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9 Begegnung mit einem Hippie
ОглавлениеLeo war der erste Hippie, den ich traf. Ein Pflastermaler. Der fremdartigste, hübscheste Junge, den ich je gesehen hatte. Hellbraune lange Locken, von einem bunten Indianerband aus der Stirn gehalten, eine braune Wildlederweste mit Fransen auf der nackten, gebräunten Brust. Er hielt ein Buch in der Hand, aus dem er Da Vincis Abendmahl abmalte. Ich stand da, glotzte ihn an und bin heute noch froh, dass er nicht einmal den Kopf hob. Es wäre mir im Nachhinein noch peinlich. Er schien derart in seine Malerei vertieft zu sein, dass er die schäbigen Kommentare der umstehenden Erwachsenen nicht mitbekam. »Die gehören allesamt ins Arbeitslager«, »Bei Adolf hätte es solche wie die nicht gegeben«, »Ab ins KZ mit den faulen Schweinen«. »Dreckiger Gammler« war noch das Netteste, das sie über ihn sagten. Ich schäme mich, dass ich damals Reißaus vor diesen Giftspritzen nahm. Heute würde mir das nicht mehr passieren.
Mir spukte der langhaarige Bursche die ganze Nacht im Kopf herum. Am nächsten Tag kratzte ich all meinen Mut zusammen. Ich lief zum Paradeplatz, atmete auf, als ich ihn sah, und sprach ihn an. Bald hockten wir nebeneinander auf dem Pflaster, in ein ernsthaftes Gespräch über Kunst und Künstler vertieft. Es dauerte nur Minuten, bis ich ebenfalls zur Zielscheibe der Gehässigkeiten wurde. Die braven Bürgersleute schimpften mich »eine eklige kleine Hure, die es mit dreckigen Gammlern treibt«. Leo ignorierte sie. Er führte mich einfach weg von dieser hasserfüllten Meute. Wir spazierten Hand in Hand zum Rhein hinunter und setzten uns am Ufer ins Gras.
Leo erzählte mir von dem Leben, das die Hippies führten. Er war schon über ein Jahr on the road, teils allein, teils mit Gleichgesinnten, die er unterwegs aufgabelte. Er erklärte mir, was für ihn und seine Freunde „Freiheit“ bedeutete. Sie brachen aus einer Gesellschaft aus, in der sie
sich nicht heimisch fühlten. Sie nächtigten unter freiem Himmel, bettelten bisweilen um Geld oder Essen, wenn Malerei und Gitarrespiel nicht genug einbrachten. Niemand mochte sie. Keiner interessierte sich für die Gründe, die sie bewegten, eine solche Lebensweise zu wählen. Leo trampte nach Spanien, wo er die nächsten Monate bleiben wollte. Das Wort kannte ich nicht. Er „verdeutschte“ es mir. „Tramper“ nannte man Leute, die Autos anhielten und die Fahrer baten, sie ein Stück mitzunehmen. Das machte man so lange, bis man sein Ziel erreicht hatte. Ich staunte. So einfach war das. Daumen hoch und weg. Frei wie ein Vogel.
Ich fragte ihn, ob ich mitkommen könne. Er lehnte ab. Ich sei zu jung. Wenn sie uns erwischten, schickten sie mich nach Hause, zurück zu meiner Mutter, und er landete im Knast. Ich hielt ihm zugute, dass er zumindest eine Sekunde darüber nachgedacht hatte. Es dunkelte bereits, als er mich zur Straßenbahn brachte. Unterwegs küsste er mich. Wozu, wenn er mich doch nicht mitnehmen wollte?
In der Nacht wälzte ich mich schlaflos von einer Seite auf die andere. Ich hatte mich zum ersten Mal ernsthaft verliebt. Darum würde ich mit Leo nach Spanien trampen, komme, was da wolle. Und: Ich erkannte endgültig, dass Freiheit das bedeutendste Gut darstellte, das es zu erringen galt. Traurigerweise durchkreuzte Leo meine Pläne. Er war weg, als ich am nächsten Tag zum Paradeplatz kam. Unter dem fertigen Bild hatte er mir eine Nachricht hinterlassen: „Für Anna, in Liebe. Lass dich nicht unterkriegen Kleines.“
Weltuntergang. Ich heulte Rotz und Wasser. Zu jener Zeit konnte ich nicht vorausahnen, dass ich Leo noch zwei Mal in meinem Leben begegnen würde. Das erste Mal bemühte ich mich, die Welt zu retten. Das zweite Mal? Nun ja, wie viele Chancen bekommt man, um sich für etwas oder jemanden zu entscheiden?