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4 Morgenmeditation 2016
ОглавлениеDämmerung. Noch blinken vereinzelte Sterne am grauen Himmel. Die Sichel der zunehmenden Mondin verblasst bereits. Vier Frauen begleiten mich heute zur Morgenmeditation. Wir haben das Auto auf dem nahen Parkplatz abgestellt und nehmen den Fußweg, der uns zum Weiher führt. Es ist still. Wir treffen weder auf die Hundebesitzer noch auf die Reiter, die sonst ihre Tiere hier ausführen.
Ein leichter Wind kräuselt das dunkle, stille Gewässer. Er streicht sacht durch die Gräser am Ufer. Die Krone eines umgestürzten Baumstammes ruht im Wasser, das mächtige Wurzelwerk auf dem Pfad. Tief in seinem Inneren leben die Feen. Wir haben ihnen Haferplätzchen und ein Schälchen Milch mitgebracht, die wir am Fuß ihrer Behausung hinterlassen. In dieser Umgebung an Feen und Elfen zu glauben fällt nicht schwer, auf jeden Fall leichter als der Glaube an Engelein und Teufelchen.
Während wir den Weiher umrunden, begrüßen wir die Bäume, Eichen und Birken, alte Freunde. Ein Wispern dringt aus ihren Zweigen. Nur der Wind oder doch ihr freundlicher Willkommensgruß? Wir lassen uns an unserem Stammplatz nieder. Irgendwo stimmt ein Vogel sein verschlafenes Lied an.
Wir richten unsere Augen nach Osten, wo uns die schwache Morgenröte verrät, dass die Ankunft des Sonnenkönigs naht. Als die ersten Strahlen uns erreichen, schließen wir die Augen und begrüßen den neuen Tag. Vor allem freuen wir uns auf die Wärme, denn hier am Wasser unter den Bäumen ist es kühl.
Wir nehmen Helligkeit und Wärme in uns auf, die sich an unserem Scheitelpunkt sammeln. Von dort gleiten sie durch unsere Körper, bis sie durch die Zehenspitzen in die Erde dringen. Wir spenden der Erdmutter die männliche, helle Energie, die für Kreativität und Inspiration steht. Wir leeren unsere Lungen, ziehen mit dem erneuten Einatmen die Kraft der weiblichen, dunklen Energie ein, die uns Sanftheit, Ruhe und Entspannung bringt. Noch ein paar genussvolle Atemzüge, dann öffnen wir unsere Augen wieder. Wir haben einen Bogen zwischen Himmel und Erde gespannt und uns mit ihm verbunden. Jemand, der das noch nie erlebt hat, wird das vielleicht für esoterisches Geschwafel halten. Ich meditiere seit vierzig Jahren, nenne es „Wellness für die Seele“, und meine Mädels stimmen mir zu.
Inzwischen ist es ganz hell auf unserer Lichtung. Das Wäldchen ist zum Leben erwacht. Vögel singen, Hunde bellen, das Hufgetrappel eines Pferdes ist zu hören und über uns turnt ein Eichhörnchen durchs Geäst.
Ich schaue in die Runde und sehe lächelnde, zufriedene Gesichter. Die Frauen recken und strecken sich. Laura packt unser Frühstück aus, eine Thermoskanne mit Kaffee und belegte Brötchen. Den ersten Schluck aus meinem Becher bekommt die Erde, und als wir uns verabschieden, lassen wir einen Apfel zurück, als Dank an Mutter Natur.