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15 Mika

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Mika lernte ich im Oktober 1967 kennen, kurz nach meiner Ankunft in Berlin. Er stand neben einem Maler, der ein Madonnenbild auf das Trottoir kreidelte, und zupfte lustlos auf seiner Gitarre herum. Ein Stück abseits saß eine Gruppe Jugendlicher auf dem Boden, diskutierte, zwar lärmend, aber friedlich, soweit ich mich erinnere. Wieder einmal staunte ich darüber, dass Erwachsene nicht einfach an ihnen vorbeigingen, sondern gleich in Schimpftiraden ausbrachen. „Der Adolf hätte euch alle vergast“. Ich sah einen Opa, der angriffslustig seinen Gehstock schwang. Sofort trat ich den Rückzug an. Das Gezeter des Alten hörte ich noch auf der anderen Straßenseite über den Verkehrslärm hinweg. Von den Langhaarigen vernahm ich keinen Laut. Sie ließen die Attacke stumm über sich ergehen. Mein Berliner Traum von Freiheit zerplatzte von einer auf die andere Sekunde wie eine Seifenblase. Auch hier gab es braune Bretter vor angeblich „entnazifizierten“ Hirnen.

Eine Woche darauf kam ich erneut an der Gedächtniskirche vorüber. Ich entdeckte den kleinen Musikanten, der einsam vor einer leeren Pappschachtel stand und unverdrossen über die Gitarrensaiten schrammte. Zwischendurch spielte er Mundharmonika. Ich hörte ihm eine Weile zu. Als er „Five Hundred Miles“ anstimmte, sang ich spontan mit. Zuerst leise dann, etwas mutiger geworden, laut. Ich kämpfte gegen das Heimweh an, nach meiner Großmutter, nach Claus, nach meinen Freunden, nach allen und allem: „If you miss the train I’m on, you will know, that I’m gone, you can hear the whistle blow a hundred miles. A hundred miles, a hundred miles away from home...“.

Überrascht griff der Junge einen falschen Akkord, fing sich aber schnell wieder. Beim nächsten Song „The night they drove old Dixie down“ lächelte Mika mich an. Unsere Stimmen passten gut zusammen. Ich konnte mich zur Not als Straßensängerin durchschlagen, sollte ich mal Probleme in meinem Job bekommen, ging es mir durch den Kopf. Dank meiner Hippies, bei denen ich die Lieder samt Texten gelernt hatte.

Tatsächlich blieben Passanten bei uns stehen. Sie schimpften nicht, sie spendeten Beifall. Sogar ein paar Groschen für Mikas Schachtel fielen ab. Hing das mit meiner Sangeskunst zusammen oder eher mit meiner sauberen Kleidung und meinem ordentlich gebundenen Pferdeschwanz?

Ich werde nie die alte Dame vergessen, die um eine Zugabe bat. Sie fragte, ob wir „Where have all the flowers gone“ kennen. Kannten wir. Ich sang, Mika spielte, sie spendierte uns dafür eine Mark. „Ich habe dieses Lied immer gemocht“, flüsterte sie mir ins Ohr, „schon als es Marlene Dietrich sang.“ Dabei legte sie verschwörerisch einen Finger auf die Lippen. Ich verstand. „Die Dietrich“ war in Deutschland nicht sehr beliebt. Sie galt als „Vaterlandsverräterin“.

Ich lud den Jungen in die „Dicke Wirtin“ ein, wo wir uns bei Linseneintopf mit Speck und Bier endlich bekannt machten. Mika, war fünfzehn Jahre alt, wohnte vorübergehend in einem Durchgangsheim und wartete auf seinen Bruder Ralf, der ihn längst in Berlin hatte abholen wollen. Die Geschichten dieser Zeit ähnelten sich oft: fünf Kinder, eine Mutter, die die Familie mit Putzarbeiten über die Runden brachte. Ein Vater, traumatisierter Kriegsveteran, der sein bisschen Rente versoff und seine Familie verprügelte. Ich versprach Mika, wieder nach ihm zu schauen. Sollte Ralf inzwischen auftauchen, würde er mir eine Nachricht beim Pfarrer der Neu-Westend-Kirche hinterlassen.

Ich erzählte Moni von Mika. Sie schlug sofort vor, ihn über Weihnachten einzuladen: „Wo es Platz und Essen für zwei gibt, reicht es auch für einen Dritten.“ Das war typisch für sie und erinnerte mich sehr an meine Großmütter, die auch alle und jeden ans Herz drückten.

Mika zierte sich, als wir ihn mit Monis Einladung überraschten, schämte sich, weil er kein Geld für Geschenke hatte. Wer Moni kannte, wusste, dass Widerreden auf taube Ohren stießen. „Ich engagiere dich als Weihnachtsmusiker. Du kannst auch den Christbaum schmücken. Ich zahle mit Kost und Logis. Einverstanden?“

Mit einem Mal begriff Mika, dass er Weihnachten nicht einsam sein würde. Strahlend dankte er Moni mit einem Adventsständchen. Wir sangen mit. Nach Folk- und Protestsongs griffen wir in die Weihnachtsliederkiste, holten die ollen Kamellen hervor, die alle kannten: Morgen Kinder wirds was geben, Lasst uns froh und munter sein, O Tannenbaum. Moni, weit entfernt von mangelndem Selbstbewusstsein, trat vor das Publikum, das sich eingefunden hatte, und trug Eichendorffs Gedicht vor: „Markt und Straßen stehen verlassen, still erleuchtet jedes Haus ...“ Sie verstand es vortrefflich, die vorweihnachtliche Rührseligkeit zu entfachen. Mika ergänzte ihren Vortrag mit sanften Akkorden. Die Leute verweilten bei uns. Viele sangen ergriffen mit. Freigiebig ließen sie Münzen in Mikas Schachtel fallen.

Ich erkannte die zittrige Stimme neben mir, die aus vollem Herzen seufzte: „Ach war das schön Kinder.“ Unsere „alte Dame“ in ihrem braunen, schäbigen Pelzmantel und dem Kapotthütchen auf den weißen Locken, drückte mir ein Fünfmarkstück in die Hand. Ein silbriger Glanz in Mikas Pappkasse, und eine sehr großzügige Gabe zu jener Zeit. Ich überlege immer wieder wie sie hieß. Leider fällt mir nur der Vorname ein: Hermine.

Mika verbrachte die Weihnachtsfeiertage mit uns. Er kam an Heiligabend mit Gitarre, Mundharmonika und Rucksack. Als ich in die WG umzog, „adoptierte“ Moni ihn. Sie behielt ihn einfach bei sich. Ließ nicht zu, dass „der Bub“ alleine auf der Straße blieb, bis Bruder Ralf endlich einzutrudeln geruhte. Sie war ein Freigeist und ihr Herz schlug links. Sie bleibt stets ein Vorbild für mich.

Habe ich schon erzählt, dass Mika ein „Besatzungskind“ war, seine Mutter ein Vergewaltigungsopfer? Mikas Gesichtszüge waren fein, seine Haut sah aus, als hätte er den Sommer am Mittelmeer verbracht. Lediglich das schwarze Kraushaar verriet seine wahre Herkunft, die er nie leugnete. Ein tapferer Junge, in der Familie ungeliebt, in der Schule gehänselt. Einer der sich nie beklagte, der sich über einen Groschen mehr freute, als der heutige Smartphone-Süchtling über einen Hundert-Euro-Schein. Der niemals vergass, wie sehr ihm Moni und die alte Dame geholfen haben. Ich liebte ihn mehr als meine eigenen Geschwister.

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