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10 Hippie-Freunde

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Leo und die Freiheit ließen mich nicht los, wenngleich die Enttäuschung allmählich verebbte. Nachdem ich erfolgreich die überholten Erziehungsmethoden meiner Mutter unterlaufen hatte, verfügte ich über wesentlich mehr freie Zeit. Ich verbrachte sie immer öfter am Rhein, wo sich auf den Wiesen des Stadtparks eine Hippiekolonie angesiedelt hatte. Die Leute hießen mich in ihrer Mitte willkommen, ohne Fragen zu stellen. Äußerlich unterschied ich mich nicht nennenswert von ihnen, bis auf den Umstand, dass meine Klamotten und ich bürgerlich rein geschrubbt waren.

Sie kamen aus verschiedenen Städten und Ländern. Im Unterschied zu denen, die sie beschimpften, waren sie friedlich, herzlich, intelligent und kreativ. Ich bewunderte, dass sie, um nach ihrer eigenen Philosophie leben zu können, sogar Entbehrungen und Anfeindungen in Kauf nahmen. Die häuslebauende, konsumgierige, „Bildzeitung“-verschlingende Elterngeneration lehnten sie ab. Das „arbeitsscheue Gesindel, das ins KZ gehörte“ hatte mehr Grips im kleinen Finger als manch angepasster Zeitgenosse im Kopf.

Ich fühlte mich in ihrer Gemeinschaft zuhause. Besonders, wenn sie abends ihre Gitarren und Mundharmonikas hervorholten, anfingen zu spielen und zu singen. Während die Sonne hinter den Baumwipfeln unterging, hallten die Lieder von Donovan, Pete Seeger, Joan Baez, Bob Dylan und Barry McGuirre durch den friedlichen Park. Sie versuchten dem Leben einen Sinn abzutrotzen, den die Erwachsenen komplett aus den Augen verloren hatten: Liebe, Freiheit und Frieden.

Sie bekämpften auf ihre Weise einen anormalen Kapitalismus und die Entmenschlichung einer macht- und besitzgierigen Gesellschaft. Wir diskutierten an solchen Abenden über den Vietnamkrieg. Über die jungen Amerikaner, die von skrupellosen Politikern in einen Krieg gezwungen wurden, der sie nichts anging. In dem man sie tötete oder zu Krüppeln schoss. Aus dem junge Männer als nervliche und körperliche Wracks in eine Heimat zurückkehrten, in der sie nie wieder Fuß fassen konnten.

Ich stamme aus Ludwigshafen, einer Arbeiterstadt. Wie viele meiner Jugendfreunde gehörte ich den „Falken“ an, einem „roten“ Jugendverein, hervorgegangen aus der Arbeiterbewegung. Obwohl er von Anfang an stark mit der SPD verbandelt war, distanzierten wir uns nach und nach von der Partei. Sie ließ, seinerzeit wie heute, die klassischen sozialdemokratischen Werte mehr und mehr vermissen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir uns den Überzeugungen des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) zuwandten.

Wir waren eine kritische, politisch interessierte und aktive Jugend. Das heißt, wir gaben uns nicht nur so, weil es als „chic“ oder „in“ galt. Viele von uns kamen in der Kriegszeit zur Welt oder gehörten, wie ich, der Nachkriegsgeneration an. Wir waren gezwungen, uns mit der Hinterlassenschaft des Krieges und der Elterngeneration auseinanderzusetzen. Die Notzeit, die in den 50ern bei weitem nicht ausgestanden war, ging auch an uns nicht spurlos vorüber. Der Gedanke, dass man Nazis entnazifizieren konnte, stellte sich als frommer Traum der Amerikaner dar. Überhaupt die Amerikaner, mit ihren Care-Paketen, Rosinenbombern und Wiederaufbauhilfen. Wehe, man wagte es, ein Wort gegen diese Gutmenschen zu sagen. Die sich so rührend um uns bemühten, dass sie durch die Hintertür Deutschland aufkaufen konnten. Die neue Jugendkultur entstammte zwar dem englischsprachigen Raum, doch wir waren nicht blind. Die Deals, die unsere Zukunft mitbestimmten, blieben uns nicht verborgen. Auf jeden Fall denen nicht, die intelligent genug waren, die Sache zu durchblicken. Wie war es möglich, dass die Deutschen, nach allem, was sie erlebt hatten, sich an ein Land verhökern ließen, in dem „sozial“ ein Fremdwort war? In dem Rassendiskriminierung auf der Tagesordnung stand. Das in Vietnam einen menschenverachtenden Krieg führte?

Wir Jungen setzten uns ernsthaft mit politischen Themen auseinander. Der Gefahr eines dritten Weltkrieges, der Stationierung von Atomwaffen, dem Schahbesuch in Berlin, dem Tod des Studenten Ohnesorg, dem Boxer Muhammad Ali, der den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte, den Rassenunruhen in den USA.

Wenn wundert es, dass wir den argentinisch-kubanischen Revolutionär Che Guevara, den Menschenrechtler Dr. Martin Luther King, den vietnamesischen Patrioten Hồ Chi Minh verehrten? Dass wir John F. Kennedy betrauerten und Malcolm X, der lieber auf einen Nachnamen verzichtete, anstatt den eines Sklavenhalters zu behalten? Wir fanden im eigenen Land keine Vorbilder mehr, deshalb suchten wir uns welche außerhalb. An meiner Wand hängt noch ein Plakat von Che. Und wie eh und je trage ich das Peace-Symbol an einer Kette um den Hals. Als Zeichen dafür, dass nicht alle Leute ihre Werte an das Kapital verraten haben.

Natürlich kannten wir sämtliche Protest- und Folksongs auswendig. Pete Seegers „We shall overcome“ passte nicht nur zur Rassentrennung in den USA, sondern, auch zum geteilten Deutschland. Nur, dass ich mittlerweile glaube, dass die Message dieses Songs nicht angekommen ist. Weder in Deutschland noch in den USA. Die Menschen haben nichts dazugelernt. Sie morden, brandschatzen, plündern, vergewaltigen und unterdrücken nach wie vor. Eines Tages wird Mutter Erde nichts anderes übrig bleiben, als sich heftig zu schütteln um den unbelehrbaren, gierigen Parasiten Mensch abzustreifen. Wie ein Hund seine Flöhe.

Zurück zu meinen Hippie-Freuden. Ich lauschte den Gedichten, die sie schrieben, und hörte zu, wenn einer aus Jack Kerouacs „On the Road“ vorlas. Ich diskutierte mit ihnen über Marx und Engels, hörte die Lehre Buddhas und rauchte in ihrem Kreis meinen ersten Joint. Ich nahm sie abwechselnd mit zu den Großmüttern, bei denen sie baden konnten, schmuggelte ihre schmutzige Kleidung unter die Hotelwäsche und brachte ihnen übriggebliebenes Essen aus der Hotelküche mit. Ich bereitete mich mit ihrer Hilfe auf meine Prüfung vor. Wer Lust dazu hatte, lernte mit mir.

Yogi (wie Yogi-Bär aus „Hucky und seine Freunde“), der erste Homosexuelle, mit dem ich Freundschaft schloss, brachte mir das Meditieren und verschiedene Atemtechniken bei. Wir saßen stundenlang bewegungslos am Rheinufer und starrten aufs Wasser hinaus, bis es mir gelang, meinen Kopf von quälenden Gedanken zu befreien. Mit Yogis Hilfe besiegte ich meine Prüfungsangst.

Heute verstehe ich, dass diesen jungen Menschen eine ganz eigene Spiritualität innewohnte, die meine nach und nach reifen ließ. Ich kann nicht begreifen, dass man sie derart anfeindete. Sie waren einen Sommer lang „meine Familie“. Ich liebte sie.

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