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16 Doris und die Engelfrage 2016
ОглавлениеDoris rutscht mir gegenüber auf ihrem Meditationskissen herum, rast- und ruhelos. Bevor ich fragen kann, wo sie der Hafer sticht, platzt es aus ihr heraus: „Anna, was denkst du über Engel?“
Auweia, kalt erwischt. Ich gerate in Versuchung, ihr zu sagen, dass Engel ihre Probleme nicht lösen werden. Im letzten Moment beiße ich mir auf die Zunge. Stattdessen nehme ich Zuflucht zu einer allgemeinen Antwort: „Man kann davon ausgehen, dass sie aus der Zeit des alten Ägypten stammen. Schau dir Abbildungen von Isis und Osiris an, die wiederholt mit gefiederten Auswüchsen im Schulterbereich dargestellt werden. Geflügelte Götterwesen findest du in der gesamten Mythologie. Denk an Hermes, den Götterboten der Griechen oder Merkur bei den Römern. Oder Pegasus, das geflügelte Pferd, das Medusas Haupt entsprang, als Perseus sie tötete. Ich nehme an, dass man diese Flügelwesen aus den polytheistischen Religionen den monotheistischen einverleibte, weil Euer einer Gott auch nicht ohne Sendboten auskam.“ Zum Beispiel um den göttlichen Samen im jungfräulichen Schoß eines unbedarften Mädchens zu platzieren. Das zu sagen verkneife ich mir auch. Vorsicht, Anna, dünnes Eis. Bei Doris weiß man nie, wie viel Wahrheit sie verträgt.
Es gibt die Engel im jüdischen Tanach, in der christlichen Bibel und im Koran. Ich könnte anfügen, dass sie in der christlichen Bibel etwa 300-mal Erwähnung finden, wodurch ihre Existenz für mich nicht realer wird.
Ich weiß, dass Doris sich wieder auf einem esoterischen Vortrag herumgedrückt hat. Hoffentlich kommt sie nicht auf die Idee, ihre Probleme auf irgendwelche Engel abzuwälzen, statt den einzig vernünftigen Schritt zu wagen: ihrem ältesten Sohn endlich kräftig in den Hintern zu treten.
Doris wackelt, nicht überzeugt, mit Kopf und Zeigefinger. Sie setzt zu einer engagierten Rede über Lichtwesen an. Engel im Allgemeinen, Erzengel und Elohim im Besonderen. Letztere scheinen derzeit eine Favoritenrolle einzunehmen. Ich begreife, wessen Vortrag sie gehört hat und lasse sie schwätzen. Meine Gedanken driften ab.
Wie geldgeil und skrupellos muss jemand sein, um die Leute mit derartigen Hirngespinsten zu füttern? Unter denen sich vermehrt solche mit echten physischen, psychischen oder niederschmetternd-weltlichen Problemen tummeln? Wo bleibt die Verantwortung, die wir gegenüber dieser instabilen Klientel haben? Es lässt sich nicht vermeiden, dass ich aufgrund meiner Arbeit das eine oder andere esoterische Buch lese. Es will mir nicht in den Kopf, dass diese selbsternannten Propheten den eigenen Worten Glauben schenken können.
Ich halte viele Richtungen der Esoterik für genauso schädlich und volksverdummend wie herkömmliche Religionen. Nicht, dass ich den Glauben im Allgemeinen ablehne, im Gegenteil. Ich verschließe mich nur den Konstrukten, die Menschen dazu nötigen, Verstand und Selbstverantwortung an der Garderobe abzugeben.
»Elohim« stammt aus dem Tanach, bedeutet „Gott“ (Jahwe). Die Bezeichnung ist mutmaßlich der polytheistischen Götterwelt Kanaans entnommen. Ich kenne „Elohim“ aus der Fantasy-Literatur, die ich bisweilen zum Vergnügen lese. Unsterbliche, attraktive Männer, die mit dem Schwert aufeinander losgehen. Die uralte Mär vom Kampf zwischen Gut und Böse. Der „Gute“ ist stets blond, mit weißen Schwingen, verliebt in die holde blonde Maid. Der „Böse“ ist schwarzhaarig mit schwarzen Schwingen. Er will die Weltherrschaft und das Mädchen als Bonus obendrauf. Unnötig zu erwähnen, dass diese Brüder in der Lage sind, ihre gewaltigen, uralten Flügel unter moderner Kleidung zu verstecken.
Fazit: Doris überantwortet sich jetzt den „Elohim“. Sucht Unterstützung bei überirdischen „Mannsbildern“ mit großen Schwertern und noch größeren Schwänzen. Unter Umständen träumt sie von solch einer Lichtgestalt für ihr reales Leben? Ich würde ihr eher raten, ihrem Buben ein für alle Mal beizubringen, wer im Haus das Sagen hat. Stattdessen wird sich zu Problem eins Problem zwei hinzugesellen: die Enttäuschung, wenn sie einsehen muss, dass Problem eins sich trotz Elohim und Energiewässerchen nicht von selbst in Luft auflöst.
Im Moment ist sie hirngewaschen, da kann ihr niemand helfen. Eines Tages steht sie dann wiederum frustriert auf der Matte. Die Gruppe ist das gewöhnt. Wir päppeln sie erneut auf - bis zur nächsten Spinnerei.