Alles andere wäre widersinnig. Und wer weiß, was sie mit ihnen angestellt haben? Es gibt Methoden, denen kein Lebewesen standhalten kann ...«
»Aber wir sind Zweidenker! Keine gewöhnlichen Lebewesen!«
»Das sagst du, Vordenker. Du glaubst, unser Tiefenbewusstsein macht uns unerreichbar für Folter. Ein schöner Glaube. Du ...«
Lef-Krar ging dazwischen, bevor der Vordenker und der Söldner körperlich aneinander gerieten. »Möglich, dass du Recht hast, Jevek-Kart«, sagte er versöhnlich. »Möglich, dass der Vordenker Recht hat. Ich weiß es nicht. Doch selbst, wenn die Flachaugen Gefangene gemacht haben – Millionen von ihnen? Und alle wenden sich in perfektem Timing gegen ihr eigenes Volk? Das scheint mir völlig unwahrscheinlich.«
»Mag sein. Aber es ist geschehen. Ich glaube nicht, dass einer von euch eine bessere Erklärung hat.«
Schweigen. Dann sagte An-Keyt, einer Eingebung folgend, die tief aus ihrem Inneren kam: »Doch, ich.«
Es war, als hätte sie eine Granate in den Raum geworfen. Alle Stielaugen flogen herum.
»Du, Soldatin?«, brachte der Vordenker schließlich hervor.
An-Keyt ging nicht darauf ein. Im Stillen verfluchte sie sich dafür, dass sie ihre Sprachblase nicht beherrschen konnte. Aufmerksamkeit konnte sie absolut nicht gebrauchen. Eben noch war sie die einfache, verschüchterte Soldatin gewesen, von der niemand Notiz nahm. Und nun ... es war zu spät. Es gab kein Zurück.
»Die Quanten«, sagte sie. »Die On- und Noon-Quanten, die Lebenssporen.«
»Was ist damit?«
»Sie werden in großen Mengen auf der PAN-THAU-RA gelagert. Sie sind ein Grund, weshalb wir hier sind. Die Quanten sind der Grundstock von Leben und Intelligenz.«
Der Vordenker winkte abfällig ab. »Was sollen die Allgemeinplätze, Soldatin? Du verschwendest unsere Zeit. Du ...«
»Sie war noch nicht fertig«, ging Lef-Krar in einem Ton dazwischen, der keinen Widerspruch duldete. Der Vordenker wollte protestieren, überlegte es sich aber anders, als der riesige Navigator einen Schritt auf ihn zu machte. »Sprich weiter, An-Keyt«, forderte Lef-Krar sie auf.
»Die ... die Flachaugen. Sie kennen sich bestimmt mit den Quanten aus. Sie müssen es einfach. Sie leben seit über einem Jahrtausend hier, seit die PAN-THAU-RA zwischen den Dimensionen versteckt wurde. Mindestens. Und außerdem wurden sie selbst aus On- und Noon-Quanten erzeugt.«
»Das sind wir möglicherweise auch«, warf der Söldner ein und brach damit beiläufig ein Tabu: Die Loower bildeten sich viel darauf ein, dass ihr Volk auf natürliche Weise entstanden war. So weit reichte ihresgleichen zurück, dass sie einst, vor unendlich langer Zeit, den Kosmokraten geholfen hatten, Leben und Intelligenz im Universum zu verbreiten. Der Schluss daraus war klar: Die Loower nahmen für sich in Anspruch, über den später entstandenen Völkern zu stehen. »Aber trotzdem wissen wir nicht mit den Quanten umzugehen. Herkunft ist keine Erklärung.«
»Du erzählst Unsinn, Soldatin.« Der Vordenker hatte sich wieder gefangen. »Nehmen wir an, die Flachaugen beherrschten die Quanten. Wie sollen sie es dann bewerkstelligt haben, Millionen von Kunstwesen zu erschaffen, die wie Loower aussehen, wie Loower auftreten und wie Loower sprechen – aber dem Willen der Flachaugen folgen und in den Tod marschieren?«
»Und dazu ausgewachsene Wesen!«, rief Jevek-Kart. »Erschaffen, während unsere Offensive die Flachaugen vor sich hergetrieben hat. Ich gebe zu, meine Hypothese, dass es sich um Gefangene gehandelt hat, ist nicht leicht zu schlucken. Aber Züchtungen? Völlig unmöglich. Dazu fehlen den Flachaugen die Mittel!«
An-Keyt sah sich einer unwahrscheinlichen Allianz zwischen dem Vordenker und dem Söldner gegenüber. »Die Flachaugen können Dinge anstellen, von denen wir nicht einmal zu träumen wagen!«, versetzte sie wütend auf die selbstgefälligen Männer, auf sich selbst.
»Klar, träum weiter.« Der Söldner und der Vordenker lachten.
Den Einwurf des Navigators hörten sie nicht. »Aber es ist doch geschehen!«, sagte Lef-Krar und sah dabei An-Keyt direkt in die Augen. Der Loowerin kam es vor wie ein Versprechen.
In der Nacht weckte sie ein scharrendes Geräusch. Halb erstarrt vor Angst, halb elektrisiert von dem Gedanken, Lef-Krar könnte zu ihr kommen, hob An-Keyt vorsichtig ein Auge. Vielleicht war er es. Vielleicht kam der Navigator zu ihr, und sie konnte sich endlich alles von der Seele reden, die quälenden Zweifel loswerden. Wenigstens die Tentakel und Flughäute um ihn schlingen und in einer Paarung einige Augenblicke des Vergessens heraufbeschwören.
Tatsächlich, es war Lef-Krar. Der riesige Navigator ringelte sich wie eine Schlange über den Boden. Vorbei an den immer noch im Tiefschlaf liegenden Mirton-Kehn, an dem Vordenker – und an An-Keyt.
Zielstrebig kroch er auf den Söldner zu. Seine Stielaugen kreisten prüfend – An-Keyt fuhr ihres so weit ein, wie es möglich war, ohne die Sicht zu verlieren, und hoffte auf den Schutz der Dunkelheit –, dann streckte er einen Tentakel nach Jevek-Kart aus.
Der Tentakel erreichte sein Ziel nicht. Übergangslos umklammerte ein Greiflappen des Söldners das Glied, der zweite hielt die Klinge seines Messers an Lef-Krars Sprachblase. Die Bewegung war so schnell, dass An-Keyt sie nicht wahrnahm, nur ihr Ergebnis.
»Was willst du von mir, Lef-Krar?« Die Stimme des Söldners war kalt, geschäftsmäßig.
Der Navigator schluckte hörbar. »Mit dir reden.« Dann, als der Söldner keine Anstalten machte, seinen Griff zu lockern: »Dazu besteht kein Anlass.«
»Das entscheide ich. Rede! Was soll dieses Anschleichen?«
»Es ist wegen vorhin.« Der Navigator bemühte sich um Gleichmut, trotz des Messers, das auf die empfindlichste Stelle seiner Anatomie zeigte. Hinter der Sprachblase verliefen Schlagader und Rückenmark. Der Söldner musste das Messer nur nach vorn bewegen, und Lef-Krar wäre verloren gewesen, selbst wenn An-Keyt ihm auf der Stelle zur Hilfe geeilt wäre und ihn versorgt hätte. »Was du darüber gesagt hast, dass das Oberkommando uns belügt.«
»Und? Willst du mir jetzt ans Leder dafür, dass ich unseren großen Neundenker beleidigt habe?«
»Nein. Ich will nur wissen, ob dir das, was du gesagt hast, ernst ist.«
Es dauerte einen Augenblick, bis die Antwort des Söldners kam. Die Bemerkung Lef-Krars hatte ihn verblüfft. »Bin ich dir als ein Mann aufgefallen, der die Gewohnheit hat, Dinge nur so dahinzusagen?«
»Nein.«
»Also ...«
»Also denkst du wirklich, dass wir belogen werden?«
»Natürlich. Hast du jemals etwas anderes geglaubt?« Der Söldner schnaubte abfällig. »Ich hätte dich nicht für so naiv gehalten.«
Lef-Krar überging die Beleidigung. Was blieb ihm schon, mit der Klinge an der Sprachblase? »Was willst du unternehmen, Jevek-Kart?«, fragte er.
»Was soll ich schon unternehmen? Dasselbe wie immer.«
»Und das ist?«
»Weitermarschieren. Weitermachen. Weiterleben.«
»Das ... ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Nichts ist mir so ernst wie das. Ich will leben.«
Ein Beben ging durch Lef-Krars Körper. »Aber wir müssen etwas unternehmen! Sie belügen uns! Wir töten, und sie belügen uns!«
»Das nennt man Krieg, Soldat.«
»Aber das ist kein gewöhnlicher Krieg! Wir kämpfen für das Leben, für unser eigenes, für das unseres Volkes, für das Leben insgesamt!«
»Was du nicht sagst ...«
»Wir können so nicht weitermachen! Wir ...«
Der Navigator stöhnte, als der Söldner seinen Greiflappen zusammenpresste.
»Wir müssen gar nichts. Verstanden? Was sollen wir denn tun? Zum Oberkommando spazieren? ›Hallo, wir wollen den Neundenker sprechen, wir glauben nicht mehr an den Krieg.‹ Unsere Waffen davonwerfen und uns den Flachaugen ergeben? Sie werden ihren Spaß mit uns haben. Einen langen und überaus exquisiten, nach dem, was wir ihnen angetan haben!«
»Aber wir ...«
»Genug. Es gibt kein wir. Nur ein ich. Eines, viele. Und ich für meinen Teil will leben. Kapiert?« Der Söldner schüttelte den riesigen Navigator, als wäre er ein Kind. »Leben, kapiert?« Er stieß Lef-Krar von sich. »Und jetzt lass mich in Ruhe, sonst mache ich deinen Sorgen ein Ende. Ein für alle Mal.« Er hob drohend das Messer.
Lef-Krar wandte sich ab und kroch zurück an seinen Schlafplatz. Er zitterte. An-Keyt konnte nicht sagen, ob aus Wut oder Enttäuschung.