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11 – Morgenschmerz

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Gräulich zog eine alte Taschenuhr aus seiner Jacke. Er drückte den kleinen goldenen Knopf und der Deckel der alten Uhr sprang auf. Nachdenklich sah er auf das Ziffernblatt. »Wo sie nur bleibt? Es ist gar nicht ihre Art unpünktlich zu sein.«

»Wer?« Kim verschwendete in diesem Augenblick keinen Gedanken an Zink. Sie wurde durch die Uhr abgelenkt, die sie anerkennend bestaunte. »Ein sehr schönes Teil.. Ein Erbstück?«

»Erbstück?«, wusste er nicht gleich, was sie eigentlich meinte. »Ach, die Uhr«, begriff er, und betrachtete sie. »Nein, die habe ich gestern gekauft, als ich auf der Suche nach einem geeigneten Bilderrahmen für Madames Portrait war.« Erneut sah er auf die Uhr. »Ich verstehe es nicht …, es ist so gar nicht ihre Art.«

»Wie bitte?« Jetzt war es an Kim, die nicht gleich wusste, wovon der Professor es hatte. Ihre Locken sprangen auf ihre Stirn, während sich ihr Blick fragend auf Gräulich richtete.

»Madame«, sagte er nur. »Ich verstehe nicht, wo sie so lange bleibt.«

»Sie wird verschlafen haben, Gräulich«, beruhigte Quentin ihn, der sich nichts weiter dabei dachte, dass Zink nicht pünktlich war.

»Hier, in Frankreich? Obwohl sie sich so sehr auf den Besuch des Louvre gefreut hat … Nein, verschlafen, das glaube ich nicht.« In seiner Miene lag die Sorge um Zink. »Nein, ganz bestimmt nicht. Sie wollte sich doch auch auf die Suche nach einem echten Schmidt machen.«

»Ein echter Schmidt? Was soll das sein? Ein Künstler, dessen Werke auch im Louvre hängen?« Kim hatte noch nie etwas von ihm gehört, noch, dass sie dessen Werke kannte.

Gräulich lächelte, als er an Madames Begeisterung für diesen Maler dachte. »Ja, ein Maler. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass Schmidts Werke im Louvre aushängen. Meiner Meinung nach ist er dazu noch zu unbekannt, außerdem noch viel zu jung. Ungefähr Mitte sechzig. Zudem lebt er auch noch. Und meine ganz persönliche Meinung dazu ist, dass er bisher nur ein Hobbymaler aus Deutschland ist. Einer Stadt.« Er dachte nach. »Ich glaube Mannheim. Ja, er kommt aus der Universitätsstatt Mannheim, soweit ich weiß.« Wieder suchte sein Blick das Ziffernblatt seiner Taschenuhr.. »Sie müsste doch schon da sein, schon längst.«

»Professor, sie wird mit Nickel seine Morgenrunde laufen«, vermutete Kim, während Madame Le Blanc das Speisezimmer des Le Petites betrat. Sie stellte eine große Kanne frisch überbrühten Kaffees auf den Tisch. Das Frühstücksbuffet hatte sie bereits an einem langen Tisch, gleich rechts neben der Tür, angerichtet. Lächelnd sah sie die anderen an, während Sorbonne schwanzwedelnd auf Kim zurannte.

»Guten Morgen, ich hoffe Sie haben alle gut geschlafen.« Madame Le Blanc sah sich um. »Wie mir scheint, hat unsere Pariser Luft, einige von Ihnen schläfrig gemacht.« Ihr war sofort aufgefallen, dass sowohl Zink, als auch die Li Nola noch nicht mit am Tisch saßen. »Schade, eigentlich. Meine Sorbonne hätte sich ganz bestimmt gefreut, ein bisschen mit Madame Zinks Hund zu spielen.« Sie pfiff nach Sorbonne. Sofort sprang der Dalmatiner auf sie zu. »Komm, Sorbonne, gehen wir nach draußen, wer weiß, vielleicht begegnen wir dort deinem kleinen Cocker-Freund.« Bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal um. »Heute sollten Sie nicht ohne Regenschirm aus dem Haus gehen. Der Wetterbericht hat für den ganzen Tag Regenschauer angekündigt.« Sie blickte aus dem Fenster. »Dieser Sommer ist sehr verregnet. Bisher hat es fast den ganzen Juli geregnet, und es macht den Anschein, dass auch der August nicht besser werden wird. Entweder es regnet, oder es ist so heiß, dass man sich schon gar nicht mehr bewegen mag. Aber was soll man machen?« Das Wetter gefiel ihr nicht. »Das Wetter konnte es den Menschen wahrscheinlich noch nie recht machen. Und nun sollten Sie zugreifen, solange die Eier und Croissants noch warm sind.« Zusammen mit Sorbonne verließ sie den Speiseraum.

»Ich mache mir ernsthaft Sorgen um Madame. Auch, dass Evelyn noch nicht da ist.«

»Wer weiß, vielleicht sprechen sich die beiden auch gerade aus. Vergessen Sie nicht, gestern Abend sind die beiden nicht gerade im besten Einvernehmen auseinander gegangen«, erinnerte Kim an den Disput, den die beiden am Vorabend gehabt hatten.

Noch bevor Professor Gräulich antworten konnte, kam Madame Zink durch die Tür. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, mit Ausnahme einer kurzen rosafarbenen Zopfmusterstrickjacke. An ihrem linken Handgelenk trug sie eine breite Armbanduhr. Meine Bahnhofsuhr, wie sie sie immer nannte, da sie in ihrer Größe, verglichen mit ihrem Handgelenk, im Gegensatz dazu, an eine solche erinnerte. Am rechten Handgelenk trug sie einen breiten silberfarbenen Armreif mit schwarzen Glitzersteinen.

Sie setzte sich an den Tisch, befahl Nickel darunter Platz, und bereits im nächsten Augenblick lag der Hund unter dem Tisch. Sie zog sich den Aschenbecher heran. »Wie gut, dass Madame Le Blanc selbst raucht, und wir hier die einzigen Gäste sind, so dass ich freudig diesem Laster frönen kann«, stellte Zink fest, während das Klicken ihres Feuerzeugs verriet, dass sie sich soeben ihre Zigarette anzündete. Gleich danach nahm sie sich eine Schale und füllte ihren Kaffee mit Milch hinein.

»Ist Ihnen kalt, Madame Zink?« Kim saß da, nur mit einem dünnen T-Shirt und einer leichten Baumwollhose bekleidet.

»Kalt, Kim? Ach, Sie meinen wegen der Weste.« Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen. »Mich fröstelt schon den ganzen Morgen. Wenn mir zu warm wird, kann ich sie auch gleich wieder ausziehen.«

Gräulich betrachtete sie. Besorgt fragte er sie: »Was ist passiert, Madame? Sie sehen heute Morgen gar nicht gut aus, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«

»Fragen Sie nicht, Gräulich. Fragen Sie nicht«, wehrte sie mit abweisender Handbewegung ab, und blickte von ihrer Kaffeeschale zu ihm auf. Gleich danach stellte sie die Schale auf den Tisch, und strich sich erschöpft mit beiden Händen übers Gesicht. Dabei öffnete sie den Mund, und bewegte ihren Kiefer hin und her.

»Haben Sie schlecht geschlafen? Ist nicht immer einfach, in einem fremden Bett zu schlafen.«

»Nichts dergleichen, Gräulich. Im Gegenteil, ich habe geschlafen wie Phil.« Als sie die unverstehenden Augen der anderen sah, lachte sie. »Na ja, ich habe geschlafen wie Phil. Immer noch nicht verstanden? Eben wie Phil, das Murmeltier aus Und täglich grüßt das Murmeltier. Mein absoluter Lieblingsfilm«, erwähnte sie zum Verständnis der anderen. »Das hieß doch Phil. Und es gibt doch auch die Redewendung, geschlafen wie ein Murmeltier. Also, ich habe geschlafen wie ein Murmeltier, eben wie Phil.« Neuerlich lachte sie, als hätte sie selbst einen guten Witz gemacht, wobei sie eigentlich gar kein Freund von Witzen war, zumindest nicht von den gewöhnlichen. Wenn, dann schon eher von den ausgefalleneren. »Wie gesagt, ich habe geschlafen, und wie ich geschlafen habe. Fest, tief und traumlos. Aber, als ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich mich gefühlt, als wäre ich durchgeknetet worden. Mein Gesicht fühlt sich an, als wäre es durch ein Mühlrad gedreht oder von einer Dampfwalze geplättet worden.«

Der Professor schaute sie erschrocken an. Dabei vermied er es dennoch, ihrem Blick zu begegnen. Er dachte an sein Erlebnis der letzten Nacht, als sich das Bildnis Madames vor seinen Augen verändert hatte. Besorgt sah er Madame an. Ob ihr Unwohlsein an diesem Morgen damit womöglich zusammenhing? Doch wie konnte das sein? Was für einen Zusammenhang konnte es hierbei geben? Da er Zink nicht beunruhigen wollte, behielt er das nächtliche Erlebnis für sich. Sollte sich das Portrait noch einmal verändern, dann wäre immer noch Zeit, ihr davon zu berichten. Wozu sollte er sie jetzt, möglicherweise völlig grundlos, beunruhigen. Womöglich hatten ihm heute Nacht auch seine Augen einen Streich gespielt, und er hatte sich die Veränderungen des Portraits auch nur eingebildet. Wogegen allerdings der Umstand von Madames morgendlichem Befinden sprach.

Gräulich nahm sich vor, später und alleine, noch einmal dorthin zu gehen, wo gestern der Straßenmaler Zink gezeichnet hatte. Vielleicht war ja er in der Lage, ihn schlauer zu machen.

Möglicherweise war es gar kein Zufall, dass der junge Mann sich von ihnen allen, ausgerechnet Zink zum Portraitieren ausgesucht hatte.

Madame wandte sich an Quentin. »Wo ist eigentlich Evelyn? Sagen Sie nicht, dass die alte Dame immer noch beleidigt ist.«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Madame. Ich habe sie heute Morgen noch nicht gesehen. Und auch nichts von ihrem Lavendelduft wahrgenommen. Keine Ahnung, was sie die ganze Nacht gemacht hat. Ich hoffe nicht, dass sie bereits schon wieder dabei ist, uns noch zusätzliche Gesellschaft zu besorgen.« Er dachte daran, wie seine Großtante auf Shadowisland Syra von Burgen nach einem ihrer Alleingänge mitgebracht hatte.

Sie verfielen in Schweigen. Sich Zeit nehmend, tranken sie ihren Kaffee und aßen ihre Croissants.

Danach brachen sie auf, denn den Besuch des Louvre wollte sich Zink, trotz ihres Unwohlseins, nicht entgehen lassen, zumal ihr Morgenschmerz, im Laufe des Frühstücks, so nach und nach nachgelassen hatte.

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