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La Barrière

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Den Höhenmetern nach müsste die Berghütte bald zu sehen sein. Schnee liegt hier keiner, und der Wettergott ist uns bisher wohlgesonnen. Keine der vielen dunklen Wolken hat sich über uns entleert, auch wenn es oft so aussieht, als ob es gleich regnen würde. Wahrscheinlich habe ich deshalb meine dünne blaue Regenjacke durchgehend an, seit sie mir beim Anstieg zum ersten Pass gute Dienste erwiesen hat. Bisher ist mir das gar nicht aufgefallen. Die Sache mit Jill und die Unterhaltung mit Verena haben mich abgelenkt. Zu warm war mir bis jetzt offenbar nicht, das hätte ich gemerkt. Zu warm ist mir auch jetzt nicht, im Gegenteil. Als der Trail um den Berg führt und das ersehnte nächste Ziel, das Rifugio Deffeyes, vor unseren Augen auftaucht, friere ich in meiner winddichten Regenjacke, obwohl ich auf dem flacher werdenden Trail und motiviert vom Anblick der VP zügig hinter Verena herrenne. Wieso ist mir so kalt? Hätte ich auf meiner Laufuhr zur Temperaturanzeige gewechselt, wäre ich nicht verwundert gewesen. Das traue ich mich aber nicht. Björn hatte mir seine Garmin Fenix 5 geliehen. Es überforderte anfänglich sogar die Experten von Garmin, die 360 Kilometer vom TOR als einen Track auf der Uhr hochzuladen. Mit meiner deutlich älteren Garmin, der Fenix 2, keine Chance. Die Fortrex, ein Jagdmodell von Garmin, hat schon im Vorjahr, beim SwissPeaks 360, bewiesen, dass sie die falsche Uhr für XXL-Ultras ist. Irgendwie haben sie es dann letztendlich hinbekommen. Dankbar, dass das GPS-Tracking funktioniert, möchte ich kein unnötiges Risiko eingehen. Dass es kalt ist, weiß ich auch so. Die Sonne schafft es nicht durch die dichte und tiefhängende Wolkendecke, und bald würde sie ganz verschwinden. Die gefühlt immer noch hohe Luftfeuchtigkeit und die bereits jetzt sehr niedrigen Temperaturen kündigen eine kalte Nacht an. Ob es nochmal schneit? Hauptsache, kein Regen. Regen bei diesen Temperaturen ist wirklich unangenehm. Vor allem nachts, wenn du weißt, dass die Feuchtigkeit unter deiner Regenkleidung bis zum Morgen nicht trocknet. Und selbst wenn die Kleidung dichthält, bildet sich von innen Feuchtigkeit. Schweiß, der bei hoher Luftfeuchtigkeit und Regen nicht mehr entweicht.

Die nächste Indoor-VP ist zugleich die erste Life Base in Valgrisenche. Zwischen Deffeyes und der Life Base liegen zwei knapp 3000 Meter hohe Pässe und weitere 25 Kilometer. Doch eins nach dem anderen. Das weiße Zeltdach etwas unterhalb des Rifugio, so nennt man hier die Berggasthäuser, lässt vermuten, dass die Verpflegungsstation draußen ist. Ich bin verschwitzt, es ist windig und saukalt. Ich friere. Sicher auch, weil ich zu lange nichts gegessen habe. Ich sehe, wie Läufer aus dem Steinhaus mit seinen einladend gemütlichen Holzfensterläden kommen, und bin im selben Moment unendlich erleichtert. Beim SwissPeaks 360 wollte ich in der dritten Nacht auf etwa derselben Höhe in das Haus hinter der VP, um mich aufzuwärmen. Es war zwischen drei und vier Uhr morgens, die Strecke führte oberhalb eines Stausees über zwei Pässe. Fast das gleiche Profil wie das, das uns beim TOR nach dem Rifugio Deffeyes erwartet. Zwischen Sorebois (2871 m) und dem Col Torrent (2899 m) lag die VP wie auch hier im Freien. Nur dass das Haus dahinter kein Gasthof, sondern ein Stall war. Was mir in diesem Moment ziemlich egal war, ich hätte mich überall hingesetzt, Hauptsache warm. Na gut, nicht überall, aber fast. Kurz nachdem ich auf dem Weg zum Gebäude in eine eiskalte Pfütze getappt war, rief mir ein Helfer zu: „In den Stall kannst nicht, die Tiere schlafen.“

Schlafen war mein zweiter sehnlichster Wunsch – neben einem warmen Platz. Vielleicht hätten die Tiere gar nichts dagegen, wenn ich mich einfach zu ihnen lege. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt beim SwissPeaks 360, meinem ersten Versuch über die 360 Kilometer, seit dem Start drei Tage zuvor nicht geschlafen. Heute, beim TOR, bin ich gerade mal sieben Stunden unterwegs, und Müdigkeit ist kein Thema, die Kälte schon.

„Wo willst du hin?“, ruft Verena.

„Rein, mich aufwärmen.“

Sie folgt mir nach drinnen. Es ist lange nicht so voll wie in La Thuile. Die Sitzplätze sind dennoch fast alle belegt. Es ist 19 Uhr, und wie es aussieht, gönnen sich einige Läufer ein warmes Abendessen. Ich sehe kein Buffet, gehe zur Theke und bestelle einen Tee.

„Zwei Euro, bitte“, sagt der Mann auf der anderen Seite des Tresens.

Ich habe gesehen, wie der Läufer vor mir seinen Kuchen bezahlt hat, und bereits den Fünfeuroschein herausgekramt, den ich griffbereit vorne im Rucksack hatte.

„Ich geh raus zur VP. Wofür habe ich 750 Euro Startgeld bezahlt?“, motzt Verena.

Ich überlege, ob ich sie auf einen Tee oder Kaffee einladen soll, doch sie ist bereits auf dem Weg zur Tür. Ich setze mich auf einen der freien Plätze und ziehe die nasse Jacke aus. Kein Wunder, dass mir kalt ist. Ich trage zwar zwei meiner dünnen Funktionsshirts und habe die Armlinge so weit hochgezogen, dass sich unter der Regenjacke keine Kältebrücke bildet, wärmende Schicht habe ich jedoch keine an. Dann war es wohl bisher ausreichend. Du hättest es gemerkt, wenn es zu kalt ist. Die Späße mit Verena und der Ehrgeiz, an ihr dranzubleiben hin oder her, beruhige ich die besorgte Stimme. Du darfst dich hier nicht erkälten, mahnt zugleich die Vorsichtige. Neben der bereits erwähnten Unterkühlung ist das Risiko, während der fünf bis sechs Tage, die man beim TOR läuft, krank zu werden, nicht zu unterschätzen. Eine Erkältung würde zwar nicht das Leben, aber den Zieleinlauf kosten. Und du musst dringend was essen. Dass mir so kalt gewesen ist, ist nicht allein am Wind auf der Anhöhe gelegen. Ich habe zu lange zu wenig gegessen und benötige etwas, was mir schnell Energie gibt. Ich entscheide mich gegen das Lachsbrötchen, für Energiegel und Riegel, in besagter Reihenfolge. Nachdem ich meinen Tee ausgetrunken und ein warmes Shirt angezogen habe, packe ich meinen Rucksack und verlasse das Gasthaus. Es hat gutgetan, sich aufzuwärmen, doch zu viel Zeit möchte ich nicht verlieren. Auf keinen Fall möchte ich bei diesem Rennen das Zeitlimit im Nacken haben.

Beim Südtirol Ultra Skyrace hätte ich von meiner Kondition her schneller laufen können, wollte aber mit meinem Mann, der in diesem Jahr deutlich weniger trainiert hatte, zusammenlaufen. Für mich war es „nur“ ein Trainingslauf für den TOR. Ich dachte, das ginge sich zeitlich aus. Ich hatte mich verkalkuliert. Bis 2017 lag es aber nicht am Wollen, sondern am Können, dass ich meist zu den Langsamsten gehörte und oftmals gerade noch die Cut-Off schaffte. Beim Ultra-Trail du Mont-Blanc, der für sein sportliches und strenges Zeitlimit bekannt ist, rannte ich bei Kilometer 96 nach einem wirklich schnellen Downhill im Vollsprint auf die VP zu. Eine der Standbetreuerinnen stand im Eingang und zählte bereits die letzten zehn Sekunden runter, als ich an ihr vorbei und durch das Zelt hechtete. „La Barrière“ nennen die Franzosen das Zeitlimit beim UTMB, dabei zählt die Zeit, wenn man die VP verlässt, weshalb ich meinen Sprint durch das leere Zelt fortsetzte. Keine Zeit, um meine Flask aufzufüllen. Zum Glück hatte mein Mann, der das gleiche Rennen bestritt und knapp zwei Minuten vor mir dort war, einen guten halben Liter mehr mitgenommen. Wir liefen große Teile dieses für jeden von uns so wichtigen Rennens zusammen und waren wie beim Swiss Irontrail, dem Lauf, bei dem wir uns kennenlernten, fast gleich schnell beziehungsweise gleich langsam. An jeder Verpflegungsstation, die wir erreichten, hörten wir über den Lautsprecher bereits den Countdown für die letzten zehn Minuten. Ich hatte drei Jahre auf diesen Startplatz gewartet. Drei Jahre habe ich immer wieder ausreichend UTMB-Punkte (heute ITRA-Punkte) für die Qualifikation gesammelt. Nachdem ich zwei Jahre hintereinander Pech bei der Verlosung der Startplätze hatte, war ich, wie es das Reglement vorsieht, im dritten Jahr gesetzt. Björn hatte sich bereits zwei Jahre zuvor, als wir uns noch gar nicht kannten, am großen Ziel UTMB versucht und scheiterte dann zwischen der Life Base in Courmayeur und dem Rifugio Bertone. Besser gesagt, er gab auf, nachdem ihm die Besenläufer sogar nach der Life Base keine Pause gönnten. Bei Straßenrennen ist es der Besenwagen, der die Langsamsten einsammelt, bei Geländerennen nennt man die Schlussläufer Besenläufer. Denn laufen muss man im Gelände immer noch selbst, und das meist auch, wenn keine Aussicht mehr auf Erfolg besteht. Denn solange man kein Fall für die Bergrettung ist, muss man bis zur nächsten oder zurück zur letzten Station laufen, so steht es fast immer im Reglement. Und nicht an jeder Station gibt es eine Rückfahrmöglichkeit. 2016 hatten Björn und ich beide einen Startplatz. Zufall oder Schicksal, auf alle Fälle ein Privileg und eine Gelegenheit, die so schnell nicht wiederkommen würde. Das war es sicherlich auch, was uns antrieb, nicht aufzugeben, obwohl wir bei jeder Zeitkontrolle ein unfreiwilliges Ende befürchten mussten. Wir liefen bei dem Rennen beide so schnell wir konnten und machten so wenig und so kurze Pausen wie nötig. Auf den letzten Berg des UTMB, den Tête aux Vents, quälten wir uns in der Mittagshitze in einer Schlange aus Läufern hinauf. Es war extrem heiß, wir ließen den Abstand zum Vordermann nicht abreißen, hatten aber auch keinerlei Ehrgeiz, schneller zu sein als der Rest. Endlich oben, war der Abstieg zunächst sehr verblockt und mit müden Beinen kaum laufbar. Als wir endlich die letzte VP in der Ferne sahen, hatten wir noch 20 Minuten. Uns war klar, dass das knapp werden würde. Denn auch wenn alle, die noch hinter uns waren – und das waren nicht wenige –, den Berg hinauf und nach Chamonix, dem Zielort des UTMB, hinuntermussten, gab es auch an der allerletzten kleinen Station in La Flégère noch ein Zeitlimit. La Barrière beim UTMB kennt kein Erbarmen. Björn und ich rannten, so schnell wir konnten. Wir überholten einige Läufer auf dem schmalen Trail, tauschten kurze Blicke mit ihnen aus. Die Gesichter zeigten, dass auch ihnen bewusst war, wie weit es noch war und wie wenig Zeit uns blieb. Doch viele konnten einfach nicht mehr schneller. Ihnen fehlte die Energie oder sie waren verletzt oder beides. So sehr ich dieses Rennen erfolgreich beenden wollte, so sehr hasste ich den Wirbel um La Barrière. Ich dachte an die vielen Trailrunner, die sich hinter uns den Tête aux Vents hocharbeiteten, und an die Gesichter derer, die wir überholt hatten, und legte ein ordentliches Tempo hin. Die Wut auf dieses dumme Zeitlimit trieb mich an. Björn schaute immer wieder auf die Uhr. Wir rannten auch noch den allerletzten kleinen Anstieg zum Verpflegungszelt hinauf und hatten dann in La Flégère erstaunlicherweise noch ganze acht Minuten auf das Zeitlimit. Der letzte Downhill runter nach Courmayeur wäre für den einen oder anderen, der bergauf nicht mehr schnell war, ein Leichtes gewesen. Auch Björn und ich machten noch Zeit gut und liefen um 15:58 Uhr, 32 Minuten vor Zielschluss, in Courmayeur durch die Massen an Zuschauern, die bereits zur Preisverleihung gekommen waren. Ein unbeschreibliches Gefühl, das mir heute noch Gänsehaut bereitet.

Trail and Error

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