Читать книгу Trail and Error - Annabel Müller - Страница 17
Das Ultimatum
ОглавлениеMein Stock ist schnell in der Hosentasche verstaut. Ich freute mich über die Seilversicherung. Die leichten Kletterstellen beeinträchtigen meine Freude kein bisschen. Die Energie des Riegels ist in meinen Beinen angekommen, und die Seile machen einen sehr stabilen Eindruck, so dass ich mich, immer mindestens eine Hand am Seil, daran hochziehe. Als es sich vor mir staut, fällt mir auf einmal ein, dass ich meine stabilisierende Bandage für den linken Fuß noch immer nicht angezogen habe.
„Lauf du schon mal weiter. Muss kurz was machen“, sage ich zu Verena und suche mir einen großen Felsbrocken, um mich hinzusetzen.
Ich hole die Bandage raus und beeile mich sehr mit dem Anziehen. Nicht auskühlen. Schnell wieder weiter, bevor die nächsten kommen. Schwer erkennbar, wo man hier tödlich abstürzen kann. Bis auf die Stirnlampen der Läufer ist es finster. Die Abgründe verschwinden im Dunkeln. Ich frage mich, wie viele absturzgefährliche Stellen auf Ultratrails ich nicht mitbekommen habe, weil es dunkel war. Solange nichts passiert, ist es besser so. Björn hatte mir von dem Unfall an diesem Pass auch erst nach seiner Ankunft erzählt. Geschafft, zumindest den Anstieg. Col Crosaties, check. Da ich nicht genau weiß, wo man hier besser nicht hintritt und bei wenig Platz einiges los ist, laufe ich weiter. Zunächst vorsichtig, mit sehr viel Respekt. Der Italiener ist laut TOR-Meldung beim Abstieg abgestürzt. Für einen Moment schlägt mir das Herz bis zum Hals, beruhigt sich aber schnell, nachdem ich keine absturzgefährliche Stelle ausmachen kann. Das scheinen auch die Läufer vor mir so zu sehen, die wie ich weiterhin konzentriert und vorsichtig, aber nun deutlich zügiger den dritten großen Downhill in Angriff nehmen.
Ich laufe im Wohlfühltempo den Trail entlang, über eine Brücke, in den Wald hinein, bis mich dieser auf einer asphaltierten Straße wieder ausspuckt. Vor und hinter mir Stirnlampen. Nur einmal überhole ich einen Läufer, der etwas aus seinem Rucksack holt. Keiner, der hier eine Pause macht oder ein kurzes Nickerchen. Offiziell ist es auch verboten, außerhalb der Life Bases und von Rifugios zu schlafen. Auch nicht am Trail, es ist zu gefährlich, und es bringt die Sicherheitskontrolle durcheinander. Denn der GPS-Tracker, den jeder Läufer dabeihat, dient neben der Kontrolle auch zu unserer Sicherheit. Bewegt sich ein Läufer sehr lange Zeit nicht, also länger als 15 bis 30 Minuten, besteht das Risiko, dass er verletzt, vielleicht sogar gestürzt und bewusstlos ist. Die Organisation kann den Läufer dann anrufen, und sofern dieser Empfang hat, kann er Entwarnung geben. Um darüber überhaupt eine Kontrolle zu haben, ist es bei den meisten alpinen Ultratrail-Rennen verboten, sich neben oder gar abseits der Strecke irgendwo schlafen zu legen. Bei diesen Temperaturen und verschwitzt vom Laufen kann das zudem rasch zu Unterkühlung führen, was dem einen oder anderen aber ab einem gewissen Grad der Müdigkeit egal ist. Doch auf die Idee, draußen zu schlafen, kommt in dieser ersten kalten Nacht hier sicherlich keiner. Erst später, wenn man wirklich müde ist, setzt man sich auf einen Stein und schläft im Sitzen ein, gewollt oder ungewollt, egal, wie kalt es ist. Aktuell bin ich nicht müde, und rennen ist generell das beste Mittel gegen die Müdigkeit. Wenn man noch rennen kann. Denn nicht nur die läuferische Kondition und der Untergrund bestimmen das Tempo, sondern auch die Müdigkeit. Ein Teufelskreis.
Ich laufe die Straße entlang, hinein in das kleine Örtchen Planaval. Verena habe ich seit dem Col Crosaties nicht mehr gesehen. Es ist mir ganz recht, so kann ich mich ganz auf mich und mein Ziel konzentrieren.
Ein paar Hundert Meter vor der VP kommt mir Björn entgegen: „Wie läuft’s?“
„Abgesehen davon, dass mir ein Stock abgebrochen ist, ganz gut“, antworte ich und erzähle ihm, was passiert ist.
„Hauptsache, du hast dir nichts getan. Da vorne ist schon die VP.“
Ich weiß, dass das hier nur eine kleinere Verpflegungsstation im Freien ist, und habe schon überlegt, was ich machen werde. Ich habe Hunger, und ich brauche endlich was anderes als einen Riegel oder ein Gel, doch es ist recht kalt und das Zelt auf allen Seiten offen. Ich setze mich auf eine der Bierbänke, und Björn gibt mir eine warme Jacke. Eine Decke wäre jetzt nicht schlecht, denke ich und hole das Lachsbrötchen aus meinem Rucksack. Das Gewicht von La Thuile über die beiden Pässe bis hierher hätte ich mir sparen können. An den VPs darf Björn mir Essen oder Kleidung bringen. Du weißt nie, was du wann benötigst. Besser du hast mehr dabei als zu wenig. Nicht ärgern. Du hattest keine Zeit zu essen. Es war zu kalt für eine Pause. Es ist auch jetzt sehr kalt. Ich überlege, das Lachsbrötchen im Gehen zu essen, damit meine Beine nicht so auskühlen. Und um ein paar Meter zu machen, denn mit mehr als einem halben Riegel oder einem Gel im Bauch zu rennen, verträgt mein Magen meist nicht. Und schon überlege ich, ob ich das Brötchen überhaupt essen soll oder noch bis Valgrisenche durchhalte.
Als könne Björn meine Gedanken lesen, sagt er: „Du bist super in der Zeit. Bis zur Life Base sind es laut Plan sieben Kilometer und ein paar Hundert Höhenmeter. Du hast theoretisch bis sieben Uhr in der Früh Zeit. Jetzt ist es ist gerade mal eins.“
„So lange werde ich hoffentlich nicht brauchen“, antworte ich und rechne gedanklich meinen möglichen Vorsprung auf das Zeitlimit aus. Zeit zu essen habe ich. Wenn es nicht so arschkalt wäre.
„Was überlegst du?“, fragt Björn, der steht, weil er keinem Läufer den Platz wegnehmen möchte. Dabei sind wir fast die Einzigen.
„Ob ich das Brötchen hier essen soll. Meine Beine kühlen zu sehr aus.“
Björn zieht seine Jacke aus und legt sie mir über meine Beine.
„Mir ist warm genug“, sagt er.
Ich weiß, das war gelogen. Und ich weiß, er würde das nicht zugeben. Also nehme ich dankbar an. Fünf Minuten, er ist nicht verschwitzt, das wird er schon aushalten. Alles fürs Projekt.
„Hast du Jill gesehen?“, frage ich ihn, um sicherzugehen, dass sie mich nicht bereits überholt hat.
„Nach La Thuile nicht mehr.“
Nachdem ich erleichtert – ganz aufs Kauen konzentriert – mein Brötchen so zügig wie möglich gegessen habe, verabschiede ich mich von Björn, gebe ihm die Jacken und mache ich mich wieder auf den Weg. Beinahe hätte ich meine dick wattierte und wenig funktionelle Überziehjacke angelassen. Erst als ich den Rucksack aufsetzen wollte, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht hätte ich sie bis Valgrisenche anlassen sollen, überlege ich auf den ersten Metern. Zu spät. Egal. In der Winterjacke einen Trail laufen, das passt irgendwie nicht.
Die Strecke führt mal mäßig abfallend, überwiegend jedoch leicht ansteigend durch das Tal. Wie zu erwarten, mag das Brötchen in meinem Magen das Auf und Ab des Rennens nicht, so dass ich im zügigen Gehtempo bleibe. Alles gut. Du hast genug Zeit. Gönn deinen Beinen und deinem Bauch diese Erholung.
Um 2:31 Uhr nachts erreiche ich die erste Life Base in Valgrisenche und zugleich das zweite Zeitlimit. Viereinhalb Stunden auf Time-In und zwei weitere bis Time-Out. Diese zwei Stunden zwischen der Zeitmessung beim Ankommen und der beim Verlassen der Life Base sollen sicherstellen, dass man grundsätzlich Zeit hat zu schlafen, sich zu erholen, aufzuwärmen usw. Selbstredend kein Muss. Ich bin ziemlich sicher, dass Javier Domínguez, als er 2017 den bis 2021 gültigen Rekord aufstellte, nicht geschlafen hat. Er war jedoch auch nach 67 Stunden, 52 Minuten und 15 Sekunden im Ziel. Knapp drei Tage und drei volle Nächte ohne Schlaf. Eine krasse Leistung, und was den Schlafentzug betrifft, eine extreme Belastung. Ich weiß, wovon ich rede. Denn bei meinem ersten Rennen über 360 Kilometer, dem SwissPeaks 360, habe ich unfreiwillig getestet, wie sich das anfühlt. Ich hatte mich bei Kilometer 54, kurz nach der ersten Life Base verlaufen. Zusammen mit zwei anderen Läufern folgte ich den roten Raiffeisen-Flatterbändchen, die zusammen mit den roten SwissPeaks-Fähnchen im Boden seit Beginn unseren Weg markierten. Fähnchen fehlten über den Streckenverlauf immer wieder einmal. So mancher Förster ist kein Freund von Ultratrails, und manchmal nehmen auch Wanderer die netten kleinen Dinger mit. Oder vielleicht sind dem Markierer die Fähnchen ausgegangen. Ein Blick auf meine Sportuhr zeigte, dass wir auf der Strecke waren, und so machte ich mir keine weiteren Gedanken. Ausgeschrieben war die Saflischhöhe, und im Streckenprofil hatte ich gelesen, dass wir als Nächstes über den Saflischpass laufen. Ich war gut in der Zeit und gönnte mir zur Energieaufnahme eine kurze Pause. Als ich wieder startete, waren die zwei anderen Läufer schon gar nicht mehr zu sehen. Ich folgte weiterhin schnurstracks den roten Raiffeisen-Bändchen. Bis zum Gipfel. Doch am Gipfel, am Gipfel war nichts. Keine Flatterbändchen, kein Schild, keine Fähnchen: nichts. Also zurück zur letzten Markierung. Ich suchte nach einer Abzweigung, aber da war keine. Ich lief wieder auf den Gipfel und suchte nochmal nach einer Markierung. Diesen Zustand nennt man in der Psychologie bewusste Inkompetenz. Als ich meine Pause machte, befand ich mich noch einer unbewussten Inkompetenz. Der Zustand, in dem man nicht weiß, dass man etwas nicht weiß. Deutlich angenehmer, wenn auch keineswegs zielführender. Meiner Laufuhr nach befand ich mich immer noch auf der richtigen Route. Ein Trugschluss, der, wie sich hinterher herausstellte, der XXL-Strecke geschuldet war. Bei 360 Kilometern und über 25.000 Höhenmetern reduzierte die Fortrex von Garmin automatisch beziehungsweise notgedrungen die gespeicherten Wegpunkte, was eine sehr hohe Ungenauigkeit zur Folge hatte. In meiner bewussten Inkompetenz angekommen, wählte ich die Notrufnummer des Veranstalters und hörte die Stimme eines Anrufbeantworters. Nach rund zehn Minuten, in denen ich nochmal alle Möglichkeiten sondierte, läutete meine Uhr. Eine einfache und kostengünstige Smartwatch, die nur zum Telefonieren diente, denn ich wollte dieses Rennen so offline wie möglich, also ohne WhatsApp, Facebook und Co. bestreiten. Zur doppelten Absicherung hatte ich noch ein sehr kleines, uraltes Nokia-Handy dabei, für das ich mir extra eine Schweizer Sim-Karte besorgt hatte, was gar nicht so einfach gewesen war. Der Mann, der mich zurückrief, sprach Englisch und war sehr freundlich, doch leider kannte er die Strecke nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich aufgeregt und genervt zurücklief, kurz umknickte, mich irgendwo verfranzte und auf einmal gar nicht mehr wusste, wo ich war, rief mich Julien, der Renndirektor und Organisator, an. Die Hiobsbotschaft: Mein GPS-Tracker funktioniere nicht, so wie der von derzeit geschätzten 50 Prozent der Teilnehmer. Der Tracker, den jeder Läufer von der SwissPeaks-Organisation für die 360 Kilometer gestellt bekam – für die Zeitmessung an den vorgeschriebenen Checkpoints und damit die Rennleitung orten kann, wo sich ein Läufer gerade befindet und ob er sich noch vom Fleck bewegt oder nicht. Na wunderbar, dachte ich. Die zweite Hiobsbotschaft: Ich sei den Markierungen eines Mountainbike-Rennens gefolgt, das hier parallel zum SwissPeaks ausgetragen wurde. Und die dritte? Gab es nicht, doch das reichte. Julien war in Action, wegen der nicht funktionierenden GPS-Tracker. Der SwissPeaks 360 fand als großes Ereignis 2018 das erste Mal statt, und in wenigen Tagen würde der kürzere Ultra über die 170-Kilometer-Strecke starten. Verständlich, dass es ihm wichtiger war, sein Rennen zu retten und neue Tracker zu organisieren, als sich um ein einzelnes, verlorenes Schaf zu kümmern, das offensichtlich nicht in Lebensgefahr schwebte. Vielleicht erschwerte zudem die Sprachbarriere eine erfolgreiche Kommunikation. Julien sprach etwas besser Deutsch als ich Französisch, dennoch schaffte ich es nicht, ihm begreiflich zu machen, dass der Weg, den er mir immer wieder, immer lauter und immer aufgebrachter beschrieb, hier nicht existierte. Der gute Wille war da, auf beiden Seiten, doch hier war einfach der Wurm drin. Insgesamt verlor ich fünf Stunden, bis mich Björn, den ich aus einem wichtigen Meeting holte, via Google Earth querfeldein wieder auf die richtige Strecke lotste – auf den Weg, der einige Kilometer unten entlangführte, bevor es auf den Saflischpass ging. Mein Mann war es auch, damals waren wir allerdings noch nicht verheiratet, der vor mir daran glaubte, dass ich es noch schaffen könne. Den ich zwei Tage und drei durchgelaufene Nächte später anrief, 200 Höhenmeter unterhalb der großen Staumauer, der Grand Dixence, der 200-Kilometer-Marke des Rennens. Ich hatte mir ein Ultimatum gesetzt. Sollte ich es in der vierten Nacht wieder nicht schaffen, zu schlafen, würde ich aufhören. Es war sowieso ein Wunder, wie ich es über die letzte Nacht geschafft hatte. Aber die Strecke war in diesem Teilabschnitt technisch relativ einfach, und die Begeisterung darüber, noch im Rennen zu sein, hielt mich ebenso wach wie die eiskalten nächtlichen Temperaturen. Immer wieder berührte ich die roten SwissPeaks-Fähnchen. Nicht aus Angst, mich nochmal verlaufen zu haben, sondern weil ich nicht mehr sicher war, ob ich das wirklich erlebte oder längst irgendwo abgestürzt lag und träumte. Der Weg nach der Grand Dixence führt über zwei Gipfel mit knapp 3000 Metern. La Grande Dessert, eine technische Strecke, die kilometerlang oberhalb von 2900 Meter Höhe und unter anderem über große Steinbrocken führt. Von der anderen Seite kommend sah ich die beeindruckende Staumauer bereits gegen 15 Uhr und mich schon auf einem der Schlafplätze liegen. Doch immer weiter führte der Trail weg von der Staumauer, um sich dann in einem verblockten und zugewachsenen schmalen Pfad abwärtszuschlängeln. Ich rannte, als wäre ich auf einem 20-Kilometer-Trainingslauf unterwegs, überrascht, was meine Beine leisteten. Die Straße entlang, ein Blick auf die Uhr, ein Passant.