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11 Der Donnerstagskreis 2016
ОглавлениеZum „Donnerstagskreis“, der auch dann so heißt, wenn man sich an einem anderen Wochentag trifft, gehören Frauen aller Alters- und Berufsgruppen. Es sind „weibliche“ Frauen, im Gegensatz zu „emanzipierten“ Zicken. Feministisches Getue hat keine von ihnen nötig. Sie sind selbstbewusst, selbstverantwortlich, kritisch, respektlos, auf gesunde Weise spirituell und vielseitig interessiert. Ich bin durch Jutta zu ihnen gestoßen, die mich vor ein paar Jahren darum bat, einen Vortrag zu halten.
Seitdem besuche ich den Kreis jeweils am ersten Donnerstag eines Monats. Ich spreche über ein von ihnen ausgewähltes Thema oder meditiere mit ihnen, je nach Wetter drinnen oder draußen. Von Zeit zu Zeit feiern wir auch gemeinsam ein Jahreskreisfest. Unterhaltsam wird es, wenn sie etwas „von früher“ hören wollen. Das kann sich sowohl auf mein Leben als auch auf Politik und Gesellschaft beziehen. Dann kommen wir meistens vom Arschbacken zum Kuchenbacken und die Diskussionen nehmen kein Ende.
Heute sitzen wir bei Rosel im Garten, vierzehn Frauen an einem langen Tisch, bestens versorgt mit Eistee und Schnittchen. Alle sind schlapp und stöhnen über die Schwüle. Ich sehne mich nach meiner Couch und einem Buch, habe alles, nur keine Lust zum Reden. Judith zündet sich eine Zigarette an und bläst mir eine Rauchwolke ins Gesicht. Das soll wohl heißen: Fang endlich an, Alte.
Thema: Das Leben in den 60er und 70er Jahren. Ich habe soeben das Kapitel von meinen Hippiefreunden beendet. Es bietet sich als Einstieg an. Ich bin themengerecht in Hippieklamotten gewandet, wie überwiegend im Sommer, und mit dem Schmuck von einst dekoriert. Meine langen Haare sind im Cher-Style frisiert. Wer meint, ich sei dafür zu alt, braucht nicht hinzuschauen.
Ich erzähle von Leo, Yogi, Wolf, Greta und all den anderen. Darüber vergessen wir die Hitze und ich gerate ins Quatschen. Wie üblich schimpfen wir alle durcheinander, wenn es um Ungerechtigkeiten, Diffamierungen und dergleichen geht.
Es ist uns allen klar, dass die Deutschen nach dem Krieg stolz darauf waren, sich erfolgreich durch die Notzeit gewurschtelt zu haben. Über ihren braunen Hirnen wölbten sich neue Dächer und Arbeit gabs auch.
„Ein Verdienst der Frauen“, merkt Rita bissig an, „denen gebührt der Respekt für den Wiederaufbau, nachdem die Kerle alles zerstört hatten.“ Wer diesem Einwurf nicht zustimmt, kapiert es in hundert Jahren noch nicht. Wir sind alle Ritas Meinung.
Es überforderte die Deutschen, dass es Leute gab, die die Freude am oberflächlichen Wohlstand nicht mit ihnen teilen wollten. Diese Gammler, dieses Gesindel. Dieser Stachel im mittlerweile wohlgenährten Fleisch, das nicht mehr nur nach Brot, sondern nach delikaten Häppchen gierte! Die „Bild-Zeitung“ schmierte dazu ihren Senf auf unschuldiges Papier und erhob die überschaubare Gruppe zum Problemfall. Sie sorgte mit für die ungeheuere Wut, die den jungen Leuten entgegenschlug, diesen verhassten Störenfrieden. Wobei kaum einer wusste, dass es zwischen Gammlern und Hippies einen wesentlichen Unterschied gab.
Bei den Hippies standen Gemeinschaftlichkeit und Selbstverwirklichung im Vordergrund. Sie waren friedlich, naturverbunden, konsumkritisch und suchten nach einer humaneren Lebensweise, meist in ländlichen Kommunen. Bei den Gammlern überwogen bereits die Wut und eine gesellschaftspolitische Kritik.
Unverständlich war, dass man sich über ein paar Jugendliche aufregte, die niemandem zur Last fielen. Die von der Gesellschaft nichts verlangten, als in Ruhe gelassen zu werden. Doch sie missfielen jenen, die nach dem Genuss ihres fetttriefenden Sonntagsbratens mit Rotkohl und Klößen, vor der nachmittäglichen Kuchenschlacht, am Rheinufer ihren Verdauungsspaziergang machten. Deren Schweinsäuglein sich durch den Anblick dieser „Gammler“ beleidigt fühlten. Was war schrecklich am Anblick der Mädchen mit den Margeritenkränzen im langen Haar? Den nackten, braungebrannten Oberkörpern der Männer? Sie waren jung, hübsch, pöbelten und provozierten nicht. Sie forderten nur ihr Recht darauf so zu leben, wie sie sich „Leben“ vorstellten.
Judith unterbricht mich: »Heute „verschandeln“ Alkoholiker, Obdachlose und Bettler die Städte, wenn man sie nicht vertrieben hat. Auch darüber regen sich die Leute auf. Dass es Menschen gibt, die auf der Straße leben und betteln müssen. Die keine Wohnung und kein Einkommen haben. Sie schimpfen nicht darüber, dass es für die Armen keine Lobby gibt. Dass unsere Politiker es nicht schaffen, bezahlbare Wohnungen für alle bereitzustellen, dafür zu sorgen, dass niemand durch die Maschen unseres sozialen Netzes fällt. Ungeheuerlich, dass das angeblich so reiche Deutschland sich heutzutage noch Arme leistet. Wenn man unserer Kanzlerin zuhört, leben wir doch angeblich in einem Wirtschaftsparadies.“
„Tja, bis auf die dreizehn Millionen am unteren Rand der Gesellschaft“, erwidert Inga. „Wenn ich diesem Kuckucksei zuhöre oder seiner „schwarzen Null“, überkommt mich das große Kotzen.“
Die Hippies verzichteten freiwillig auf Hab und Gut, die Armen nicht. Wir empfinden die Einrichtung von mehr und mehr ehrenamtlich getragenen Tafeln und Suppenküchen als Schande für unseren Staat. Will oder kann die Regierung ihre Aufgaben nicht bewältigen? Wir leisten uns Ghettos, in die kein normaler Mensch den Fuß hineinzusetzen wagt, nicht einmal Sozialarbeiter oder Polizisten. Und das in einem Land, das seinen „Wohlstand“ derart arrogant nach außen zur Schau stellt. In dem Politiker den Bezug zur Basis verloren haben. Die die Armutsberichte nicht lesen und permanent die zunehmende Kinder- und Altersarmut leugnen. Die die Bildungsdefizite und Arbeitslosigkeit unter den Migranten nicht wahrnehmen. Ich bezeichne diese Menschen nicht als „Unterschicht“ oder „Unterprivilegierte“, sondern als die „Ungehörten, die Vergessenen“ eines angeblichen Sozialstaates. Was uns verstört, das sind die Massen fremder Leute, die man ins Land holt. Ein Land, das bisher nicht in der Lage ist, ansässige Bürger angemessen zu versorgen. Warum ist die Politik so versessen darauf, noch mehr Arme zu produzieren? Weil sie „Möchtegern-Kapitalisten“ brauchen, die ihnen ahnungslos hinterher dackeln? Wie lange werden sie so naiv bleiben? Wann werden die bewusst herbeigeführten Auseinandersetzungen auf den Straßen beginnen?
Die Debatte wird hitziger. Die schlappen Hühner von vorhin spreizen wütend ihr Gefieder. „Und da regte man sich früher über ein paar harmlose Aussteiger auf. Junge Menschen mit eigenen philosophischen Grundsätzen, schon global vernetzt und gegenüber Außenseitern offen. Genau, wie damals sich niemand für das „Warum“ interessierte, regt sich auch heute keiner über das politische „Missmanagement“ auf. Höchstenfalls über die, die es ertragen müssen.“
„Alles Kalkül“, winkt Lizzy ab. „Habt ihr euch mal gefragt, warum man so viele Männer ins Land lässt? Ist es vorstellbar, dass wir Soldaten brauchen?“ Wir schlucken. Darüber wollen wir erstmal nicht nachdenken. Die Mädels geraten in Fahrt. Wir überlegen, wie eine Solidarisierung zwischen alleinstehenden RentnerInnen und alleinerziehenden Müttern und Vätern zu organisieren wäre. Die beiden Gruppen brauchen in Zukunft dringend Hilfe. Vera ist alleinerziehend. Sie würde sich freuen, wenn sie manchmal auf die Hilfe von Großeltern zurückgreifen könnte. Und wie früher bei meinen „Großmüttern“ fällt der schöne Satz: „Wo drei satt werden, werden auch vier satt. Wenn ich wüsste, dass da jemand ist, der mir das Kochen abnimmt oder mal die Bügelwäsche. Auf alle Fälle aber da ist, wenn die Kinder krank sind oder Ferien haben. Ich würde dasjenige auf Händen tragen.“ Über dieses Thema werden wir wohl noch öfter diskutieren. Über Wege nachdenken, wie man solche „Fremdfamilien“ organisieren könnte. Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Mädels haben ein bisschen etwas Witziges verdient, nach all dieser gerechten Entrüstung. Deshalb erzähle ihnen von meiner Großmutter, die mich eines Sonntagnachmittags zum Lager meiner Hippies begleitete. Sie thronte auf einer umgedrehten Bierkiste unter einem Baum und hielt Hof. Plötzlich erklang wütendes Geschimpfe. Ein Mann mit Hut kam auf uns zugerannt, packte eines der Mädchen am Kragen, zerrte es in die Höhe und brüllte: „Wir haben genug von euch Gesindel. Verschwindet, sonst lassen wir euch alle einsperren.“
Meine Großmutter war eher breit als hoch, daher auch nicht gleich zu sehen. Sie konnte sich gemächlich einen Weg durch die Gruppe bahnen, bis sie direkt vor dem Schreihals stand. Der bemerkte sie erst, als sie ihm die Spitze ihres Regenschirms (ohne den sie nie aus dem Haus ging) in den Bauch bohrte. Und dann ging das pfälzische Temperament mit ihr durch. Sie drängte ihn zurück, drosch auf ihn ein und scheuchte ihn quer über die Wiese. „Wirst du wohl meine Enkel in Ruhe lassen, du asozialer Flegel. Wir machen hier ganz friedlich ein Picknick. Wenn einer die Bullen holt, bin ich das. Hilfe, ein Perverser, Hilfe.“
Die Frauen kreischen vor Vergnügen. Lachtränen vermischen sich mit Schweiß. Rosel japst schließlich nach Luft: „Meine Fresse, so eine Großmutter hätte ich auch gerne gehabt.“ Kann ich verstehen, aber mein alter „Haudegen“ war einmalig. Ich konnte jederzeit alle möglichen Leute zu ihr bringen. Langhaarige und Kurzgeschorene, Schwarze, Gelbe, Weiße, Intelligente, Dumme, Reiche und Arme. Sie hieß alle willkommen, vorausgesetzt, es waren keine aufgeblasenen Dumpfbacken. Selbst, wenn ich ihr ein Marsmännchen angeschleppt hätte, wäre ihre einzige Frage wohl gewesen: „Kann ich mal in deiner Untertasse mitfliegen?“
Als ich auf die Uhr schaue, zeigt sie schon kurz nach Mitternacht. Dana fährt mich heim, sie wohnt ganz in meiner Nähe. Beim Aussteigen überreicht sie mir einen Umschlag, gefüllt mit Fünf- und Zehneuronoten. Mein „Honorar“. Den Inhalt werde ich, wie üblich, spenden, themengerecht dieses Mal dem „Lichtblick“, unserer Tagesbegegnungsstätte für die Ärmsten der Armen.