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18 Vietnamkongress und Demonstration

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Am 17. und 18. Februar 1968 hockte ich zwischen Winnie und Peter auf dem Boden des Auditorium maximum der TU. Einem mit Menschen vollgepfropften Raum, die frenetisch klatschten und »Ho Chi Minh« skandierten. Neben den deutschen Teilnehmern nahmen zahlreiche Delegationen aus dem Ausland an dem Kongress teil. Das zentrale Thema war der Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Darüber hinaus stand der westliche Imperialismus am Pranger. Wenn ich mich heute umsehe: viel geändert hat sich nicht. Großmannsucht, Weltmachtstreben, Krieg, Elend, Armut. Wir hätten es uns genauso gut zu Hause gemütlich machen können.

Die „Revoluzzer“ hatten keine Chance, die träge Masse auf ihre Seite zu ziehen. Geschweige denn, den Kampf gegen Krieg, Machtgier, Besitzgier, Ausbeutung und Unterdrückung zu gewinnen. Trotzdem wünsche ich mir bisweilen, dass unsere Jugend genug Mut und Verstand aufbringt, genau diese Gegenwehr wieder aufzunehmen, um dem unmenschlichen Treiben ein Ende zu bereiten. Nicht die nationalsozialistisch angehauchten Neo-Bräunlinge. Ich meine intelligente junge Menschen. Die, die nicht dem Sumpf der allgemeinen Verdummung, Technikanbetung und Korruption anheimgefallen sind. Die, die nicht glauben, dass Politik nur „für die Alten gemacht wird“.

Ich kann nicht sagen, inwieweit sich die Wunschwelt eines Rudi Dutschke hätte verwirklichen lassen. Ich weiß auch nicht, welche Auswirkungen das auf die Gesellschaft gehabt hätte. Dass Kapitalismus und Neoliberalismus unserem Planeten ein friedliches Miteinander bescheren, wage ich jedoch zu bezweifeln. Eine Welt, in der 65 Personen soviel besitzen wie die Hälfte der Weltbevölkerung zusammen, das heißt 3,75 Milliarden Menschen!, ist weder unterstützenswert noch überlebensfähig. Zumindest das hätte ein Dutschke uns vor Augen geführt, anstatt es schön zu reden. Ich frage mich, was er zu den Grünen sagen würde, die mit der CDU koalieren? Unter Umständen hätte er gefragt, wie man die eigene Entstehungsgeschichte derart verleugnen kann? Man kann. Die SPD lebt es vor.

Ich saß eingekeilt in der Menschenmenge und wartete ungeduldig auf Rudis Rede. Es gelang mir nicht, die Initiatoren des Kongresses auszumachen, bevor sie ans Rednerpult traten. Mir fehlten ein paar Zentimeter Körpergröße. Als ich Dutschke endlich wahrnahm, staunte ich über den Allerweltstypen im Arbeiterkaro. Der berühmt-berüchtigte Studentenführer, der „Politgammler“, der „Staatsfeind Nr. Eins“ entsprach nicht der Vorstellung, die ich mir von ihm gemacht hatte. Ich hatte einen „WOW-Typen“ erwartet und keinen kleinen, grauen Mann.

Der Kumpel von nebenan entpuppte sich dessen ungeachtet als charismatischer Redner trotz seines quengeligen DDR-Slangs. Wie man sich täuschen kann. Mucksmäuschenstill saß ich da, versuchte zu verstehen und zu verdauen, was er aus sich herausquetschte. Er sprach uns mit „Genossen, Antiautoritäre, Menschen“ an. „Menschen“! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Für diese Anrede hätte er einen Nobelpreis verdient. Wer spricht uns normalerweise als „Menschen“ an? Niemand. Als er zum Schluss kam: „Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!“, klatschte und schrie ich mit, bis mir Hände und Hals schmerzten. Ich lieh mir von Peter einen Stift und malte diesen Spruch auf meinen linken Arm, weil ich kein Schreibzeug dabeihatte.

Nach Abschluß des Kongresses, am 18. Februar fand sich ein Demonstrationszug von ca. zwölftausend Teilnehmern zusammen. Ich muss die offizielle Zahl akzeptieren, ich habe sie nicht gezählt. Mir schwebt noch der genaue Text vor Augen, der auf dem Plakat stand, das zur Demo aufrief: „Der Kampf für die vietnamesische Revolution ist Teil des Kampfes für die Befreiung aller Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung.“ Ein herrlich anarchistischer Gedanke. Was sagen die ehemaligen Teilnehmer zu den heutigen Brandherden in Nahost, in Afrika? Ich höre nichts. Oder doch? Stimmt, Cohn-Bendit, hat sich im Fernsehen zur Fußball-EM geäußert. Europa, Flüchtlingskrise, Brexit etc., keine Themen für dich, Dany le Rouge? Zumindest Gretchen Dutschke-Klotz findet auf FB ehrliche Worte zu den Zuständen in der Europäischen Union.

Zurück zur Demo. Die Demonstranten verhielten sich friedlich. Ich lief in ihrer Mitte, stolz wie ein Spanier, meine erste Demo. Peter und Winnie nahmen mich zwischen sich, um besser auf mich aufpassen zu können. Untergehakt, in dichten Reihen, zogen wir zur Deutschen Oper. Dort hatte am 2. Juni 1967 eine Demonstration gegen den Schahbesuch stattgefunden, die den Studenten Benno Ohnesorg das Leben kostete. Erschossen durch den Polizeibeamten Kurras, unter mysteriösen Umständen, die bis heute nicht geklärt sind. Kurras wurde in zwei Prozessen freigesprochen. Unschuldig oder absichtliche Vertuschung eines Mordes? Kurras, ein Stasi-Mann? Verwechselte er Benno gar mit seiner eigentlichen Zielperson?

Wir marschierten unter roten Fahnen, Transparenten und Plakaten von Rosa Luxemburg, Trotzki, Marx, Lenin, Che Guevara, Ho Chi Minh, begleitet von Sprechchören, durch die Straßen. Ich steckte in diesem Pulk einer zu Recht entrüsteten Jugend. Die sich nicht provozieren ließ von der hasserfüllten Masse an den Straßenrändern, die lästerte, ausspuckte, uns beschimpfte. Die uns die Plakate entriss und damit auf uns eindrosch. Ich wurde von Peter und Winnie getrennt, aber sofort von einer anderen Reihe aufgesogen. Die Polizei war präsent, mischte sich zum Glück nicht über Gebühr ein.

Später erfuhren wir, dass Leute mit ihren PKWs absichtlich zwischen die Demonstranten gefahren waren. Einer erwischte Rainer Langhans, der sich sofort wieder in den Zug einreihte. Chapeau Rainer, muss dir doch einiges wehgetan haben.

Mittlerweile fand sich zumindest Winnie wieder bei mir ein. Peter war uns abhandengekommen. An der Deutschen Oper fand eine Schlusskundgebung statt. Was genau sich vorne abspielte, konnte ich wieder einmal nicht erkennen. Die Typen, die vor mir auf und ab hüpften, stahlen mir die Sicht. Erst als ein paar Verwegene unter Gejohle einen Baukran erkletterten, um Plakate und Vietcongflaggen zu montieren, hatte ich freien Blick auf das Geschehen. Auch auf Männer in „Blaumann-Tarnanzügen“, junge Christdemokraten, die den Studenten folgten und die Flaggen anzündeten. Ich erinnere mich an Dutschkes Stimme, die, verstärkt durch ein Megaphon dazu aufrief, sich nicht provozieren zu lassen.

Noch heute kann ich das Gefühl spüren, das mich bei dieser Demo erfüllte. Zorn, Euphorie, Kämpfen für eine gemeinsam Sache, Hoffnung auf das Beenden eines sinnlosen Sterbens auf allen Seiten, verbunden mit unmenschlicher Grausamkeit. Nach einem beschissenen zweiten Weltkrieg, nachdem man es hätte besser wissen müssen. Hoffnung auf eine gerechte Welt? Auf anständige Menschen? Wie naiv wir waren, an das Gute, Veränderungen und Verbesserungen zu glauben und die menschliche Gier außer acht zu lassen.

Der Westberliner Bürgermeister und der Senat holten wenige Tage später zum Gegenschlag aus. Sie riefen die „aufrechten“ Demokraten, die ordentlichen, friedliebenden Bürger zu den Fahnen. Die aufgeputschte Masse, man sprach von 150.000 Leuten, geriet außer Kontrolle. Sie offenbarten ihre Totschlägermentalität, die noch immer unter der Oberfläche schlummerte. Was nach StudentIn aussah, langhaarig oder bärtig, wurde gejagt und verprügelt. Sie schlugen einen Mann halbtot, weil sie dachten, es sei Dutschke, der zu diesem Zeitpunkt in Holland weilte. Ich erfuhr alles nur aus zweiter Hand, weil Jacko klug genug war, mich mit Mathenachhilfe in der WG festzunageln. Carsten und Jens rasierten sich in Folge die Bärte ab. Für Katrin und mich wurde »Zopfpflicht« angeordnet. Marlu trug ihr Haar ohnehin raspelkurz, die betraf das nicht.

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