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1 Prolog
Оглавление„Schreib ein Buch, Anna.“ Ich schaue Nataraj an. Meinen indischen Freund aus alten Hippietagen. Meinen persönlichen Supervisor. Ich schaue ihn an, als hätte er den Verstand verloren, wäre von einem auf den anderen Augenblick zum dementen Schatten seiner selbst mutiert. „Ein Buch?“, frage ich irritiert, „worüber denn?“
Nataraj lacht sein meckerndes Altmännerlachen. Er ist alt geworden, achtundachtzig schätze ich, und lebt seit langem sehr zurückgezogen. Ich betrachte es als Privileg, ihm weiterhin auf die Nerven gehen zu dürfen. Wobei ich oft bezweifle, dass er so etwas Profanes wie Nerven in seinem Körper beherbergt. Er ist mittlerweile so dünn wie ein Suppenspargel und so faltig wie ein Plisseerock. Ich setze mich ihm gegenüber auf ein Kissen. Im Schneidersitz. Er bevorzugt nach wie vor den originalen Lotossitz. Anscheinend hat er auch keine Gelenke. Zumindest keine, die bei einer solchen Verrenkung schmerzen. Ich spiele mit dem Peacezeichen, das an einer Kette um meinen Hals hängt. Nataraj bemerkt es und nickt. „Sieht so aus, als könnte die Welt das wieder brauchen.“
„Sieht so aus“, antworte ich, „als hätten wir es nie in der Schublade versenken dürfen.“
Ich habe meinen Freund aus einem bestimmten Grund aufgesucht: An mich ist eine Frage herangetragen worden, auf die ich keine Antwort weiß. Wie wird man eine „spirituelle Lebensberaterin“? Es fiel mir auf, dass ich mir darüber nie Gedanken gemacht habe. Für mich ist diese Arbeit eine Bestimmung. Die logische Fortsetzung meiner unorthodoxen Lebensgeschichte.
„Die Frage dieser Frau ist berechtigt“, belehrt mich Nataraj. „Wie wird man zu dem, was man ist? Geh deinen Lebensweg Schritt für Schritt zurück. Nimm ihn noch einmal genau unter die Lupe. Du wirst erkennen, dass er vorgezeichnet war. Die Spiritualität ist ein Teil von dir. Dazu trug vielerlei bei. Die Erziehung durch deine Großmütter, Menschen, denen du begegnetest, Gutes und Schlechtes, das dir widerfuhr. Hinzu kam dein Interesse an alten Religionen und Gesellschaftsstrukturen. Du hast Philosophie studiert und nach Antworten gesucht. Betrachte alles aus heutiger Sicht. Das wird dich zur Lösung führen.“
Ich grüble über seinen Worten. „Wenn ich ein solches Buch schreiben würde“, frage ich, „womit sollte ich, deiner Meinung nach, beginnen?“ Und würde im selben Moment diesen Satz gerne wieder dorthin zurückstopfen, wo er herkam.
Schon zieht Nataraj die dichten, weißen Brauen hoch. Die Runzeln um seine Augen vertiefen sich zu kleinen Gräben. „Eine solche Frage aus deinem Mund, Kind? Womit fängt man wohl an? Mit dem Anfang natürlich, mit deiner Geburt. Beschreite nochmals alle Wege, die du gegangen bist. Auch, wenn es dich manches Mal schmerzen wird.“
Er hebt segnend die Hände. Meine Audienz ist für dieses Mal beendet. »Ich denke darüber nach«, verspreche ich, verneige mich respektvoll vor ihm und ziehe leise die Tür hinter mir ins Schloss.
Ich soll fremden Menschen tiefe Einblicke in mein Leben gewähren? Oh, Nataraj. Das kann nicht dein Ernst sein. Ich führe von Anfang an ein Krisenleben, das wie ein Tornado über mich hinwegfegt. Mich an der einen Stelle aufsaugt und an einer anderen ausspuckt. Es kribbelt mich, wenn ich nur daran denke.
Ich brauche über ein Jahr und mehrere Sitzungen mit Nataraj, um mich mit diesem Gedanken anzufreunden.