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5 Harte Lehrjahre bei Mama
ОглавлениеNach einer unbeschwerten Zeit bei den Großmüttern erinnerte sich meine Mutter daran, dass sie neben den beiden Kindern aus zweiter Ehe, zusätzlich eine Tochter aus erster Ehe hatte. Es hagelte von Seiten der Großmütter lautstarke Proteste, als sie mich zu sich holen wollte. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, gliederte sie mich in ihre Familie ein, mit dem Ziel mich, das „verzogene“ Gör, „auf Kurs zu bringen“. Obendrein winkte da noch die nicht unerhebliche monatliche Unterhaltsleistung meines Vaters. Ein lohnender Anreiz für die „Zwangsintegration“.
Mama nahm die Emanzipation vorweg und „patriarchalisierte“ sich. Das heißt, sie beherrschte mit Jähzorn und Aggression Mann, Kinder, Schüler und Lehrerkollegen. Ich sah mich mit einem Schlag mit Dingen konfrontiert, die ich vorher nur vom Hörensagen kannte: Kindergottesdienst, Prügel, Hausarbeit und Babygeschrei. Kaum Zeit für Hausaufgaben, kein eigener Platz mehr für mich. Und vor allem: Keine Liebe, keine Geborgenheit.
Meine Mutter war ein Produkt ihrer Zeit: Bund deutscher Mädchen und einen Kopf voller brauner Suppe, Schutz und Schulbildung bis zum Abitur in einem katholischen Klosterinternat über die Kriegsjahre hinweg. Eine Mischung aus der nichts Vernünftiges entstehen konnte. Sie verinnerlichte die Erziehungsmethoden von Johanna Harrer, einer Ärztin und glühenden Hitler-Verehrerin, unter denen nicht nur Harrers eigene Kinder litten. Man schurigelte uns nach diesen Methoden bis in die späten 60er Jahre hinein. Wären meine Großmütter dieser Teufelin habhaft geworden, sie hätten sie mit dem Teppichklopfer außer Landes gejagt.
Obwohl ich mit Hausarbeiten und Kinderbetreuung alle Hände voll zu tun hatte, hielt ich in der Schule meinen Notendurchschnitt von 1,5 aufrecht. Der Grund, weshalb ich mich nach Beendigung der vierten Klasse in einem „Lyzeum für höhere Töchter“ wiederfand. Mein biologischer Erzeuger wurde tüchtig zur Kasse gebeten. Zusätzlich zum Unterhalt fielen jetzt die Zahlung des monatlichen Schulgeldes und teurer Schulbücher an. Andere überflüssige Nebensächlichkeiten kamen hinzu. Mama verstand sich in diesem Fall aufs Schröpfen.
Ich war das Opfer der gehässigen Spielchen, die zwischen „Mama und Papa“ abliefen. Da ich mit dem Lebensstil meiner Mitschülerinnen nicht mithalten konnte, wurde ich von Beginn an zur Außenseiterin, trotz „Akademiker-Eltern“. Ich lebte im Haushalt meines Stiefvaters, einem gewöhnlichen Arbeiter. In der bescheidenen Wohnung gab es keinen Platz für ein zweites Kinderzimmer. Ich konnte niemanden zu mir einladen und daher auch keine Einladungen annehmen. Ich bekam kein Taschengeld wie die anderen Mädchen, ging nicht zum Tennis oder Reiten und verfügte auch sonst über keinen Wohlstandsschnickschnack.
LehrerInnen und Mitschülerinnen ließen mich die nächsten sechs Jahre spüren, dass ich „unterprivilegiert“ war. Ungeachtet der Tatsache, dass ich keinen Wert auf das Prädikat „privilegiert“ legte. Die Mädchen verachteten mich, weil ich nichts hatte, um mich „aufzupupsen“. Ich verachtete umgekehrt sie ob ihrer Angeberei und Oberflächlichkeit.
Die Religionslehrerin nannte mich „respektlos und gotteslästerlich“, da ich sie mit intelligenten Fragen zu Bibelinhalten in Verlegenheit brachte. In allen anderen Fächern purzelten meine Noten ebenfalls kellerwärts. Selbst im Deutschunterricht, den ich normalerweise heiß und innig liebte, ließen meine Leistungen nach. Für Oberstudienrätin Dr. Wacker schrieb ich zu „kreative und phantasievolle“ Aufsätze. Des Weiteren weigerte ich mich Gedichte wie „Die Meise“ von Werner Bergengruen auswendig zu lernen, da ich es für langweilige Zeitverschwendung hielt.
Mit fünfzehn bestand ich die Mittlere-Reife-Prüfung. Mit einem, zugegebenermaßen, miserablen Zeugnis. Es war mir egal, da ich nicht die Absicht hatte, je wieder einen Fuß in diese Schule zu setzen. Meine Mutter empfand das als „renitent“ und verprügelte mich, ohne Erfolg, mit Stiefpapas Ledergürtel. Eine Unterredung mit meinem Vater nützte ihr ebenfalls nichts. Vielmehr unterstützte er meinen Drang nach Befreiung von den schulischen Fesseln. Nicht mir, sondern seinem Konto zuliebe. Ich entschloss mich zu einer Ausbildung in der Hotellerie, weil diese die einzige Möglichkeit bot, der familiären Knechtschaft frühzeitig zu entkommen.
Ich fühle mich meinen Großmüttern gegenüber noch heute zu Dank verpflichtet. Ohne ihre weise Einführung ins Leben hätten mir Mutter, Schule und Kirchensklaven das Rückgrat, wenn nicht gänzlich gebrochen, so doch zumindest stark verbogen.