Читать книгу Trail and Error - Annabel Müller - Страница 16
Die Tribute und ein Gewitter am Pass
ОглавлениеEs ist weniger der Gedanke an den Unfall, der mich zittern lässt. Schnell habe ich ihn verdrängt. Beim Autofahren denke ich auch nicht die ganze Zeit, dass etwas passieren könnte. Dass ich selbst oder – viel schlimmer – andere ums Leben kommen könnten. Und als einmal im Regen das elektronische Stabilitätsmanagement (ESP) ausfiel, geriet ich auch nicht in Panik, sondern machte mir bewusst, dass ich noch aufmerksamer fahren musste als sonst. Du rockst das auch ohne Stöcke. Es ist die Kälte. Ich zittere vor Kälte. Vielleicht ist irgendwo ein Fluss in der Nähe. Es ist zu dunkel, um das zu erkennen, und hören kann ich auch keinen. Ich bin versucht, meine ganz warme Jacke anzuziehen. Meine mit Merinowolle gefütterte Alpinjacke hatte ich ganz unten in den Rucksack gepackt – falls es richtig kalt ist und ich mich nicht bewegen kann. Du kannst dich bewegen, und gleich geht es wieder bergauf. Dann wird dir warm, mahnt mich die Ehrgeizige, nicht unnötig Zeit zu verschwenden. Sie behält recht. Im Anstieg ist mir schnell wieder warm genug. Nur meine Beine wollten nicht so recht. Du hast zu lange nichts gegessen. Wieder einmal. Zur schnellen Energieaufnahme hole ich im Gehen ein Gel aus einer der vorderen Taschen und drücke mir die Zuckerpampe zur Hälfte in den Mund, trinke zwei, drei Schluck, dann die andere Hälfte. Ich habe schon viele Gels getestet und welche gefunden, die ich gut vertrage und runterkriege – von Genuss weit entfernt.
„Hu, hu“, höre ich eine Stimme, und im gleichen Moment überholt mich Verena.
Wo kommt die denn her?, überlege ich verwundert. Sicher war sie austreten, also auf dem großen Natur-Klo, irgendwo abseits des Weges. Auf die Art und Weise habe ich beim Hochkönigman eine Konkurrentin auf dem Weg zum Starzerhaus überholt.
„Na, läuft’s bei dir?“
„Läuft“, antworte ich und beiße in einen Riegel, um nicht gleich wieder in das nächste Energieloch zu fallen. Energiemangel, insbesondere Kohlehydratmangel beeinflusst nicht nur die Leistungsfähigkeit des Körpers, sondern auch die Konzentration. Das kann ich oben am Crosaties nicht gebrauchen. „Ich dachte, du wärst vor mir.“
„Musste mal wohin.“
„Habe ich mir gedacht“, antworte ich und muss grinsen, weil ich an die Aktion vom Hochkönigman denken muss.
„Was ist denn so lustig daran? Es gab keine Tür, die ich vergessen konnte, zuzumachen. Außerdem sage ich es dir nur ungern, aber mir würde das auch niemals passieren.“
Na klar, denke ich ohne große Lust, diese Diskussion fortzusetzen. Markus sprach auch immer so. Schlüssel verloren, das könnte ihm nie passieren. Tatsächlich passierten ihm solche Dinge nicht. So was passierte in unserer Beziehung immer nur mir.
Schweigend marschieren wir in der auseinandergezogenen und dennoch gut sichtbaren Kette aus Stirnlampen den Pass hinauf. Mit dem einen Stock, den ich aufgrund der müden Beine wieder zum Einsatz brachte, arbeite ich mich wie auf einem Stand-Up-Paddle weiter nach oben, indem ich den Stock in beiden Händen halte und ihn abwechselnd links und rechts in den teils steinigen, teils sandigen Boden tauche. In einem Buch des Sportpsychologen und Extremläufers Michele Ufer habe ich gelesen, es sei dienlich, seine Fantasie zu benutzen und spontan Situationen zu visualisieren, die uns helfen.12 Bei mir ist das zum Beispiel der Gedanke, ich bewege mich auf einem Transportband oder kann mich mit einem unsichtbaren Seil an den Bäumen links und rechts hochziehen. Mir vorzustellen, ich sei jemand ganz anderes, an einem geheimnisvollen und abenteuerlichen Ort, besitze magische Fähigkeiten und manchmal auch ein unsichtbares Team, funktioniert auch sehr gut. Ich konnte es beim Spielen mit meinem Neffen super trainieren. Wobei er mir beim Erfinden der Fantasien immer mindestens eine Nasenlänge voraus ist. Filme sind ebenfalls eine gute Anregung dafür. Es gab eine Phase, da habe ich mir meine braunen Haare erst hinten, dann seitlich zu einem Zopf geflochten und leise den Text von „The Hanging Tree“, dem Song aus „The Hunger Games“, zu deutsch „Die Tribute von Panem“, in Ultratrail-Nächten vor mich hin gesungen:
„Are you, are you
Coming to the tree
Where I told you to run
So we’d both be free
Strange things did happen here
No stranger would it be
If we met at midnight
In the hanging tree“13
Irgendein Ohrwurm verfolgt einen beim Ultratrail-Laufen fast immer. In meiner allerersten Nacht auf dem Trail summte ich urplötzlich die Melodie von „Guten Abend, gute Nacht“. Ich weiß bis heute nicht, wie ich damals darauf kam. „Morgen früh, so Gott will, wirst du wieder geweckt“ war der unpassendste Text für meine erste schlaflose Nacht auf dem Trail. Dennoch begleitete mich dieses Lied ab der Partnachalm über den Längenfelder zur Station Alpsitzbahn bis kurz vor das Ziel in Grainau. Und bei einem anderen Rennen ließ mich „Ja, wir san mit’m Radl da“ nicht mehr los. Wenn also schon einen Ohrwurm, dachte ich, dann einen selbst gewählten. So lernte ich die Strophen von „The Hanging Tree“ auswendig. Wenn ich meine Laufstöcke hinten im Laufrucksack hatte, sah ich wirklich ein bisschen aus wie die weibliche Hauptfigur, Katniss Everdeen. Mein Mann meinte kurz vor dem Start des Madeira Island Ultra Trails: „Mögen die Spiele beginnen“, und spielte damit auf meinen vorübergehenden Spleen an. Es mag etwas verrückt klingen, doch es half mir, mir in anstrengenden Momenten am Trail vorzustellen, ich sei Katniss und müsse gewinnen, um die Menschen meines Bezirks vor Schlimmeren zu bewahren. Im Film müssen die zwölf unfreiwillig Auserwählten aus Panem – einer je Bezirk – gegeneinander kämpfen. Die Spiele enden erst, wenn nur noch einer von ihnen am Leben ist. Das Ziel, dass ich als Tribut meines Distrikts erreichen musste, war der Zieleinlauf. Den Kampf mit den anderen Tributen ersetzte ich gegen den Kampf mit den Naturgewalten und meinem inneren Schweinehund. Im Film müssen die Tribute zudem Sponsoren für sich gewinnen, die sie später im Kampf mit kleinen Hilfsaktionen unterstützen. Beim SwissPeaks 360 lief bereits beim Start einiges anders, als mir lieb war. Der Gedanke, ich sei ein Tribut aus Panem und müsse die Sponsoren für mich gewinnen, half mir heldenhaft, mit den ungewünschten Ereignissen umzugehen, statt zu jammern oder zu meckern. Ich nahm diese Geschichte mit auf den Trail, nachdem ich den zweiten Teil der Trilogie auf DVD sah und mich erinnerte, welche enorme Reserve ich im Eisregen am Pass und in anderen Gefahrensituationen mobilisieren konnte. Die Fantasie der Hungerspiele gab mir die Kraft, mehr zu ertragen und noch härter zu kämpfen als sonst. In einem Glückskeks, den ich vor vielen Jahren irgendwo bekommen und dessen Inhalt ich bis heute aufgehoben habe, steht: „Du bist eine geborene Kämpferin.“ Was mich viele Jahre mit Stolz erfüllte, nervte mich nach und nach. Durch eine Entwicklung, die mit zwei sich streitenden Kindern in der Bahn begann, stellte ich fest, dass ich gar nicht kämpfen will. Mein Leben und auch das Laufen sollten vielmehr von Leichtigkeit geprägt sein. Und so verschwand Katniss wieder aus meinem Ultratrail-Leben.
Wie so oft bei den Anstiegen auf die hohen Pässe gibt es auf dem Trail hinauf zum Col Crosaties keine Bäume, an denen ich mich imaginär hochziehen kann. Und meine Vorstellung, auf einem Stand-Up-Paddle dahinzugleiten, sorgt nur bedingt für größere Leichtigkeit. Ich ertappe mich dabei, die Melodie von „The Hanging Tree“ zu summen, als ich höre, wie Verena mit einstimmt.
„‚Strange things did happen here, no stranger would it be, if we at met midnight in the hanging tree.‘ Ich liebe dieses Lied. Nur die Leidensfähigen, die Furchtlosen, die Stärksten kommen ins Ziel, das gefällt mir. Je härter der Kampf, umso größer der Sieg“, tönt Verena und beißt energisch in einen Riegel.
Meinem Eindruck nach ist sie die ganze Zeit über am Futtern.
„Ich denke, Katniss überlebt, weil sie mutig und clever ist“, entgegne ich und füge hinzu: „Der Kampf darf von mir aus gern weniger hart sein. Auch wenn es dann mehr Sieger gibt. Ich gönne es jedem. Ich möchte schließlich ankommen. Und möglichst viel Spaß haben bis dorthin.“
„Den haben wir doch“, sagt Verena, und nachdem sie den Bissen runtergeschluckt hat: „Wie ging das eigentlich im Gewitter am Pass weiter, nachdem es nicht der Ritter auf dem weißen Ross war, der dich gerettet hat?“
Nur allzu gern erzähle ich die Geschichte. Es ist mein real gewordenes Liebesmärchen, mein „Pretty Woman“, auch wenn sich meine Vergangenheit gänzlich von der Filmfigur unterscheidet. Mein „Cinderella“, auch wenn ich weder eine Stiefmutter habe noch einen Schuh verlor. Beim Erzählen vergeht die Zeit viel schneller, und bisher besteht noch keine Absturzgefahr, also lege ich los.
„Wo war ich denn stehen geblieben?“
„Du gar nicht. Ich war stehen geblieben, um meine Stirnlampe zu suchen, und du bist schon mal weiter“, antwortete Verena mit vorwurfsvollem Unterton.
„Ich dachte, du holst mich gleich wieder ein“, entgegne ich und überlege, ob ich auch gestürzt wäre, wenn ich auf Verena gewartet hätte. „Das Leben ist keine Generalprobe“ steht auf einer der vielen Spruchkarten, die ich besitze. Hätte und könnte spielen keine Rolle. Jetzt ist es so, und wer weiß, wofür es gut ist. Wie damals im Gewitter.
Verena: „Das Gewitter oben am Pass. Es kam immer näher und war schon lebensgefährlich nah.“
Ich: „Ach ja, genau. Ich hielt wieder nach einer Schutzmöglichkeit Ausschau. Diesmal sah ich eine. Nicht weit vom Weg weg standen bereits zwei Läufer unter einem Türvorsprung irgendeines Gebäudes. Ich lief zu ihnen hinüber. Sie machten mir Platz. Obwohl das Gewitter wirklich beängstigend war, fühlten wir uns sicher. Der steinerne Vorsprung schützte uns vor dem Wind und dem Regen, und nicht allein zu sein, gab uns ein Gefühl von Sicherheit. Ungeachtet, dass die verschlossene Tür hinter uns aus Metall war, warf ich beim nächsten lauten Donner meine Stöcke weg, denn ich hatte im Kopf, dass Metall den Blitz anzieht. Die beiden anderen taten es mir gleich. Smartphone besaß ich damals keines. Ich fühlte mich trotz des Gewitters, vor dem ich Angst hatte, unter unserem Vorsprung sicher genug, um ein paar Salzmandeln aus dem Rucksack zu kramen.“
„Verstehe ich“, meint Verena, „man ist es bei einem Ultratrail einfach gewöhnt, jede Pause zur Energieaufnahme zu nutzen.“
„Ich erfuhr, dass der eine Läufer Schweizer war und der andere Deutsche. Ich war schon länger wieder Single, als mir lieb war, doch in mein Beuteschema passten beide nicht. Schon allein, weil meine letzten beiden Lebenspartner deutlich jünger waren als ich. Die beiden Läufer hatten ganz sicher schon eine Vier davor. Auch der Asiate, der beim nächsten lauten Donnergrollen einen großen Satz zu uns unter den Vorsprung machte, war nicht mein Typ. Es war der, der beim ersten Gewitter einfach gemütlich weiterspaziert war, als ob nichts gewesen wäre. Ein Verhalten, das von richtig weit entfernt ist. Ich dachte: Der hat Nerven und keine Ahnung, wie man sich im Gewitter verhält. Ich hatte jedoch selbst keine große Ahnung. Sonst hätte ich mich nicht flach auf den Boden gelegt. Doch das war mir ebenso wenig bewusst wie die große Gefahr, in der wir uns gerade befanden. Irgendwie sahen alle schon ein wenig durch den Wind aus. Ich sicher auch, denke ich, immerhin hatten wir alle schon eine Nacht auf dem Trail hinter uns. Kein Traummann dabei, doch nach Anbandeln war mir mitten in dem heftigen Gewitter auch nicht zumute. Ich war einfach nur unglaublich dankbar, gerade nicht allein zu sein. Ich fragte in die Runde, ob jemand ein paar Salzmandeln möchte, als es extrem laut krachte. Obwohl wir zeitgleich hätten wissen können, dass uns der Blitz nicht getroffen hatte, erschraken wir alle und fühlten uns auf einmal nicht mehr so gut geschützt. Was ich erst sehr viel später erfahren habe: Die Metalltür, unter deren Vorsprung wir uns unterstellten, gehörte ziemlich sicher zu einem Wasserreservoir. Sowohl Wasser als auch Metall ziehen den Blitz an. Zudem befanden wir uns am höchsten Punkt der Umgebung. Und der Vorsprung hätte niemals ausgereicht, um uns vor einem Blitzeinschlag zu bewahren. Der Strom wäre über den Boden in unsere Körper geleitet worden. Wir hatten ein gutes Gefühl, weil wir nicht allein waren. Doch um uns in dieser Situation bestmöglich zu schützen, hätten wir uns nach den Verhaltensregeln bei Gewittern weit voneinander entfernt auf freiem Feld in die Hocke begeben müssen, die Füße eng zusammen und so ausharren, bis die Abstände zwischen Blitz und Donner wieder über 20 Sekunden betragen.14 Wir alle haben da oben am Pass intuitiv falsch reagiert. Wir fühlten uns unter dem Vorsprung sicher, weil wir vor Wind und Regen geschützt zusammenstanden. Was das eigentliche Risiko, den Blitz, betraf, haben wir uns damit in größte Gefahr gebracht. Intuition folgt Faustregeln, und manchmal passt die Regel nicht zur Situation. Vor allem wenn wir uns mit etwas nicht wirklich gut auskennen, kann Intuition sehr gefährlich sein.“ „Wow, krass. Aber euch ist nichts passiert?“
„Nein, wir hatten einfach Glück. Und ich im doppelten Sinn“, füge ich hinzu.
„Stimmt, ich vermisse die Lovestory.“
Von der richtigen Lovestory und vor allem dem Happy End war ich am Swiss Irontrail noch weit entfernt. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
„Lass mich das später erzählen“, vertröste ich Verena, denn hier beginnt die Seilversicherung.
Ein Zeichen, dass wir uns nun auf jeden Schritt und Griff konzentrieren müssen.
12 Michele Ufer (2016), Mentaltraining für Läufer: Weil Laufen Kopfsache ist, Aachen, S. 135.
13 James Newton Howard/Jennifer Lawrence: The Hanging Tree, www.youtube.com/watch?v=F3hTW9e20d8 (22.1.2022).
14 Entfernung von Gewittern berechnen, www.bergfreunde.de/entfernung-gewitterrechner (22.1.2022).