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Optimistische Paranoia
ОглавлениеDer Gedanke an den UTMB spornt mich an, schneller zu laufen. Das erste Stück hinter dem Rifugio Deffeyes ist relativ flach, obgleich der Untergrund nicht gerade eben ist. Leider lässt die Aussicht zu wünschen übrig. Schade, dass man die umliegenden Berge nicht sieht. Keine Abendsonne, die den Col Haut Pas im rötlich glänzenden Licht erstrahlen lässt, wie auf Björns Foto von 2018. Jammern verboten, Annabel. Und überhaupt, es läuft doch super. Weiter so. Das da vorne muss Verena sein. Sie sieht zumindest so aus. Komm, die kriegst du, motiviere ich mich, nicht nachzulassen. Ich überhole ein paar Läufer, die sehr gemütlich unterwegs sind. In der Mitte des Anstiegs zur Passhöhe hole ich Verena ein. Ohne etwas zu sagen, klemme ich mich hinter sie. Sie läuft ein gutes Tempo. Es tut gut, sich ein bisschen ziehen zu lassen.
„Na, hast du dich aufgewärmt?“, fragt sie mit leicht spöttischem Unterton.
„Das habe ich und bin dennoch schon hier“, kontere ich ein klein wenig triumphierend.
„Wenn das Wetter nicht so bescheiden wäre, könnten wir am Pass einen schönen Sonnenuntergang erleben. 2018 hat es nicht geregnet.“
„Ich weiß, mein Mann ist letztes Jahr gelaufen.“ Die Aussicht vermisse auch ich. Dennoch habe ich keine Lust, auf diese Unterhaltung einzusteigen.
„2018 habe ich keinen Startplatz bekommen“, beklagt sich Verena. „Die hatten sechs Tage Sonnenschein und traumhafte Aussicht.“
Wir teilen also das gleiche Leid. Wobei es immer schwer zu sagen ist, ob es anders besser gewesen wäre. Und dieses Schicksal ereilte sicher eine ganze Menge Läufer. Wie beim UTMB gibt es jedes Jahr mehr Anmeldungen als Startplätze. Viele werden nach einer Absage für 2018 heuer ihre doppelte Chance auf einen Startplatz verwirklicht haben und das Gleiche denken. So oder so sind solche Gedanken meiner Ansicht nach kontraproduktiv, weil sie nichts an der Situation ändern.
Vielleicht gelingt es mir, Verena aus ihrem Nörgelmodus zu holen: „2018 war es dafür tagsüber sehr heiß. Das kalte Wetter ist viel besser geeignet, um Tempo zu machen. Man muss sich immer ausreichend bewegen, damit einem nicht kalt wird. Und so bekommen wir kein Problem mit dem Zeitlimit.“
„Meinetwegen“, entgegnet Verena gnädig, als hätte ihre Zustimmung Einfluss auf das, was niemand ändern kann: das Wetter.
„Cool, dass dein Mann auch läuft“, schwenkt Verena wieder in einen mir angenehmeren Modus. „Wo habt ihr euch kennengelernt?“
„Beim Swiss Irontrail 2015, auf halber Strecke über die 201 Kilometer. Im Gewitter am Lunghinpass. Ich erinnere mich noch so gut. Als ich in Maloja an der VP loslief, roch die Luft förmlich nach Gewitter. Die Organisation hatte am Morgen des zweiten Renntages eine Meldung an alle Teilnehmer versendet, dass am Nachmittag mit heftigen Wärmegewittern zu rechnen sei. Da mir die Situation nicht ganz geheuer war, fragte ich einen Verantwortlichen in Maloja, ob wir weiterlaufen oder besser abwarten sollen, wegen der aufkommenden Gewitter. Wir, denn ich war zwar allein unterwegs, aber nicht die einzige Läuferin an der VP.“
„Und?“ Verena scheint ernsthaft interessiert, und bei einem Lauf wie dem TOR das Tempo so zu wählen, dass man sich gerade noch unterhalten kann, ist ein gutes Maß für die Herzfrequenz.
„Der Stationszuständige schaute auf seinen Rechner und meinte: ‚Gewitter sind erst ab Nachmittag gemeldet.‘ Ich fragte ihn, wann er zuletzt zum Himmel geschaut habe. Er meinte, das sei egal, denn in 45 Minuten sei hier sowieso Feierabend. Ich musste also gehen, sonst würde ich Probleme mit dem Zeitlimit bekommen.“
„Was hast du gemacht?“
„Was denkst du denn, natürlich bin ich weitergelaufen. Nicht, weil mich seine Aussage beruhigte. In der Zwischenzeit waren drei dicke Gewitterwolken über dem Lunghinpass aufgezogen. Da ich im Jahr zuvor auf diesem Pass in einen Eissturm geraten war, konnte ich mich gut an den Streckenabschnitt erinnern. Mein Plan war, es zu versuchen und notfalls umzudrehen, wenn es mir zu gefährlich wäre. Das erste Gewitter erwischte mich dann schneller als erwartet, etwa auf halber Passhöhe. Die Abstände zwischen Blitz und Donner waren knapp über zehn Sekunden, und es regnete in Strömen. Ich hielt nach etwas Ausschau, das Schutz vor dem Gewitter bieten könnte, doch außer ein paar großen Steinbrocken gab es hier nichts. Ich war schon über der Baumgrenze. Ich legte mich in eine bereits von früheren Regenfällen ausgespülte Aushöhlung des Trails, auf dem ich lief. Eine sehr dreckige Angelegenheit, und wie ich inzwischen weiß, keine gute Idee. Da ich großflächig Kontakt zum Boden hatte, der die tödliche Spannung eines Blitzeinschlags gut leitet. Mein Gedanke war damals einfach nur, nicht der höchste Punkt zu sein. Das Gewitter kam zum Glück nicht näher. Als die Abstände Blitz zu Donner eindeutig länger wurden, lief ich weiter. Der Regen ließ relativ schnell nach, und beim Blick zum Himmel dachte ich, ich hätte es überstanden.“
„Oh, wie spannend, da wäre ich gerne dabei gewesen“, meint Verena.
„Vielleicht können wir im Nachhinein tauschen“, antworte ich trocken. Liebend gerne hätte ich auf diese Erfahrung verzichtet. „Wobei, lass mal überlegen. Nein, besser nicht. Denn ohne das Erlebnis am Pass hätte ich den liebsten und wichtigsten Menschen in meinen Leben vielleicht niemals kennengelernt.“
„Jetzt bin ich wirklich gespannt.“
„Ich passierte den Punkt, an dem es im Vorjahr angefangen hatte zu regnen. Der Regen, der sich innerhalb weniger Minuten in einen Eissturm verwandelte. Auch 2015 zeigte sich der Lunghinpass wolkig. Doch im Gegensatz zu 2014, als wir im Eissturm keine 20 Meter weit sehen konnten, hatte ich gute Sicht. Damals hatte ich Schwierigkeiten, auch nur die Augen offen zu halten, so wie es mir die Eiskörner ins Gesicht peitschte. Man könnte im Vergleich dazu 2015 schon fast von gutem Wetter sprechen. Auf der Passhöhe angekommen, verhieß der Blick nach vorne jedoch nichts Gutes. Es braute sich ein heftiges Gewitter zusammen. Zunächst gefühlt langsam, doch auf einmal ging alles rasend schnell. Es blitzte und donnerte, Regen setzte ein. Ich zählte die Zeitabstände. Fünf, maximal sechs Sekunden. Die Abstände wurden kleiner. Ich hatte keine Erfahrung mit Gewittern am Berg, doch ich wusste, wenn die Abstände zwischen Blitz und Donner so kurz sind, besteht akute Lebensgefahr.“
„Lass mich raten: Da erschien aus dem Nichts ein stattlicher Reiter mit wallendem Haar auf seinem weißen Ross und rief: ‚Springt auf, holde Läuferin!‘ Und wenn sie nicht gestorben sind …“ Verena grinst.
„Fast …“ Ich glaube, sie hat zu viele Märchen gelesen oder sie macht sich über mich lustig.
„Was ist dann passiert?“, fragt Verena, die anhält, um ihre Stirnlampe rauszuholen.
Ich hatte meine Sonnenbrille, die ich bisher nur kurz gebraucht hatte, bereits im Refugio Deffeyes gegen meine Petzl MYO getauscht und musste diese nur einschalten.
„Ich laufe schon mal weiter“, sage ich, in der Gewissheit, dass Verena mich gleich wieder einholen würde. So kurz unter der Passhöhe will ich nicht anhalten. Oben, wie ich feststelle, auch nicht. Col Haut Pass, check. Der Wind hier oben ist brutal kalt. Ich überlege, noch eine Schicht mehr anzuziehen, entscheide mich jedoch dagegen. Die Weste müsste ich sinnvollerweise unter der Regenjacke tragen, und auf Ausziehen habe ich keine Lust. Wenn es auf dem Weg nach unten weiterhin so stark windet, kann ich immer noch anhalten. Als François D’Haene 2017 den UTMB gewann – zum dritten Mal –, fragten sie ihn bei einem Interview, was das Schlüsselmoment bei diesem Sieg gewesen sei. Ich war vor Ort, als er einlief und das Interview gab. Er lief eine ganze Weile zusammen mit ein paar anderen anderen Favoriten vorneweg. Als es kalt wurde, zogen die anderen was Wärmeres an. François nutzte den kurzen Moment, lief weiter und setzte sich an die Spitze ab. Damit ihm nicht kalt wurde, lief er einfach etwas schneller. François ist nicht nur Profiläufer, sondern auch Winzer. Er ist bestimmt gut abgehärtet. Den Trick mit dem Schnellerlaufen, bei etwas zu kühler Kleidung, habe ich schon ausprobiert. Solange man fit ist, funktioniert das ganz gut. Dann nichts wie hier runter. Es gelingt mir nicht, so schnell zu laufen, wie ich gern würde. Der Abstieg ist technisch schwierig und die Läufer vor mir sehr vorsichtig. Ich verstehe, dass sie nichts riskieren möchten, doch mir ist immer noch kalt. Etwas schneller ginge das schon. Der Weg führt über große Steinbrocken. Konzentriert und mit meiner guten Stirnlampe kann ich zügig von einem Stein zum nächsten springen. Da es nicht nur den einen optimalen Weg über die Steine gibt, kein Problem. Bis eben. Ich hänge hinter drei Läufern, die in einer Art Dreieckformation unterwegs sind. Mir bleibt nicht lange Zeit, zu entscheiden, was ich tun soll, da das Überholen weiter vorne in einer Querung den Hang entlang noch schwieriger scheint. Vermutlich habe ich auch nicht lange überlegt, denn die drei waren sehr langsam unterwegs und vor ihnen keine Stirnlampen. Zwei, drei große Sprünge. Easy. Da fällt mir ein, dass ich meine Bandage nicht wieder angelegt habe. Wie so oft rächt sich die kurze Unkonzentriertheit, ich rutsche weg und kann mich gerade noch auf dem Stock in meiner Rechten abstützen. Eine Reaktion, die mich schon öfter gerettet hat, weshalb ich bei schwierigen Downhills meine Faltstöcke immer einsatzbereit halte, je einen Stock in jeder Hand. Der Leki Speed Stick hat meinen Fall gebremst und mich vor Schlimmerem bewahrt. Gerade nochmal gut gegangen. Oder auch nicht, denn im letzten Moment macht es „knack“. Mein Stock, der zwischen den großen Steinen stecken blieb, brach in zwei Teile.
„Alles okay?“, höre ich eine Stimme von oben rufen. Es ist Verena.
„Mir ist nichts passiert. Mir ist nur der Stock abgebrochen.“
Nur ist gut. Denis Wischniewski, Herausgeber und Redakteur des „Trail Magazins“, schreibt über die Situation ohne Stöcke bei diesem Rennen: „Das ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann. Das ist ungefähr so, als wenn man der Polizei den Schäferhund oder das Polizeiauto nimmt oder dem Piloten noch in der Luft das Flugzeug. Irgendwie so halt.“10 Ich begutachte den Schaden – nichts mehr zu machen. Mist, der ist hin. Zügig packe ich den abgebrochenen Stock in den Rucksack, um erst mal weiterzulaufen. Nicht ohne mich zu ärgern und mir Vorwürfe zu machen.
Verena, inzwischen bei mir angekommen, schaut mir dabei zu: „Mir ist noch nie ein Stock abgebrochen.“
„Mir bisher auch nicht“, entgegne ich.
„Für das erste Mal hast du ganze Arbeit geleistet“, lacht sie.
„Sorry, bin gerade nicht zum Scherzen aufgelegt.“
„Du hättest ja auch nicht so weit links laufen müssen.“
„Na, irgendwo musste ich überholen, oder wärst du die nächsten 500 Meter hinter einer Gruppe asiatischer Trail-Wanderer hergelaufen?“
„Sicher nicht. Ich wäre einfach mittendurch gelaufen. Das ist hier Trailrunning und kein Kaffeekränzchen.“ Verena setzt zum Weiterlaufen an.
Den Spruch habe ich doch schon mal gehört, denke ich, noch unentschlossen, ob ich mich noch länger über den abgebrochenen Stock ärgern oder mich freuen soll, dass ich mich nicht verletzt habe. Nach einem kurzen Check, ob wirklich nicht mehr passiert ist, laufe auch ich weiter. Die Bandage habe ich völlig vergessen.
Der steinige Untergrund mündet in einen Trail. Nachdem ich feststellen muss, dass ein Stock reichlich wenig bringt, stecke ich den noch unversehrten Stock in die dafür vorgesehene Tasche an der Seite meiner Laufhose. „Kämpfe nicht mit dem Weg. Nutze, was er dir gibt“ lautet mein Firmenslogan. Natürlich ärgere ich mich auch heute noch, wenn die Dinge anders laufen als geplant. Doch das Ultratrail-Laufen hat mich gelehrt, wie sinnlos es ist, sich über unveränderbare Ereignisse aufzuregen. Oder sagen wir das Trailrunning, denn als ich diese Erfahrung das erste Mal gemacht habe, war ich noch weit von Ultradistanzen entfernt. Der Weg zur Zugspitze mündet im oberen Teil, nach dem Sonnalpin und vor dem Klettersteig, der zum Gipfel führt, in ein steiles Schotterfeld. Beim Zugspitz Extremberglauf 2011 überholte ich auf diesem Teilstück einige sehr sportliche Männer. Manch einer kämpfte neben dem Untergrund mit Wadenkrämpfen. Natürlich verfluchte auch ich die Kombination aus Steilheit und losem Geröll. Gut zum Abfahren, aber alles andere als einfach im Anstieg. Recht schnell bemerkte ich: Je mehr Power ich in die Tritte legte, umso mehr rutschte ich nach hinten weg. Je zaghafter ich meinen Fuß aufsetzte, desto besser fand ich Halt. Sicherlich half es mir auch, mit 57 Kilo etwas weniger Gewicht auf die Waage beziehungsweise den Schotter zu bringen als die männlichen Mitstreiter. Entscheidend war jedoch, wie ich mich bewegte, und mit einer angepassten Technik konnte ich das schwierige Gelände zu meinem Vorteil nutzen.
Kämpfe nicht mit dem Weg. Nutze, was er dir gibt, Annabel. Beim Zugspitz Supertrail und beim ersten PfalzTrail hattest du noch gar keine Stöcke. Und beim Training hast du sie oft daheim gelassen. Weil Stöcke dich dazu verleiten, beim Abstieg mehr zu gehen als zu rennen, erinnert mich die Ehrgeizige. Rennen, genau. Wieso hier nicht rennen? Du kannst das, auch nachts und auf langen Distanzen. So nutze ich den fehlenden Stock, um ohne Zeitdruck ein weiteres Mal Tempo zu machen. Wenn man bergauf und im schwierigen Gelände ein zügiges Marschtempo läuft, kann man den TOR auch wandern. Vorausgesetzt, dass man mit wenig Schlaf auskommt. Doch erfahrungsgemäß summieren sich die körperlichen Bedürfnisse, sodass diese Kalkulation meist nicht aufgeht. Und selbst wenn, kann einem das Wetter schnell einen Strich durch diese Rechnung machen. Ich will nicht – wie beim Swiss Irontrail – in der unguten Situation enden, dass ich in das Gewitter laufen muss, weil mir keine Zeit mehr bleibt, um zu warten. Und ich will keinesfalls so knapp an die Zeitlimits kommen wie beim UTMB, dass stets die Gefahr besteht, unfreiwillig aus dem Rennen genommen zu werden. Schneller zu laufen, bedeutet natürlich auch größere Anstrengung, Belastung und Verletzungsrisiko, doch ohne Stöcke ist eine gute Renntechnik im Downhill, meiner Erfahrung nach, knieschonender, als die Dynamik des Falls im Gehen wiederholt abzubremsen.
Zu rennen ohne die Alternative, dass zügiges Wandern mit Stöcken klüger sein könnte, fühlt sich gut und richtig an, so voller Leichtigkeit. Und obwohl ich bereits die Lichterkette im Anstieg zum nächsten Pass sehen kann, zwinge ich mich, mit meinen Gedanken im Hier und Jetzt zu bleiben. Das Problem mit der rutschenden Wasserflask zu Beginn des Rennens konnte ich wenig später rasch lösen. Im Anstieg auf den ersten Pass fiel mir ein, dass ich zwar das gleiche Rucksackmodell trage wie bei meinen langen Trainingsläufen, aber nicht denselben Rucksack. Eine Naht war aufgegangen, und da es sich um einen Reklamationsfall handelte, schickte die Firma Raidlight mir kurz vor dem TOR einen Ersatz. Der Rucksack war beim Start noch nicht optimal auf meinen Körper eingestellt. Wenn es eine Lösung gibt, Annabel, wozu die Aufregung, und wenn es keine Lösung gibt, wozu die Aufregung? Na gut, vor allem die Gewissheit, dass ich in der nächsten Life Base auf meine Ersatzstöcke zugreifen kann, lässt mich das Unglück recht gelassen ertragen. Denn auch wenn mir noch nie ein Stock abgebrochen ist, weiß ich von anderen Läufern, dass das passieren kann. Optimistische Paranoia nenne ich dieses Erfolgsprinzip. Es ist die Kunst, immer auf das Schlimmste vorbereitet zu sein und gleichzeitig stets mit dem Besten zu rechnen.
10 Denis Wischniewski (2019), Tor des Géants: 357 Kilometer durch das Aostatal. Ein Ultratrail, der beim Autor noch lange nachwirkt, in: Ultra Running 2/2019, S. 12.