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17 Studenten-WG
ОглавлениеMein erstes Silvester in Berlin fiel zeitgleich mit meinem Einzug in die WG zusammen. Peter, Jacko, Carsten, Katrin, Jens und Marlu kannte ich bereits. Der Siebte im Bunde hieß Winnie. Ein riesenhafter Kerl, tapsig wie ein Teddybär, von uns allen finanziell am Schlechtesten gestellt. Winnie suchte ständig nach Essbarem. Bei der Statur kein Wunder. Wir fütterten ihn mit durch, nicht zuletzt, weil er für Probleme jederzeit ein offenes Ohr hatte. Speziell für uns Mädchen öffnete er auch die Arme, wenn wir eine Schulter zum Ausheulen brauchten. Winnie war die Hilfsbereitschaft und Herzensgüte in Person.
Ich bekam schon am ersten Tag mit, dass die Gruppe politisch aktiv war. Da Peter sich für mich verbürgte, stand es mir frei, mich an ihren Sitzungen zu beteiligen, die in der Gemeinschaftsküche stattfanden. Sie ließen mich zwar nicht auf die Bibel schwören, aber sie trichterten mir ein, dass ich Stillschweigen zu bewahren hatte, über alles, was da gesprochen wurde. Sonst gab es keine Hausordnung mit Männerbesuchsverbot, keine großartigen Verhaltensregeln. An der Wand hing ein Wochenplan mit der Einteilung wer was wann wo zu putzen hatte, und einem Vermerk, dass der wöchentliche Haushaltsbeitrag pünktlich montags im Sparschwein zu entrichten war.
Als WG-Nesthäkchen, das zurzeit sein Abi nachholte und hinterher in Berlin studieren wollte, förderten sie mich, wo immer sie konnten. Katrin und Jacko, die Naturwissenschaften studierten, gaben mir Nachhilfe in Mathe, Physik und Chemie. Die anderen, alle Geisteswissenschaftler, lachten nur, wenn ich unaufgefordert in ihre Zimmer stürmte, um mich mit frischem Lesestoff zu versorgen. Ich war von Kindesbeinen an eine Leseratte. Bei ihnen fand ich philosophische, psychologische, politische und geschichtliche Werke. Bücher, die ich noch nicht kannte. Dabei plünderte ich hauptsächlich Marlus Bücherschrank, der von allen am besten bestückt war. Ich las planlos. Woolf, de Beauvoir, Proust, Grass, Kafka, Walser, Joyce, Flaubert, Adorno, Camus, Zweig, Jung, Dostojewski, Nabokov, Bloch, Tolstoi, Hesse, Beckett, Bukowski, Horkheimer, Hegel, Freud. Viele andere, alle durcheinander, wie man unschwer erkennen kann. Ursprünglich kam ich nach Berlin, weil ich dachte, dort steppt der Bär und ich steppe mit. Die Freiheit, die ich suchte, fand ich in der WG. Entweder bei endlosen politischen Diskussionen oder auf dem Bett liegend, platsch auf dem Bauch, ein Buch vor der Nase. Anders als geplant lernte und las ich, nicht nur für mein Abi.
Was mich zu jener Zeit wenig bis nicht interessierte, betraf die Frauenbewegung. Ich wurde von meinen Großmüttern zur „freien Frau“ erzogen. Die Emanzipation lieferte mir keinen einzigen Grund, mich damit zu beschäftigen. Das kam erst viel später. Vorerst sah ich für mich nirgendwo Einschränkungen. Das Frauenwahlrecht bestand seit 1918. Über meinen Körper bestimmte ich selbst, ich nahm die Pille. Mit Ehe hatte ich nichts am Hut. Ich musste niemanden um Erlaubnis fragen, wenn ich eine Arbeit annehmen wollte. Wenn mir irgendetwas nicht passte, war ich daran gewöhnt, das klar und deutlich in Worte zu fassen. Die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz gehörte für mich zur Arbeiterbewegung. Im Übrigen dachte ich eher über eine Emanzipation der Menschen nach und nicht über die der Geschlechter. Zu meinen Überlegungen zählte unter anderem die Abschaffung von Kirche und Religion. Ich pflegte anarchistisches Gedankengut, ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein.
Es regte mich nie auf, wenn die Jungs mich baten, ihnen ein Hemd zu waschen, einen Knopf anzunähen oder etwas für sie zu tippen. Wozu auch? Ich dealte mit ihnen: ich tue was für dich, du tust was für mich, und alle Beteiligten sind zufrieden. Sexuelle Gegenleistungen standen außer Debatte. Du kommst mit jeder Art von Anmache in Berührung, wenn du jung und hübsch bist und hauptsächlich unter Männern arbeitest. Du lernst aber auch, wie du sie dir vom Hals hältst. Notfalls brachte ich den Uneinsichtigen bei, dass man in Nullkommanichts zum Eunuchen mutieren kann. Bei den WG-Jungs waren solch drastische Maßnahmen unnötig.
Zur Feministin taugte ich nicht. Ich fand es albern einen Mann vor den Kopf zu stoßen, der mir die Tür aufhalten, in den Mantel helfen oder einen Kaffee spendieren wollte. Für geradezu kindisch hielt ich das Ansinnen, den BH in der Schublade zu lassen oder gar zu verbrennen. Erstens musste man die Dinger für teures Geld kaufen. Zweitens empfand ich es noch nie als besonders erotisch, wenn die Brustwarzen die Knie küssen. Drittens war ich dankbar, dass ich mich nicht mehr mit Miedern oder Schnürkorsetts herumplagen musste, wie zuvor meine Großmütter. Alice Schwarzer täuscht sich, wenn sie sagt, dass die BH-Verbrennungen von den Medien erfunden wurden und nie stattgefunden haben. Ich halte ihr zugute, dass sie nicht an allen Orten gleichzeitig sein konnte. Vielleicht war sie aber auch nur zu Besuch ihrer Alien-Familie auf einem anderen Planeten.
Den ersten wesentlichen Deal, den ich mit den „WG-Brüdern“ abschloss, hing mit dem Vietnamkongress zusammen. Ich wollte mit. Im Gegenzug bot ich zweimal Badputzen an und Freikarten von Moni für eine Brechtaufführung. Ich fand den Handel gerecht, zumal sie mir versprachen, dass sie mich zusätzlich mit Dutschke bekanntmachen würden. Was ein bisschen dauern konnte, da er „extrem beschäftigt“ sei. „Dutschke“ interessierte mich. Dauernd sprachen sie von ihm: Der Rudi hat dies gesagt oder der Rudi hat das gemacht. Das Wundertier, „diesen bedeutenden Studentenführer“ wollte ich live erleben.
An meinem ersten WG-Abend hörte ich von dem Vorfall in der Gedächtniskirche an Heiligabend. Eine Studentengruppe störte den Gottesdienst mit Parolen und dem Plakat eines vietnamesischen Folteropfers. Für mich eine überflüssige Aktion. War ihnen nicht klar, dass die edlen Christenmenschen sich nur für den vor zweitausend Jahren gekreuzigten Anführer ihrer Sekte interessierten? In dessen Namen sie entsetzliche Verbrechen verübten, in all den Kriegen, die auf ihr Konto gingen. Die Hexenverbrennungen, die Endlösung für das Weltjudentum, die Versklavung und Ausrottung von Völkern und Kulturen. Da hoffte eine intelligente Jugend, dass ein vietnamesisches Folteropfer Christen von den Kirchenbänken reißen könne? Eine drastische Fehleinschätzung.
Auf jeden Fall weilte auch Dutschke unter den Kirchgängern. Er lief bei dem Versuch auf die Versammelten einzuwirken direkt in die schlagbereite Krücke eines wahrhaft gläubigen Greises. Nach dem heillosen Geschiss, das sie um jenen Rudi machten: Was ist passiert, ist er schwer verletzt, wie gehts ihm?, war ich ordentlich gespannt auf den Knaben. Obwohl ich nicht an solch herausragende Lichtgestalten glaubte, seien sie nun himmlischer oder irdischer Natur.