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10 – Pater Pascal

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Auch in dieser Nacht erwachte Kim schweißgebadet.

Wieder hatten Hände nach ihr gegriffen. Hände, die aus Karten heraus, nach ihr langten. Karten, die denen ihres Tarots gleichsahen.

Kim schlich leise aus dem Bett, ging ins Badezimmer, unter die Dusche. Dass das Wasser zu so später Stunde nur noch kalt aus der Brause kam, störte sie nicht weiter. Sie wollte ohnehin richtig wachwerden, einen klaren Kopf bekommen, um über das Geträumte vernünftig nachdenken zu können.

Was wollte ihr dieser Traum sagen? Und wollte er ihr überhaupt etwas sagen, oder war es einfach nur ein Traum gewesen? Doch warum dann die Tarotkarten? Was hatten sie in ihrem Traum zu suchen, und weshalb tauchten sie in diesem auf?

Kim trocknete sich ab, warf das gelbe Frotteehandtuch über die Stange der Duschkabine.

Sie schlüpfte in ihre schwarze Jeans und zog ein grünes

T-Shirt über.

Kim griff nach ihrer Handtasche, nahm den Zimmerschlüssel vom Tisch und verließ leise das Zimmer.

Auf Zehenspitzen lief sie an Madame Zinks Zimmer vorbei. Sie konnte Nickels unterdrücktes Knurren, der ihre Schritte auf dem Flur wahrgenommen hatte, hören.

Ohne ein Wort, verließ sie das Le Petite. Lief hinunter zur Seine, an deren Ufer sie sich setzen und nachdenken wollte.

Die Nacht war lau, der Himmel sternenbehangen. Wie still und friedlich es doch ist, dachte Kim, und kam sich bereits jetzt schon lächerlich vor, diesen Traum dermaßen ernstgenommen zu haben. Es war nichts weiter als ein Alptraum. Möglicherweise schlief sie nicht gut in den alten ausgelegenen Matratzen. Zumal sie sowieso sehr gerne daheim in ihrem eigenen Bett schlief.

Kim setzte sich ans Ufer der Seine. Sie folgte mit den Augen dem sanften Spiel der Strömung. In der Stille der Nacht dröhnte das Klicken ihres Feuerzeugs ohrenbetäubend, kam es ihr vor. Sie entzündete sich eine Zigarette. Den Rauchstreifen nachblickend, dachte sie nach.

Die Tarotkarten, die sie in dem kleinen Laden geschenkt bekommen hatte, hatten sie etwas zu bedeuten? Für sie? In ihrem Leben? Weshalb hatte sie auf sie aufmerksam werden müssen?

Kim warf den Kopf in den Nacken: »Närrin, du machst dich selbst verrückt! Die Karten sind einfach nur Tarotkarten, die sehr alt sind. Mehr aber auch nicht. Und, dass sie in deinem Traum aufgetaucht sind, das ist nichts als Zufall. Also, geh wieder zurück ins Le Petite und leg dich ins Bett. Morgen steht dir ein langer Tag bevor. Madame Zink hat bereits einen Besuch im Louvre eingeplant«, sagte Kim zu sich, während sie den Kippen ihrer Zigarette austrat und in ihren kleinen Handtaschenaschenbecher legte.

Zwei Schwäne schwammen auf der Seine, als Kim aufstand, um zur Pension zurückzugehen.

Eigenartig, dass die beiden nicht schlafen, wunderte sie sich.

Als sie den Weg zum Le Petite einschlagen wollte, ertönten die Glocken St. Claires.

Kim blieb stehen und lauschte. Ohne es zu bemerken, änderte sie ihre Richtung. Von den Glocken angezogen, folgte sie deren hallenden Schlägen. Solange, bis sie vor der Kathedrale St. Claire stand.

Kim sah hoch zum Glockenturm. Versuchte die Glocken zu erkennen, deren Klang wieder verstummt war.

Sie umlief die Kathedrale, blickte zur großen Tür der Kirche. Kim drehte sich um, wollte zurückgehen, als die Tür geöffnet wurde und ein Mann, bekleidet mit einem schwarzen Priesterrock, heraustrat. Er sah ihr direkt in die Augen. Lächelnd kam er ihr entgegen. »Zu so später Stunde noch unterwegs? Wollten Sie zu mir? Zu St. Claire? Ach, verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin übrigens Père Pascal.«

»Père?«

»Entschuldigung, ich habe nicht gewusst, dass Sie eine Touristin sind. Pater, ich bin Pater Pascal«, stellte er sich nochmals vor.

»Hallo, ich bin Kim König. Wir, meine Freunde und ich, sind seit gestern hier in Paris.«

»Schön. Wo wohnen Sie?«

»Im Le Petite«, antwortete sie.

Der Pater pfiff leise durch die Zähne. »Im Le Petite? Dann ist es kein Zufall, dass Ihr Weg Sie hierher zu St. Claire geführt hat.«

»Wie bitte? Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Kim überrascht. Sie überlegte. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, den Weg zur Kathedrale eingeschlagen zu haben. Sie wusste, dass sie auf dem Weg zurück war. Zurück ins Le Petite. Doch dann hatte sie Glocken läuten hören. Sie musste ihrem Klang gefolgt sein, ohne es selbst bemerkt zu haben. Eine andere Erklärung hatte Kim nicht.

»Was ich damit sagen will, ist nicht mit einem Satz beantwortet. Ich weiß, dass es bereits sehr spät ist, aber, wenn Sie vielleicht hereinkommen möchten …« Er zeigte auf das geöffnete Portal St. Claires.

Kim zögerte. Auf der einen Seite war sie sehr neugierig, doch auf der anderen wusste sie auch, dass Quentin, würde er erwachen und sie nicht vorfinden, sich große Sorgen um sie machen würde. Kim schüttelte den Kopf. »Danke, Pater, aber ich kann Ihre Einladung nicht annehmen. Leider. Ich muss zurück, bevor sich die anderen womöglich um mich sorgen.«

»Niemand weiß, dass Sie hier sind?«

»Nein, weshalb auch«, lachte Kim.

»Sie sollten nicht alleine durch Frankreich gehen. Nicht Sie.«

»Was deuten Sie damit an, Pater? Droht mir etwa Gefahr, von irgendwoher?« Sie biss sich auf die Unterlippe. Gräulichs Vorahnung, und jetzt auch noch die Andeutung des Priesters. Was soll das nur alles?, fühlte sie erneut Furcht aufkommen, und fröstelte.

»Es könnte gefährlich für Sie werden. Sehen Sie zu, dass immer jemand weiß, wo Sie sind, dass Sie jederzeit gesucht und gefunden werden können«

Sie schluckte. Ein dicker Kloß setzte sich in ihrem Hals fest. »Wie bitte? Ich verstehe nicht.«

Er sah, wie die Angst in ihren Augen zu wachsen begann, und sie tat ihm leid. Noch derartig jung, und dennoch bereits in tödlicher Gefahr schwebend. Einer Gefahr, der, wenn alles dumm lief, die Frau noch nicht einmal würde entkommen können. Er senkte die Stimme: »Nein, wie ich schon sagte: Was ich Ihnen zu sagen habe, das lässt sich nicht zwischen Tür und Angel bereden. Es war mit Sicherheit kein Zufall, dass Ihre Füße Sie hierher, hierher zu St. Claire, geführt haben. Sie werden wiederkommen, Kim König, dessen bin ich mir sicher.«

Kims Augen weiteten sich; und neuerlich erkannte er ihre Angst darin. »Und Sie, Pater Pascal, werden Sie dann auch hier sein? Da sein, um meine Fragen zu beantworten? Um mir meine Angst zu nehmen?«, fragte sie, und musste sich zwingen, nicht ins Stottern zu kommen.

»Kim König, ich werde immer da sein, wenn Sie mich brauchen sollten. Doch nun sollten Sie gehen, bevor Ihre Freunde noch die Gendarmerie verständigen, aus lauter Sorge um Sie.«

»Ja, das sollte ich tun. Gute Nacht, Pater.« Sie reichte ihm die Hand, während sie einen Knicks vor ihm machte, und er ihre Hand ebenfalls ergriff.

Für einen Bruchteil fühlte sie die Wärme, die von dem Priester ausging, und irgendwie beruhigte es sie, auch wenn sie nicht zu sagen gewusst hätte, weshalb.

»Sie sollten sich ein wenig mit der Geschichte des Le Petites vertraut machen. Möglicherweise könnte es für Sie einmal von Nutzen sein.«

»Von Nutzen? Inwiefern?«

»Weil Sie nicht grundlos in Frankreich sind. Sie sind kein Tourist wie die anderen Touristen. Sie sind aus einem ganz anderen Grund hier in Paris, in Frankreich, auch wenn Sie es selbst vielleicht noch gar nicht wissen. Und jetzt müssen Sie gehen, denn der Morgen graut schon bald.« Sein Blick lag nachdenklich auf ihr. Seine Augen betrachteten sie aufmerksam. »Auch, dass Sie im Le Petite abgestiegen sind, kann kein Zufall sein!«

»Pater, ich …, wir …«, setzte sie an, doch er unterbrach sie.

»Nein, Kim König. Gehen Sie zurück in die Pension. Heute Nacht wird Ihnen nichts passieren. Sie haben in dieser Nacht den Schutz St. Claires, der Sie begleiten wird.« Er zeichnete mit seinem rechten Daumen die Form des Kreuzes auf ihre Stirn. Andächtig sagte er das Vater Unser auf. Danach entließ er sie auf ihren Heimweg.

Kim lief, ohne sich noch einmal nach der Kathedrale St. Claire oder nach Pater Pascal umzusehen, zurück ins Le Petite.

Auf leisen Sohlen schlich sie die Treppe hoch. Behutsam öffnete sie ihre Zimmertür.

Quentin lag immer noch da, wie sie ihn vor zwei Stunden verlassen hatte. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass sie weggewesen war.

Nur Nickel war weder ihr Gehen, noch ihr Kommen entgangen. Zum Zeichen dafür hatte er beide Male verhalten geknurrt.

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