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Babylights und Kartoffelbrei

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Auf einer kleinen Anhöhe, ca. 500 Höhenmeter unter der Passhöhe, sammeln sich die Läufer wieder. Hier befinden sich der erste Stand mit Getränken und der erste Checkpoint. Zeitlimit gibt es hier keines. Die erste Cut-Off befindet sich im Ort La Thuile, nochmal 500 Höhenmeter weiter unten. Ich kann mir vorstellen, dass die Läufer im Vorjahr der extremen Hitze wegen für die Erfrischungsgetränke hier auf halber Höhe sehr dankbar waren. Ich bin mit 1,5 Litern Wasser gestartet. Zwei Flasks vorne und eine als Reserve hinten im Rucksack. Ein bisschen was davon habe ich im ersten Waldstück den Bäumen abgegeben, denn mit dem einsetzenden Regen war klar, dass das hier keine heiße Angelegenheit und Wassermangel nicht das Problem werden würde. Wohl wissend: Auch wenn es kalt ist, regelmäßig trinken. Ich hatte noch etwa eine dreiviertel volle Flask, was bis nach La Thuile reichen sollte. Mit dem Gewicht von Wasser kann man ein bisschen spielen. Auf gut laufbaren Streckenabschnitten, vor allem bergab, empfiehlt es sich, nicht unnötig viel dabeizuhaben. Dabei muss man aufpassen, denn oft geht es nochmal einige Höhenmeter bergauf, die im Streckenprofil nicht eingezeichnet sind, oder man gerät in ein Energieloch und kann auf einmal nicht mehr so schnell laufen wie geplant. Beides hatte ich bereits erlebt, und wenn die Natur einem dann nicht gerade mit sauberem Fluss- oder Quellwasser hilft, kann einen Dehydration das Rennen oder mehr kosten. Aktuell bin ich mir jedoch sicher, dass diese Gefahr auf dem nächsten Teilstück nicht besteht. Aus reiner Neugierde werfe ich einen kurzen Blick auf das Angebot und entdecke die Läuferin wieder, die vorhin so elegant im Schnee abgefahren ist. Der Name Verena Müller auf ihrer Startnummer am Rucksack zeigt, dass hier eine Namensvetterin von mir mit im Rennen ist. Ein Schicksal, das mich des Öfteren ereilt. Der Name spricht zudem dafür, dass sie auch Deutsche ist oder zumindest aus dem deutschsprachigen Raum stammt. Das würde zu ihrer Haarfarbe passen. „Straßenköterblond“ nannte das meine Lieblingsfriseurin in Mannheim. Straßenköterbraun wäre ebenso treffend, denn eigentlich ist es eine Mischung aus Blond und Brünette. Eine Haarfarbe, die laut der Friseurin typisch deutsch ist, zu meiner Zeit in der Pfalz als das Langweiligste überhaupt galt und 2016 im Rahmen des Beauty-Megatrends „Natürlichkeit“ auf einmal als die In-Farbe gehypt wurde. Natürlich nicht mehr unter der Bezeichnung Straßenköterblond, sondern als Aschblond. Damit die Einbußen der Friseure nicht ganz so heftig ausfielen, empfahlen Modemagazine, die Natürlichkeit mit sogenannten Babylights, feinen aufgehellten Strähnen, zu unterstreichen. Einen Effekt, den normalerweise die Sonne gratis übernimmt, was dann aber wohl wieder zu viel Natürlichkeit wäre. Ich lege schon Wert auf mein Äußeres und bin in manchen Dingen durchaus eitel. Beim Sport kann ich es jedoch wenig nachvollziehen, wenn Sprinterinnen stärker geschminkt sind als die Kandidatinnen bei „Germanys Next Topmodel“. Vielleicht ist die Antwort auf meine Frage, warum sich Sprinterinnen für ein Rennen derartig anmalen, die gleiche wie die auf die Frage, die mir am Berg öfter begegnet. „Warum rennt die Frau?“, fragte ein etwa fünfjähriger Knirps seine Mama, als ich vom Herzogstand runter zum Walchensee lief, nur um unten angekommen den gleichen Weg wieder hinaufzulaufen. „Weil sie es kann“, meinte seine Mutter.

Eine Antwort, die mir gefiel. Weil sie es können. Offensichtlich hat Mascara im Auge auf Sprintdistanzen noch nie für Leistungseinbußen oder Zeitverlust gesorgt. Beim Ultratrail-Laufen ist das anders. Da müsste das Make-up mehrere Tage und Nächte lang Schweiß, Wind, Regen und Kurzübernachtungen in Feldbetten überstehen. Deshalb sind die meisten Ultratrail-Läuferinnen beim Rennen nicht geschminkt. Verena genauso wenig wie ich. Mit ihren langen aschblonden Haaren, die sie unter einem Stirnband zum Pferdeschwanz zusammengebunden hat, macht sie auf mich einen sympathischen Eindruck. Was ich nun weniger neidvoll so sehen kann, denn offensichtlich hat sie die Zeit, die sie durch das Abfahren gewonnen hat, an der Station wieder verloren. Ich freue mich, noch vor ihr das nächste Teilstück in Angriff zu nehmen, und laufe zügig weiter. Ich renne die Forststraße hinab, glücklich über die einfachen Kilometer. Der Weg führt zwischen ein paar Häusern hindurch auf eine asphaltierte Straße.

„Ich hasse Asphalt. Nur Kopfsteinpflaster ist schlimmer“, ertönt eine Frauenstimme von hinten.

Noch bevor ich mich umdrehe, holt mich die Läuferin von vorher ein. Mit deutschsprachig lag ich also schon mal richtig.

„Sah klasse aus, wie du vorher im Schnee abgefahren bist“, bemühe ich mich, so neidlos wie möglich was Nettes zu sagen. Life is a challenge, not a competition – das Leben ist eine Herausforderung, kein Wettkampf. Das Gleiche gilt für den TOR. Zumal wir bei diesem Tempo beide nicht um die vorderen Plätze laufen.

„Frau tut, was sie kann“, entgegnet Verena.

„Woher kommst du?“, frage ich, um zu erfahren, ob sie eine der insgesamt fünf deutschen Frau hier im Rennen ist. Ich hatte vor einigen Monaten auf die Starterliste geschaut und gesehen, dass außer mir und Eva und Anke, zwei Läuferinnen, die ich kenne, noch zwei weitere deutsche Frauen gemeldet sind. Dazu noch einige Österreicherinnen, darunter Sigrid Huber, die Inhaberin und Herausgeberein des Magazins „Trail Running Szene“. Wir standen bereits zusammen auf dem Siegerpodest beim Hochkönigman. Sie auf Platz eins und ich auf drei. Zudem noch ein paar Schweizerinnen. Die eine davon, Denise Zimmermann, hat es 2014 beim Swiss Irontrail geschafft, schneller als der schnellste Mann zu sein. Ich hatte Denise am Tag vor dem Rennen am Stand mit den Cramps getroffen und ihr viel Erfolg gewünscht. Sie hat eine liebenswert bescheidene Art, genauso wie Andrea Huser, die dieses Kunststück ebenfalls beim Swiss Irontrail ein Jahr später wiederholte, hier aber nicht am Start ist.8 Denise erzählte mir, sie hoffe, dass das Wetter mitspiele. 2015 wurde das Rennen, das sie anführte, witterungsbedingt abgebrochen. Zwar wurde ihr mit der schnellsten Zeit der Damen in Ollomont – der letzten Life Base – der Sieg zugesprochen, doch natürlich ist ein erster Platz bei einem Rennabbruch nicht das Gleiche, wie unter dem Jubel der Zuschauer in Courmayeur einzulaufen. Denise befindet sich sicherlich bereits im Anstieg zum zweiten Pass oder noch weiter weg. Ich würde ihr den Sieg gönnen, weiß aber, dass hier ein paar starke Frauen am Start sind. Unter anderen die Lokalmatadorin Lisa Borzani, Zweitplatzierte 2014 und 2015 und Siegerin der Damen 2016 und 2017. Auch Silvia Ainhoa Trigueros Garrote, die Siegerin von 2018 und aktuelle Rekordhalterin mit dem mir unaussprechlichen Nachnamen, ist dieses Jahr wieder mit im Rennen. Eine mir bis zum TOR unbekannte spanische Ultratrail-Läuferin. Generell starten beim Tor des Géants nur selten weltbekannte Läuferinnen. Was daran liegen könnte, dass man beim Ultratrail Bekanntheit vor allem durch die Teilnahme an Rennen der Ultra Trail Word Tour (UTWT) gewinnt. Die UTWT ist eine Serie von über das Jahr und die Welt verteilter Ultratrail-Rennen, bei denen die Läufer Punkte sammeln, um am Ende im Gesamtklassement möglichst weit oben zu stehen. Der TOR ist nicht nur nicht Teil dieser Laufserie, er ist zugleich gut doppelt so lang wie die Rennen der UTWT und andere Ultratrails. Zudem gehören Rennen mit über 200 Kilometern am Stück in ein anderes Segment innerhalb der Klassifizierung Ultratrail. Wie ein Profi über fünf Kilometer nicht mal eben über die zehn Kilometer startet, laufen die allermeisten 100-Meilen-Profis nicht einfach die doppelte Distanz. Die Teilnahme an einem XXL-Ultratrail wie dem TOR würde eine deutlich längere Regeneration fordern, was wiederum mit der Teilnahme an anderen Rennen der Serie kollidiert.

Was Verena betrifft, liege ich richtig. Sie kommt aus München. Das verrät sie mir, nachdem sie es mit „Ich komm vom Col d’Arp, und du?“ versuchte, was wohl ihre Art von Humor ist.

Wir laufen zusammen die Straße hinunter. In einer Haarnadelkurve folgen wir dem Trail am Hang entlang, wie es die Streckenbeschreibung auf der Webseite des Tor des Géants angekündigt hat. Das weiß ich noch. Alle detaillierten Wegbeschreibungen habe ich aber nicht mehr im Kopf. Wenn ich eine Passage aus einem Buch zu einem gerade diskutierten Thema suche, finde ich diese sofort. Namen und Wegbeschreibungen hingegen kann ich mir erst merken, wenn ich zu dem Menschen engen Kontakt habe oder den Weg schon einmal gelaufen bin. Bei Namen kann man sich Brücken bauen. „Verrenn na“ könnte „Verlaufe dich nicht“ heißen – im Fantasiedialekt. Egal wie unsinnig, Hauptsache, ich erinnere mich später daran, was am besten gelingt, wenn ich ein Bild im Kopf habe. Sich die Abzweigungen bei einem 360-Kilometer-Rennen zu merken, ist ungefähr so, als wolle man sich als Verkäuferin im Supermarkt die Namen aller Kunden merken. Ich denke, selbst bei Starbucks tun sich die Mitarbeiter an einem gut besuchten Tag schwer, die Namen all ihrer Kunden zu nennen. Bezogen auf die Wegbeschreibung zudem in korrekter Reihenfolge. Da hilft es nicht einmal, jeden Namen per Hand auf den Becher geschrieben zu haben. Zur Menge dessen, was man sich merken müsste, gesellt sich beim Ultratrail der fehlende Schlaf, der ab der zweiten Nacht dafür sorgt, dass man froh ist, sich noch an die Namen der Pässe, der wichtigsten Ortschaften und der sechs Life Bases zu erinnern. Da bereits das nicht mehr wirklich gut funktioniert, hat jeder Läufer den Streckenplan digital oder ausgedruckt mitzuführen. Sehr hilfreich zur Orientierung sind die vielen gelben TOR-Fähnchen, denen Verena und ich auf dem längst wieder schneefreien Trail im leichten Auf und Ab folgen.

„Auf nach La Thuile“, jauchzt Verena, als die Strecke wieder bergab führt und die Häuser der Stadt in Sichtweite sind.

Im Ort unten erblickt Verena das weiße Partyzelt auf der rechten Straßenseite.

„Das ist noch nicht die VP“, rufe ich, so laut ich kann.

Während Verena auf das Zelt zusteuert, wiederhole ich: „Das ist noch nicht die VP, die kommt erst am Ortsende.“

Mein Mann hat mich vorgewarnt. Das Zelt stand 2018 auch schon hier, und er unterlag der gleichen verfrühten Freude wie Verena. Bevor ich im Vorbeilaufen weitere Erklärungen abgeben kann, ist Verena schon am Zelteingang. Ich renne weiter. Sie hätte auch auf mich hören können. Während ich durch La Thuile laufe, bemerke ich ein leichtes Ziehen am Rist meines rechten Fußes. Das Ziehen war vorher schon kurz da. Ich bitte Björn per Sprachnachricht, die Blackroll aus dem Camper zu holen. Er begrüßt mich draußen und zeigt mir, wo unser Platz ist. In der VP herrscht ordentliches Gewusel. Ich versuche, hinter Björn zu bleiben, der sich geschickt durch die Menge an Läufern drängt. Einmal kurz geschaut, was hier zu essen angeboten wird, gerate ich in den immer größer werdenden Rückstau vor dem Buffet und verliere den Anschluss zu Björn. Das war unnötig Annabel, das meiste davon kannst du sowieso nicht essen.

Hier!“, rufe ich und strecke meinen rechten Arm hoch, als Björn sich suchend umsieht.

Mein Mann und offizieller Trailer Assistant ist die eine registrierte Begleitperson, die mich an den VPs unterstützen darf. Ausgenommen ist jegliche medizinische Hilfeleistung oder Massage. In die Verpflegungsräumlichkeiten dürfen nur Teilnehmer mit Startnummern und ihre jeweilige Begleitperson mit dem postkartengroßen Ausweis. In dem mittelgroßen Gemeindesaal sind das meinem Empfinden nach gerade zu viele Menschen auf einmal. Ich bin dankbar, dass ich mich nicht zum Getränkestand vorarbeiten muss, sondern dass Björn das übernimmt. Er bittet mich, so lange auf einem der Stühle an der langen Tafel bei unseren Sachen sitzen zu bleiben. Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen, um kurz auf die Rolle zu gehen. Meine Strategie ist, den Wehwehchen gar nicht erst die Chance zu geben, schlimmer zu werden. Ich weiß, dass dieses Ziehen am Fußrist bei mir von zu viel Spannung der vorderen, oberen Oberschenkelmuskulatur herrührt und dass es hilft, diese Spannung zu reduzieren, indem ich den Muskel zwei bis drei Minuten mit der Blackroll bearbeite. Eine Hartschaumrolle, von der es inzwischen diverse Nachahmungen gibt. Spätestens seit Lidl und Aldi diese Selbstmassagerollen regelmäßig im Angebot haben, sind sie nicht nur bei Sportlern bekannt. Ich sage bekannt und weniger beliebt, denn man muss schon einen leichten Hang zum Masochismus haben, um diese Art der Massage zu genießen. Da sie jedoch hilft, Muskelverhärtungen und -verkürzungen zu reduzieren, gehe auch ich hin und wieder auf die Rolle, vor allem wenn es einen akuten Anlass gibt. Präventiv quäle ich mich maximal während der Vorbereitung auf ein wichtiges Rennen damit. Da es beim Trainieren für einen Ultratrail allerdings fast immer irgendwo zieht oder ziept, steht die Rolle bei uns daheim inzwischen dauerhaft neben der Couch. Ich schaue mich um und überlege, wo hier Platz wäre, um mich auf den Boden zu legen. Zur Not eben draußen. Mein Plan ist jedoch, erst zu rollen, um dann den Muskeln, während ich esse, noch etwas Ruhe zu gönnen. Ich sehe, wie Björn bei den Getränken steht. Das scheint zu dauern. Ich entscheide, unsere Sachen allein zu lassen, und gehe zur Erste-Hilfe-Ecke, nicht weit von unserem Platz am Tisch. Hier klaut schon niemand was. Maximal den Stuhl, und auch das ist unwahrscheinlich, da ich meinen Rucksack daran befestigt habe. Bei der Ersten Hilfe ist nichts los, und ich frage die Ärztin, ob ich hier bei ihr kurz auf die Rolle könne. Ich bin nicht sicher, ob sie mich versteht. Ich lächle bittend, zeige auf die Rolle und das Stückchen freien Boden hinter ihr. Sie nickt und geht einen Schritt zur Seite. Im Unterarmstütz, die Rolle knapp unterhalb der Hüfte, das Bein minimal nach innen rotiert, rolle ich ein klein wenig hin und her und suche den schmerzhaftesten Punkt. Diese Position halte ich ein bis zwei Minuten, bis der Schmerz nachlässt. Bei meinem zweiten Durchgang bekommt die Ärztin zu tun. Der Läufer sieht recht fit aus. Ich weiß nicht, was er hat, mache ihm dennoch Platz und mich auf den Weg zurück zum Tisch. Björn ist schon da. Ich habe ihm eine WhatsApp geschrieben, damit er sich nicht wundert, wo ich bin.

Er meckert dennoch: „Das heiße Wasser für deinen Kartoffelbrei ist schon fast wieder kalt.“

Vermutlich war es nie sonderlich heiß, denke ich. Dankbar, das nicht laut ausgesprochen zu haben, denn ich weiß, er meint es nur gut und ärgert sich vor allem meinetwegen. Das Verpflegungsthema ist immer ein bisschen schwierig für mich, da ich aufgrund eines Reizdarms nicht alles vertrage und bei einem Rennen nichts riskieren möchte. Heiße Brühe gibt es oft, doch je nach Zutaten bekomme ich darauf schlimme Blähungen, Durchfall oder fiesen Juckreiz an Armen oder Beinen. Alles recht unschön, weshalb ich mein selbst mitgebrachtes Kartoffelbreipulver lieber mit heißem Wasser anrühre, das oftmals erst warmgemacht werden muss. Ich tunke die Spitze meines kleinen Fingers ihn den Becher. Maximal lauwarm. Dabei kann Björn hier höchstens eine Minute auf mich gewartet haben. Egal. Hauptsache, das Pulver löst sich noch. Ich versuche, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, schütte rasch etwas Bio-Kartoffelpüreepulver hinein und verrühre es mit dem Plastikteelöffel, der eigentlich für das Füttern von Babybrei konzipiert wurde. Die Konsistenz ist die gleiche, wobei die Klümpchen zeigen, dass sich nicht alles Pulver gelöst hat. Es gelingt mir dennoch, die Hälfte davon zu essen, dann übersteigt der Ekel mein Hungergefühl. Ich lasse den Rest übrig, beiße in einen meiner Riegel und packe dankbar das glutenfreie Lachsbrötchen in den Rucksack, das mein Abendessen sein wird. Björn werde ich frühestens in Planaval wiedersehen. Die nächste mit dem Auto erreichbare VP liegt knapp 30 Kilometer und zwei weitere Pässe entfernt. Suchend blicke ich mich in dem nicht leerer werdenden Saal nach Verena um. Weniger weil ich sie so liebgewonnen habe. Sie hat schon eine etwas gewöhnungsbedürftige Art. Es ist mehr mein nie ruhender Ehrgeiz, der in jeder weiblichen Teilnehmerin eine Konkurrentin sieht. Dabei geht es gar nicht allein um das sportliche Kräftemessen. Seit 2017 ist es mein Herzensprojekt, die spannenden und lehrreichen Erfahrungen von Ultratrails mit anderen Menschen zu teilen, damit Geld zu verdienen, um mit neuen Ultratrail-Projekten weitere Erfahrungen sammeln zu können, die für mein Leben und wie ich denke auch das anderer Menschen enorm wertvoll sind. Die Idee, Vorträge zu halten, hatte ich schon gut zwei Jahre früher, nachdem ich miterlebte, wie Hermann Scherer auf der Jahresveranstaltung meines Steuerberaters die etwa 300 geladenen Gäste zum Lachen, Weinen und Staunen brachte. Okay, zugegeben nicht just in diesem Moment. In der reich gefüllten Büchertüte mit einem Wert von über 350 Euro für gerade mal 50 Euro, der der Sparfuchs in mir nicht widerstehen konnte, war unter anderem das Buch „Speaker Business Expert“. Ich weiß bis heute nicht, welche Stimme in mir so verrückt war, zu glauben, dass ich, die sich im „Rhetorik- und Knigge-Seminar“ der Firma Haase 2004 geschworen hatte, nie wieder vor einer Gruppe Menschen zu sprechen, Business Speaker werden könnte. Dass ich den Mut hatte, diesen Weg dennoch zu gehen, lag sicherlich nicht allein daran, dass die eigene Physiotherapiepraxis nicht die berufliche Erfüllung darstellte, die ich mir bei meinem Wechsel aus dem Management erhofft hatte. Wie beim Ultratrail trieben mich das Bild des Zieleinlaufs und die damit verbundenen Glücksgefühle an, mich dieser neuen Herausforderungen zu stellen. Und sicherlich war es auch die Erfahrung einer jungen Frau, die besser „Radfahren gehen“ sollte und 2015 als eine der wenigen Frauen die Königsdistanz des Swiss Irontrail mit 201 Kilometern und 11.4000 Höhenmetern rockte. Ein Meilenstein für mich als Ultratrail-Läuferin. Doch nun gilt es, den TOR erfolgreich zu meistern. Dabei ist es mir im Grunde gleich, ob Verena oder andere Teilnehmerinnen hier schneller sind als ich. Bei der Startnummernausgabe hatte mich eine Frau gefragt, ob ich ihr für das Buch über den TOR, das sie plane, als Interviewpartnerin zu Verfügung stehe. Eine große Ehre und zugleich eine weitere Chance, meine Geschichten in die Welt zu tragen. Diese einmalige Gelegenheit war für mich zugleich ein Zeichen, dass das Leben es gut mir meint und es richtig und wichtig für meine Ziele ist, den TOR genau in diesem Jahr zu bestreiten. Denn den Sommer über lag mein Fokus nicht wie sonst allein auf meinem großen Laufziel. Ich hatte sogar vielfach gehofft, nicht beim TOR starten zu können. Es gibt noch ein zweites Herzensprojekt in meinem Leben. Bevor ich die Startnummer abholte, musste ich daran denken, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich im Januar 2018 das Baby nicht verloren. Verloren ist irgendwie ein komischer Ausdruck. Als könne man etwas dafür. Als hätte man es versehentlich liegen gelassen. Der Arzt nannte es einen Frühabort in der sechsten Schwangerschaftswoche. Nichts Ungewöhnliches, vor allem bei Frauen um die 40. Doch da der Wunsch nach einer eigenen Familie mich begleitete, lange bevor ich die Liebe zum Berglauf entdeckte, war ich darüber sehr traurig. Als ich einen guten Monat danach in einem privaten Gästeapartment übernachtete und auf der Toilettentür das Metallschild mit der Aufschrift „Abort“ las, spürte ich, dass ein Kind, trotz all meiner sportlichen und beruflichen Ziele, weiterhin ein sehnlicher Wunsch von mir war. Kinderwunsch bei Leistungssportlerinnen – ein Thema, das viel mehr Aufmerksamkeit und Aufklärung bräuchte. Die Suche „Leistungssport Kinderwunsch“ im Webshop von Thalia ergab genau null Treffer. Auch Amazon bietet kein passendes Buch zu dieser Themenkombination. Nicht mal ein E-Book, wovon es heutzutage doch zu nahezu jedem Problem auf dieser Welt Literatur gibt. Und diese Herausforderung ist sicher nicht mein Einzelschicksal. Die Suche „Kinderwunsch Führungsposition“ ergab übrigens ebenfalls exakt null Treffer. Ein gut geschriebenes und ordentlich recherchiertes Buch zu dem Thema wäre eine Bereicherung und würde wahrscheinlich das ein oder andere Tabu brechen. Doch selbst wenn ich dafür einen Verlagsvertrag bekäme, es wäre nicht das Buch, das ich schreiben möchte. Die Fähigkeit, mich nach kurzem, teils durchaus intensivem Leid und Selbstmitleid auf die positiven Dinge im Leben zu konzentrieren, ist wahrscheinlich das Wertvollste, was ich besitze. Und so war ich nicht nur Feuer und Flamme, als ich gefragt wurde, ob ich Teil dieses Buchs über den Tor des Géants sein möchte, sondern hatte zugleich die große Hoffnung, dass mich dieses Puzzleteil meinem Traum, Speaker zu werden, einen großen Schritt näher bringt. Ob Verena oder eine der anderen Läuferinnen vor mir hier ins Ziel laufen, ist mir egal. Solange sie mir meinen Traum als Rednerin und meinen Platz in diesem Buch nicht streitig machen.

Ich entdecke Verena am Buffet und zupfe am Ärmel von Björns Sweatshirt. Er ist gerade dabei, mein Handy und meine Laufuhr von der Powerbank zu entkoppeln, damit ich mich auf den Weg machen kann.

„Da ist noch eine deutsche Läuferin“, deute ich möglichst unauffällig auf Verena, die gerade hinter einem großen, kräftigen Läufer verschwindet. „Du solltest los“, meint Björn.

Eine Stunde und 22 Minuten auf Cut-Off beim Einlaufen in die VP ist ein gutes Timing, aber längst kein Anlass, sich hinsichtlich des Zeitlimits zu entspannen. Der nächste Pass liegt nochmal knapp 300 Höhenmeter höher als der Col d’Arp. Sein Name, Col Haut Pas, sagt es bereits. Sein Nachbar, der Col de la Crosatie, gilt als einer der gefährlichsten Streckenabschnitte des Rennens. Läge kein Tal zwischen den beiden Pässen, könnte man sich 800 Höhenmeter Auf- und Anstieg ersparen.

8 Andrea Huser erzielte zahlreiche sportliche Erfolge. Sie starb im November 2020 bei einem Trainingslauf in der Schweiz, nur wenige Monate, nachdem sie ihre aktive Zeit als Profiläuferin für beendet erklärt hat. R.I.P.

Trail and Error

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