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„Tre, due, uno, partenza!“

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Vielleicht sollte ich von vorne anfangen. Ein Ultratrail ist ein Rennen mit mindestens 100 Kilometern am Stück. Dabei läuft man größtenteils auf Trails, also abseits befestigter Wege. Als ich vor 13 Jahren mit dem Laufen begann, kannte ich den Begriff nicht. Mein großes Laufziel damals: einmal von mir zu Hause zur Sankt-Anna-Kapelle rennen und wieder zurück. Von meinem Garten in Landau-Nußdorf konnte ich diese imposante Kapelle über die Weinberge hinweg sehen. Sie liegt etwas erhöht am Waldrand. Es schien mir sehr attraktiv und zugleich unerreichbar weit, dorthin und wieder zurück zu rennen. Die Sankt-Anna-Kapelle bot mit etwa fünf Kilometern Entfernung damals das richtige Maß an Herausforderung. Zehn Jahre später war mein großes Laufziel der Tor des Géants im Aostatal, einer der längsten und härtesten Ultratrails der Welt. Da bekommt der Spruch „Überschätze nicht, was du in einem Jahr erreichen kannst, und unterschätze nicht, was du in zehn Jahren schaffen kannst“ eine ganz andere Bedeutung. Rückblickend erscheint vieles so logisch. Hätte mir das 2010 jemand prophezeit, ich hätte ihn für verrückt erklärt.

Obwohl ein erfolgreicher Zieleinlauf inzwischen im Rahmen des Möglichen liegt, scheint mir „verrückt“ immer noch die passende Beschreibung zu sein. Das ist total verrückt, denke ich, als ich mir am 8. September 2019 kurz nach elf Uhr meinen Weg in den abgesperrten Startbereich im italienischen Bergdorf Courmayeur bahne.

2018 war der TOR für mich ein Rennen wie jedes andere gewesen. Dass ich im Gegensatz zu meinem Mann Björn keinen Startplatz bekommen hatte, störte mich nicht sonderlich. Ich suchte mir einfach ein alternatives XXL-Rennen. Das änderte sich, als ich acht Tage nach diesem Rennen um drei Uhr nachts aufbrach, um Björn bei seiner Ankunft am letzten Pass des Rennens, dem Col Malatrà, zu überraschen. Es war noch dunkel, aber ich kannte den Weg. Wenige Tage zuvor war ich schon einmal hier oben auf dem knapp 3000 Meter hohen Pass gewesen und bewunderte, wie der Drittplatzierte des Rennens, Peter Kienzl, sich in den letzten langen Downhill stürzte. Ab dem Col Malatrà sind es noch rund 18 Kilometer bis ins Ziel, knapp 2000 Höhenmeter bergab, und ein paar Hundert bergauf. Das vielfach unterschätzte letzte Wegstück. Doch wer am Col Malatrà, dem letzten von 25 Pässen, durch das bekannte Felstor schaut, hat sehr gute Chancen, in Courmayeur durch den legendären Zielbogen zu rennen und sich mit seiner Unterschrift auf der Liste der Finisher zu verewigen.

Es war der letzte Renntag. Ich wusste, dass Björn seit dem vorletzten Pass Probleme mit seinem Knie hatte. Obwohl das Reglement jeglichen Support außerhalb der Verpflegungsstationen verbietet, wollte ich ihn zumindest seelisch unterstützen. Bei Sonnenaufgang begegnete ich Mikael Melto, einem schwedischen Lauffreund. Wir machten ein Erinnerungsfoto von uns mit dem Mont Blanc im Hintergrund. Ich freute mich für ihn, für alle Läufer, die mir entgegenkamen, doch für Mikael besonders. Ich wusste nicht genau, warum der TOR eine so große Bedeutung für ihn hatte. Es war sein dritter Versuch. 2013 beschloss er, als er vom tödlichen Absturz eines chinesischen Läufers hörte, in Donnas (km 151) aufzuhören – er war zuvor nie länger als 100 Kilometer und eine Nacht unterwegs gewesen. 2016 mit deutlich mehr Training – zu viel, wie es schien – gesellte sich in einer stürmischen Nacht am Col Pinter (km 215) zu Schmerzen und Schlafentzug die extreme Kälte. Er wurde so unkontrollierbar langsam, dass er das Vertrauen in einen Zieleinlauf verlor. Er beendete das Rennen in Champoluc (km 222), deutlich enttäuschter als 2013. Mikael rockt sonst Rennen mit Zeiten, bei denen Björn und mir nur schwindlig wird. Der TOR mit seinen vielen Höhenmetern und der Höhenlage, mit der fast alle, zumindest zu Beginn des Rennens, zu kämpfen haben, war die Herausforderung, die ihn nicht wieder losließ. Bevor er dem Ziel entgegenlief, meinte er zu mir: „Vergiss den PTL.“ Ein XXL-Team-Ultra, von dem ich ihm als neues Ziel vorgeschwärmt hatte. „Der TOR ist das Größte, was du erleben kannst.“

Ich weiß nicht, ob es Mikaels Worte waren oder der berühmte Blick vom Col Malatrà, bevor ich Björn dort in die Arme schloss, oder die vielen Stirnlampen, die mir andächtig schweigend oder leise vor sich hin fluchend entgegenkamen. An diesem Morgen hatte es mich gepackt, das TOR-Fieber, und ich fühlte, dass dieser Lauf mehr als eine läuferische Herausforderung ist.

Die besondere Atmosphäre dieses Rennens kann man in Courmayeur schon Tage vorher spüren. Überall schmücken knallgelbe TOR-Banner die Straßen, und in fast jedem Laden kleben Plakate, daneben schwarz-gelbe T-Shirts, 2019 mit einem knallroten X hinter der Jahreszahl – für das zehnjährige Jubiläum. Typisch drahtige Ausdauerathleten, teils bereits mit TOR-Shirts und -Kappen gebrandet, neben ebenso gelben T-Shirts, deren Inhalt sichtlich durch Pizza, Pasta und italienisches Bella Vita geformt wurde. Ungewollt teile ich in Kategorien ein: Läufer, Begleitung oder Volunteer. Die Volunteers, hier VolonTORs genannt, die vielen guten Seelen, die dieses Rennen erst zu dem machen, was es ist. Die mindestens sechs Tage alles dafür tun, damit dieses Rennen so sicher wie möglich, so (gast-)freundschaftlich wie möglich und so erfolgreich wie möglich abläuft. Für einige von ihnen beginnt die TOR-Arbeit deutlich früher und endet erst Wochen später. Für ein paar ist es inzwischen ein Full-Time-Job geworden. Denn irgendwer muss Sponsoren finden, Werbung machen, Fragen beantworten, die Bewerbungen sortieren, ärztliche Atteste kontrollieren. Ohne ein solches sowie die schriftliche Erklärung zur Eigenverantwortung, auch im Todesfall, darf man nämlich nicht starten. Menschen, für die der TOR längst zum Beruf geworden ist. Dazu die 3000 freiwilligen Helfer, die nichts dafür bekommen – und doch so viel. Denn nicht nur für mich sind die VolonTORs die Helden dieses Rennens. Sie sind Köche, Motivatoren, Taschenverteiler, Trostspender, Müllentsorger und beste Freunde. Sie stehen teils tage- und nächtelang in der Kälte und werden nicht müde, immer wieder neue Markierungen zu verteilen. Fähnchen, die beim SwissPeaks 360, meinem letzten großen Ultratrail, so häufig fehlten. Die von Menschen, dem Wetter oder Tieren mitgenommen, rausgerissen und plattgetrampelt werden. Wie bei einem Marathon brauchen die Amateure, zumindest die meisten von ihnen, doppelt so lang wie die Profis. So betragen die Abstände vom ersten zum letzten Läufer bis zu drei Tage. So lange muss dann auch eine Verpflegungsstation, unter deutschsprachigen Läufern kurz VP genannt, besetzt sein. Davor Aufbau, danach Abbau, und manche VolonTORs betreuen mehrere solcher VPs. 150 Stunden lang kümmern sich die Helfer im Schichtdienst Tag und Nacht um das Wohl all derer, die ein Ziel antreibt: Hier in Courmayeur über den gelben Teppich ins Ziel zu laufen und am Sonntag mit denen, die es geschafft haben, auf der großen TOR-Bühne zu stehen oder zu sitzen. Wozu der Körper eben noch in der Lage ist. Und während die Läufer, erfolgreich oder nicht, längst ihre wunden Füße hochlegen und den schmerzenden, müden Körpern abwechselnd Schlaf und Essen gönnen, sammeln fleißige VolonTORs Markierungen ein, kümmern sich um Liegengebliebenes, helfen beim Zeltabbau und vieles mehr.

Die Zuschauerplätze für den Start sind begehrt. Auf der für den Start gesperrten Straße und drum herum ist die Hölle los. Ein Hexenkessel ist nichts dagegen. Ich entdecke eine Gruppe Läufer mit Startnummern, die offensichtlich das gleiche Ziel haben. Es gelingt mir, mich an sie dranzuhängen. Geschafft. Ich blicke mich im Startraum um und stelle zu meiner Überraschung fest, dass ein paar der Pizza-Pasta-Bäuche, die ich ganz klar in die Kategorie VolonTOR, maximal Begleitung oder Fan gepackt habe, neben mir am Start stehen. So ist das mit vorschnellen Urteilen. Ich sehe Maria, eine Norwegerin, die ich im Jahr zuvor durch Mikael kennengelernt habe. Maria hat schon geschafft, wovon ich und viele andere hier im Startblock träumen. Sie besitzt bereits eine Finisher-Jacke. Beim traditionellen Briefing am Vorabend saß ich zusammen mit ihr und einigen anderen Nordlichtern an einem der vielen Achtertische.

„Warum bist du hier? Du hast es doch schon geschafft“, fragte ich sie in Smalltalk-Englisch.

Sie möchte schneller laufen als 2018. Sie habe so viele der Giganten, der Viertausender, die diesem Rennen seinen Namen geben, nicht gesehen, weil es an den aussichtsreichen Stellen dunkel gewesen war.

„Deine Nachtroute von 2018 untertags laufen? Wie willst du das schaffen?“, meinte ich und versuchte dabei, nicht zu skeptisch zu wirken.

Doch Maria ist eine zierliche und zugleich sehr toughe Frau. Sie bringt so schnell nichts aus der Ruhe.

„Ein wenig schneller laufen und weniger schlafen oder zu anderen Zeiten“, parierte sie zuversichtlich.

Die Sache mit dem Schlafen. Während im Vergleich zum Marathon beim Ultralauf die Nahrungsaufnahme und das nächtliche Laufen als zusätzliche Herausforderungen hinzukommen, ist es beim TOR – neben den Anforderungen durch abschüssige Trails, die Höhe und das Wetter – das Schlafen.

„Was hast du für eine Schlafstrategie?“ ist neben der Frage, ob man Grödeln mitnimmt oder nicht, das meistdiskutierte Thema am Vorabend des Rennens. Grödeln, auch Cramps genannt, was in der deutschen Übersetzung verwirrenderweise Krämpfe heißt, aber nichts damit zu tun hat. Crampons ist Französisch für Steigeisen, die gilt es beim TOR zumindest im Wechselgepäck und auf Anweisung auch im Rucksack mitzuführen. Das Reglement, das jeder Läufer mit der Teilnahme anerkennt, bietet online einen direkten Link zu drei möglichen Modellen, die den Anforderungen der Rennleitung genügen. Meine Schuhschneeketten von Tchibo, die bei vereinzelt leicht angeeisten Gipfelpassagen stets ausreichend und zudem bisher nie vorgeschrieben waren, fielen hier durchs Raster. Zur großen Überraschung vieler Läufer sagte man uns beim Briefing am Vorabend, dass keinerlei Pflichtausrüstung kontrolliert werden würde. Es sei uns selbst überlassen, was wir mitnehmen. So erging es mir danach wie bei dem Gänseblümchenspiel: „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich …“ Klar war für mich, die Cramps ganz unten in den Rucksack zu packen. In all den vielen Laufberichten und Videos, die ich gesehen hatte, hat nie einer die vorgeschriebenen Steigeisen benötigt. Das Erfolgsprinzip der optimistischen Paranoia, das mich schon oft vor Schaden bewahrt hat, mahnte mich jedoch, nicht ohne zu starten. Die Frage war, nehme ich die Tchibo-Variante, deutlich leichter und platzsparender, oder das hochmoderne Paar Cramps mit den kantigen Metallzähnen, das ich mir kurz vor dem TOR gekauft hatte, mit der Option, es bei Nicht-Benutzung zurückzugeben. Es ging jedoch weniger um das Geld. Ich hatte schon so viel in dieses Rennen investiert. (Apropos investiert, das Startgeld beim TOR beträgt in diesem Jahr 750 Euro.) Es ging vielmehr um das Gewicht, denn schließlich muss man seinen Rucksack knapp 360 Kilometer und 30.000 Höhenmeter tragen, vorausgesetzt, man macht keine unfreiwilligen Mehrkilometer und bleibt innerhalb der Zeitlimits. Denn wer ein Zeitlimit, eine Cut-Off, verpasst, scheidet aus dem Rennen aus.

„Es wird kalt werden. Wir können nicht genau sagen, wie kalt, aber kalt“, so die Wettervorhersage im Briefing gestern Abend. Das bedeutete für mich – trotz Ultra-Gewichtspar-Strategie – genug zum Anziehen mitzunehmen. Das gefährliche „Eh-schon-egal-Prinzip“ schlug zu. Oder wie Achim, Abteilungsleiter bei engelhorn sports, wo ich während meiner Physiotherapie-Ausbildung jobbte, es nannte: „Egal, wie groß dein Rucksack ist, man packt ihn immer voll.“

So oder so, ich packte zuerst die neuen, die schweren und zugleich für einen Alpinbergsteiger immer noch ultraleichten Steigeisen in den Rucksack, der zum Glück dennoch deutlich leichter war als der von Björn, wenn auch nicht minder voll. Deutlich voller jedenfalls als der von Maria. Eine zweite Sache, um die ich sie in diesem Moment beneide. Denn das Thermometer meiner Sportuhr zeigt knapp 20 Grad. Die Sonne schiebt sich gerade an einer der grauen Wolken vorbei. Es ist gefühlt deutlich wärmer als angekündigt. Und trocken. Zum Glück. Nichts schlimmer, als schon im Startblock nass zu werden und zu frieren. Das Feld rückt schubweise Richtung Startlinie vor, Maria, ihre norwegische Lauffreundin und ich mit ihm. Noch fünf Minuten. Während ich die Schnürung meiner Laufschuhe nochmal korrigiere, denke ich abwechselt: Habe ich alles? Vielleicht hätte ich doch nochmal über die Absperrung klettern und auf die Toilette verschwinden sollen. 360 Kilometer, total verrückt. Und bevor die Zahl in meinen Beinen ankommt und das ganze System lahmlegt, ermutige ich mich: Du kennst die ersten zwei Kilometer durch Courmayeur, die Engstelle, dann geht es bergauf. Du rockst das, Pass für Pass, VP zu VP. Die Etappenziele so klein machen, dass sie erreichbar scheinen, egal, wie es dir gerade geht. Bis zur nächsten Kuppe, die Runde um den See, manchmal nur noch von Baum zu Baum. Die kleinste Etappe: ein Schritt. Dann noch einer und noch einer und noch einer. Du kannst das. Du hast schon bewiesen, dass du durchhalten kannst, auch wenn es hart wird. Und du hast trainiert, damit es nicht hart wird. Du packst das. Nur atmen, atmen nicht vergessen. Die ersten Töne von „Pirates of the Caribbean“ läuten den Countdown ein. Auf Italienisch wird von zehn rückwärts gezählt. Ich zähle, so gut ich kann, mit: „Otto, sette, s…, quattro … due, uno.“

Das Läuferfeld vor mir bewegt sich. Erst langsam, dann schneller.

„Good run“, rufe ich Maria zu, und hinter mir ruft einer: „Good race!“

Meint er mich? Möglich. Hier wünscht gefühlt jeder jedem das Beste. „Sollen alle ins Ziel kommen, Hauptsache, ich bin einer von ihnen.“ Den Gedanken kenne ich, wohl wissend, dass 30 bis 50 Prozent es nicht schaffen werden. Das Läuferfeld lichtet sich. Ich laufe schneller. Der Kopf ist auf einmal leer. Können Gedanken, die eben noch im Kopf waren, im Bauch Karussell fahren? So fühlt es sich an, die Mischung aus Freude, Angst und Aufregung. Durch die Altstadt, vorbei an der dichtgedrängten und jubelnden Zuschauermenge, versuche ich, meinen Rhythmus zu finden. Während wir aus der schmalen Gasse kommend rechts in eine breitere, leicht abfallende Straße abbiegen, merke ich gerade noch, dass meine Flask aus dem dafür vorgesehenen Fach am Rucksack vorne rutscht. Die sogenannte Soft Flask ist eine Mischung aus Trinkblase und Flasche. Der Vorteil ist, dass man sie vorne am Rucksack befestigen kann und das Gewicht dem am Rücken entgegenwirkt. Zudem kann man durch das Nuckelflaschen-Prinzip trinken, ohne das Trinkventil auf- und zuschrauben zu müssen. Die Dinger haben einen stolzen Preis. Dennoch empfiehlt es sich, wenn man auf Flasks setzt, immer ein oder zwei als Reserve dabeizuhaben. Denn abgesehen davon, dass man in das Beißventil besser nicht wirklich hineinbeißen und beim Wasserauffüllen im Fluss darauf achten sollte, den Verschluss nicht der Strömung zu überlassen, sind selbst Soft Flasks von guter Qualität äußerst verschleißanfällig. Sie sollten daher tunlichst nicht auf den Boden fallen. Schon gar nicht, wenn die Gefahr besteht, dass sie dort von einem der nachfolgenden Läufer nochmal ein paar Meter weitergekickt werden. Gerade nochmal gut gegangen, denke ich und stopfe die 0,5-Liter-Flask zurück in das dafür vorgesehene Fach am Träger meines Laufrucksacks. Dort möchte sie aber offensichtlich nicht bleiben, denn die wabbelige Tube Wasser arbeitet sich mit jedem Laufschritt wieder nach oben. Nun hatte ich das Equipment vorher ausgiebig getestet – ohne dieses Problem. Da ich aktuell keine Idee habe, warum die Flask auf einmal nicht hält und das Problem scheinbar nur auf der einen Seite besteht, nehme ich die Flask einfach in die Hand. Meine Laufstöcke, die beim Bergauflaufen Vortrieb geben und beim Bergablaufen die Beine entlasten, habe ich beim Start in meiner dreiviertel langen Hightech-Triathlon-Hose der Firma Kiwami verstaut. So habe ich die Hände frei beziehungsweise nun eben eine Flask in der Hand. Die andere scheint zu halten. „Hakuna Matata“: Ich habe mir das Sorgenfrei-Motto aus „König der Löwen“ angewöhnt – für mehr Leichtigkeit beim Laufen und im Leben. Meines Wissens nach heißt es wörtlich übersetzt soviel wie „Es gibt keine Schwierigkeiten“. Ich achte darauf, mich bei der anfänglichen Euphorie und den lauten „Andiamo ragazzi“-Rufen der Zuschauer nicht zu überschätzen. Zu schnell zu starten, kann sich bei einem Ultratrail bitter rächen. Da es die breite Fahrstraße leicht bergab geht, und ich weiß, dass in ca. einem Kilometer eine Engstelle kommt, an der es sich erfahrungsgemäß gerade für die langsameren Läufer staut, versuche ich, das für einen Ultratrail mit 20-Liter-Rucksack recht zügige Lauftempo zu halten. Ich halte nach Björn Ausschau, sehe ihn jedoch nicht. Zu viele Zuschauer, zu viele Kameras, und ich muss mich auf das Laufen konzentrieren. Hoffentlich macht er ein paar gute Fotos. Das große Manko bei meinen Vorträgen. Es läuft sich aber nun mal schlecht mit einer Vollformatkamera mit Objektiv, und es bleibt einem auch keine Zeit, ein Stativ aufzubauen oder die günstige Gelegenheit für das beste Foto abzuwarten. Mein iPhone 7 befindet sich in einer wassergeschützten Outdoorhülle, und die Qualität meiner Schnappschüsse auf Ultratrails dient maximal der Dokumentation. Vermutlich bin ich auch kein großes Foto-Genie. Generell meide ich Geräte, die nicht selbsterklärend sind. Gebrauchsanweisungen zu lesen erzeugt bei mir in etwa die gleichen Gefühle wie die automatische Abfrage einer telefonischen Hotline. Ich höre, wie jemand „Annabel“ ruft. Der Name Annabel, zu meiner Geburt 1978 in Deutschland noch wenig gebräuchlich, hat sich zwar inzwischen auf Platz 339 der beliebtesten Mädchennamen hochgearbeitet, die meisten meiner Namensvetterinnen sind aber noch nicht im Ultratrail-Alter angekommen. Ich entdecke Björn, der Fotos macht, und winke ihm kurz zu. Um mich herum, wie so häufig bei Ultratrails, nur Männer. So wie es eben noch leicht bergab ging, steigt die Straße nun leicht an. Ich entscheide, das Tempo um mich herum mitzugehen. Kurz bevor es in den Wald geht, beginnt es zu regnen. Einige Läufer halten an, um ihre Regenjacke anzuziehen. Ich überlege kurz und beschließe weiterzulaufen. Aufgrund der Situation bildet sich an der Engstelle zum schmalen Pfad in den Wald kein Stau. Sehr gut gemacht, Annabel. Gleich mal schnell 15 bis 20 Läufer überholt. Mein Plan geht auf. Die Bäume bieten einen guten Schutz gegen den mittelstarken Regen. Noch ist das Läuferfeld eng beieinander oder besser gesagt hintereinander. Die Läufer vor mir wechseln im Wald vom Rennen in ein zügiges Marschieren und ich mit ihnen. Wer hier im Mittelfeld noch hinaufsprintet, wohl wissend, was alles noch vor ihm liegt, hat beim Start irgendwas falsch gemacht. Zudem ist der Weg so schmal, dass auch ein sehr viel schnellerer Läufer sich schwergetan hätte, an den diversen Stockeinsätzen vorbeizukommen. Nicht trödeln und am Vordermann dranbleiben ist die Devise, die zugleich fair gegenüber den Nachfolgenden ist und für die eigene Disziplin von Vorteil. Vorausgesetzt, man kann das Tempo im geeigneten Herzfrequenzbereich mitgehen. Wer zu früh zu viel will, dem geht es wie mir beim Zugspitz Supertrail, meinem ersten richtig langen Rennen in den Alpen. Ich war so glücklich, mit Hilfe von Jack, dem Physiotherapeuten, und dem konsequenten Umsetzen seiner Folterübungen meinen Knieschmerz los zu sein, dass ich es viel zu schnell anging. Mit meinem damaligen Trailschuh von ASICS, der sich im Nachhinein als Walking-Modell entpuppte, kam ich bergauf zügig voran, bis ich kurz vor dem Scharnitzjoch im Matsch ausrutschte. Ich hatte mir nicht wehgetan. Ich sah nur aus wie jemand, der in eine Reihe Kuhfladen gefallen ist. Möglicherweise war auch ein bisschen was davon mit dabei. Wie peinlich, dachte ich und war erleichtert, als ich ein wenig später sah, dass ich nicht die Einzige war. Geteiltes Leid ist nicht halbes Leid. Wenn du Schmerzen hast, hilft es dir nichts, wenn andere auch Schmerzen haben. Der Schmerz bleibt der gleiche. Doch geteilte Scham reduziert die unangenehmen Gefühle, allein dadurch, zu wissen, man ist nicht der Einzige, dem das passiert ist. Shit happens. Aufstehen, Dreck abklopfen, weiterlaufen. Das Zweite habe ich ausgelassen, da die braune Masse an Gesäß und Beinrückseite noch ziemlich weich war. Ich hatte damals weder Ultra- noch großartig Berglauf-Erfahrung. Den Fünf-Liter-Rucksack von Salomon, eine enganliegende Weste, die mir noch sehr lange und auf deutlich längeren Ultratrails gute Dienste erwies, hatte ich über die Arbeit bei engelhorn sports geschenkt bekommen. Der Laufrucksack in der Größe XS/S passte in der Running-Abteilung außer mir niemandem. Wobei er auch an mir recht straff saß, weshalb nicht mehr allzu viel hineinpasste. Auch damals gab es Pflichtausrüstung. Meine Gore-Tex-Regenjacke hatte ein deutlich größeres Packmaß als das ultraleichte Modell von Dynafit, das ich inzwischen besitze. Dennoch hat mir der Rucksack sogar beim Swiss Irontrail über die 201 Kilometer gereicht. Ein Rennen, bei dem ich mir allerdings vielfach wärmere Kleidung gewünscht hätte. Beim Zugspitz Supertrail habe ich mir über solche Dinge noch keinerlei Gedanken gemacht. Dass es eine spezielle Ausrüstung für Trailrunner gibt, hatte ich am Vortag auf der Messe in einer Zeitschrift gesehen. Ich bekam eine Leseprobe des „Trail Magazins“ geschenkt, in der ich unter anderem einen Artikel über die richtige Downhill-Technik las. Sinngemäß stand da: immer auf etwas Festem landen und nach Möglichkeit nicht bremsen. Das war zumindest das, was hängen geblieben ist, und so stürzte ich mich nach meinem Ausrutscher im Dreck wie ein Profi in den ersten langen Abstieg. Stöcke hatte ich damals keine, wozu auch. Dass sie mein Leiden in den weiteren Abstiegen deutlich gemildert hätten, konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Nach meinem rasanten und sturzfreien Downhill vom höchsten Punkt des Rennens, dem Scharnitzjoch (2048 m), runter zum Hubertushof waren meine beiden Oberschenkel annähernd doppelt so dick wie vorher und steinhart. Es folgte eine flache Passage durch die Geisterklamm bis nach Mittenwald. Knapp zehn Kilometer optimal zum Rennen, vorausgesetzt, man konnte noch rennen. Nachdem ich meine Oberschenkel mit einer Eiswassertherapie im Fluss wiederbelebt hatte, gelang es mir, die Beine gerade so weit anzuheben, um zu gehen. Äußerst dankbar, dass es für einige Kilometer keine Stolperfallen wie Wurzeln oder Steine gab. Obwohl es nicht besser wurde und mich bis zum Schluss über zwei Drittel der Teilnehmer überholten, hatte ich nicht einmal darüber nachgedacht, aufzugeben. Im letzten langen Abstieg nach Grainau, dem Ziel des Rennens, musste ich sicherlich 50-mal anhalten, um schnellere Läufer vorbeizulassen. Zumindest tat ich das, auch wenn jedes Abstoppen und Loslaufen mit enormen Schmerzen verbunden war. Ich fragte ein paar Männer von der Bergwacht, die gerade ein Feuer machten, wie weit es noch sei.

„Nur noch so fünf Kilometer“, versuchten sie mich aufzumuntern.

Ich wäre beinahe zusammengebrochen, als ich das hörte. Noch fünf Kilometer? Meine Technik bestand darin, so kleine Schritte zu machen wie möglich. Größere Schritte konnte ich kraftmäßig und schmerzbedingt nicht mehr abbremsen. Fünf Kilometer, ach du Scheiße. Meine Verzweiflung schien mir ins Gesicht geschrieben.

„Du konnscht di a herhocken ans Feier. Wir ham noch a Wurscht übrig“, rief einer der Männer, während ich mich mit meinen Geisha-ähnlichen Trippelschritten weiter voranarbeitete.

Doch neben der Erfahrung, ein Rennen nicht zu schnell anzugehen, erlebte ich auch die Magie des sich nähernden Ziels. Als ich den Ort erreicht hatte, konnte ich die letzten zwei Kilometer sogar wieder rennen. Ich lernte durchzuhalten und leider auch, dass der Schmerz im Ziel nicht aufhört. Das Massageteam sah mich mitfühlend an, riet mir – nach Begutachtung meiner Beine – jedoch von einer Massage ab. Strom könnte helfen. Auf den Boden runterzukommen, gelang mir besser als anschließend wieder hochzukommen. Ob der Strom geholfen hat, weiß ich nicht. Ich konnte die fünf Treppenstufen zu meiner Wohnung über eine Woche lang nur rückwärts runtergehen. Die Vorbereitungswoche auf das Physiotherapie-Examen ermöglichte mir, nachts zu lernen, wenn ich zwischen drei und fünf Uhr trotz entzündungshemmender Schmerzmittel vor Schmerzen nicht schlafen konnte, und den fehlenden Schlaf morgens oder mittags nachzuholen. Eine Dozentin der Physio-Akademie und Pferdeosteopathin meinte bei ihrer Begutachtung am achten Tag nach dem Rennen, dass sie so was noch nicht gesehen habe. Meine Beine waren immer noch doppelt so dick und heiß. Sie meinte, das sei wohl die heftigste Variante von Muskelkater und dass die kleinen Risse im Muskel noch etwas länger brauchen würden, um zu heilen. Sie behielt recht. Es dauerte ein paar Wochen, heilte aber vollständig aus. Nach diesem Erlebnis war fraglich, ob ich mir dergleichen ein zweites Mal antun wollte oder konnte. Ich war und bin ganz sicher keine Masochistin. Ich wusste, dass ich Fehler gemacht hatte. Klassische Anfängerfehler. Und ich wollte wissen, ob das nicht auch anders geht. Es geht, vor allem, wenn man den Körper mit kontinuierlichem Training an die Belastung heranführt. Nicht nur an die des langen Rennens, auch an die der Auf- und Abstiege und des langen Gehens.

Der Regen holt mich zurück in die Gegenwart. Die Bäume, die mich bisher so gut vor dem Regen geschützt hatten, dass ich schon gehofft hatte, es habe wieder aufgehört, lichten sich. Wenn ich nicht pitschnass werden will, muss ich rasch meine Regenjacke überziehen. Ich rette mich unter einen großen Baum und hole meine Jacke aus dem Rucksack. Es geht ein kalter Wind, was meine Entscheidung, hier anzuhalten, um mich zumindest oben herum warm einzupacken, untermauert. Auch wenn ich schmerzlich sehe, wie die Karawane an Läufern an mir vorbeizieht. Obwohl die Wiese für Überholmanöver genug Platz bietet, bleiben alle brav hintereinander. Und ich mache mir Gedanken, dass ich zehn bis zwölf Plätze verloren habe. Wie unsinnig bei dem, was noch vor mir liegt, denke ich, wohl wissend, dass es mein Ehrgeiz ist, der mich überhaupt hierhergebracht hat. Die Jacke anzuziehen war wichtig und richtig, beruhige ich meine ehrgeizige innere Stimme. Dabei ist der Regen an sich nicht gefährlich, sondern die Kombination aus Wind, Kälte und Regen.

Der sogenannte „Windchill Effekt ist nicht zu unterschätzen … Unterkühlungen und sogar Erfrierungen können die Folge sein. Dabei passiert folgendes: Wind – egal ob es tatsächlicher Wind ist oder nur Zugluft, wie sie zum Beispiel bei langen Abfahrten vorkommt – entzieht der Hautoberfläche die dort relativ warme Luft und sorgt so für mehr Verdunstungskälte.“6

2008 haben zwei Läufer beim Zugspitz Extremberglauf aufgrund von Regen, Wind und massiver Unterkühlung nicht überlebt. Heute erinnern Namensschilder mit ihrem Todestag und ein paar Blümchen im Felsen an dieses schicksalsträchtige Ereignis. Hinterher ist man immer klüger. Nur manchmal hilft einem das nichts mehr. Der Gedanke an die Mahnmale der beiden verändert umgehend meinen Blickwinkel. Alles gut, Annabel. Sicherheit geht immer vor. Und nicht vergessen, dein Ziel bei dieser sportlichen Mission ist Ankommen. Gesund ankommen innerhalb des Zeitlimits. Dabei liegt mein selbst gesetztes Zeitziel zwischen: bei Sonnenaufgang des sechsten Tages am Col Malatrà stehen (realistisch) oder bei Sonnenuntergang des fünften Tages am Col Malatrà stehen (optimistisch). Kurzzeitig führt die Strecke über einen flacheren Feldweg, die Abstände der Läufer werden vorübergehend größer, bis ein schmaler Pfad nach links abzweigt. Zumindest gehe ich davon aus, dass unter dem festgetretenen Schnee ein Trampelpfad verläuft. Der Anblick ist unglaublich. Natürlich ist mir schon vorher aufgefallen, dass der Regen in nassen Schnee übergegangen ist. Dass dieser liegen bleiben könnte und wir knöcheltief durch eine inzwischen fast geschlossene Schneedecke marschieren, schien vor zwei Stunden noch unvorstellbar. Und das Anfang September, während Bayern, Baden-Württemberg und auch die hiesigen Einheimischen noch Sommerferien haben. Da fällt mir ein, dass ich keine wasserfesten Schuhe anhabe. Ich besitze welche, habe sie aber für den Notfall im Wechselgepäck. Das Material ist fester, der Schuh weniger bequem, und halbdurchlässige Membran hin oder her, man schwitzt immer mehr in wasserfesten Schuhen. Dass es kalt wird, hatten sie uns gesagt, von Schneefall war nicht die Rede. Zumindest habe ich nichts dergleichen mitbekommen. Doch dass das Wetter am Berg unberechenbar ist, hatte ich bereits erfahren. Als ich 2014 beim Swiss Irontrail, meinem ersten Versuch über die 201 Kilometer und 11.400 Höhenmeter bei Kilometer 100 über den Lunghinpass lief, kam kurz vor der Passhöhe Regen auf, der schnell in einen heftigen Eisregen überging. Abgesehen davon, dass ich damals noch nichts von wasserfesten Überhandschuhen wusste und meine Finger vor Kälte derart schmerzten, dass ich nicht mehr in der Lage war, meine Stöcke zu halten, fror der Eisregen auf den Steinplatten fest und machte den Untergrund zu einer gefährlichen Rutschpartie. Der Wind peitschte mir die Eiskörner ins Gesicht, als gelte es, mit aller Kraft einen Angreifer in die Flucht zu schlagen. Als wir im Tal losliefen, hatte es knapp 30 Grad und die Sonne schien. Wir, denn zum Glück war ich damals nicht allein in dieser brenzligen Situation. Nino, ein Läufer, mit dem ich den Großteil der Strecke das gleiche Tempo lief, und ein Stück vor uns zwei russische Läufer teilten das gleiche Schicksal. Man beriet sich. Ich überlegte umzukehren, doch die anderen waren für weiterlaufen. Die Passhöhe selbst liegt auf 2644 Meter, und die Strecke führt ein bis zwei Kilometer nahezu auf gleicher Höhe entlang, bevor es hinunter nach Bivio geht. Allein zurücklaufen hielt ich für eine schlechte Idee, und Nino bot an, meine Stöcke zu nehmen. Damals hatte ich noch keine Hose, deren Seitentaschen eine Vorrichtung für die Stöcke bieten. Ich hatte auch keine Handschlaufen an den Stöcken. Meine Handschuhe waren auch nicht winddicht. Sie waren noch nicht mal windabweisend. Sie waren patschnass und halb gefroren. Meinen Fünf-Liter-Rucksack hatte ich zum Befestigen der Stöcke mit einem Gummi aufgepimpt. Er war proppenvoll, und ich trug ihn, damit der Inhalt nicht nass wurde, unter meiner Regenjacke. Daran, sie auszuziehen, um das zu ändern, war in diesem Eissturm nicht mal zu denken. Dankbar übergab ich Nino meine Stöcke und stolperte die Hände in den Jackenärmeln, den Kopf leicht gesenkt, damit mich die Eiskörner nicht zu hart trafen, hinter den Männern her. Nicht mal 30 Minuten später schien wieder die Sonne, und wir machten uns über das Geräusch dieses Rennens lustig. Nino ahmte die Schmatzlaute nach, die unsere Schritte in dem durch monatelangen Regen aufgeweichten Boden machten. Der Matsch, der für stets nasse Füße und erschwerte Auf- und Abstiege sorgte. Das, worüber wir kurz zuvor noch geklagt hatten, war auf einmal eine willkommene Alternative und brachte uns nun zum Lachen. Alles ist relativ, auch schlechtes Wetter. Hätten wir gewusst, was uns matschtechnisch oder besser gesagt moortechnisch hinter Bivio erwartete, uns wäre das Lachen vergangen.

6 Windchill – Gefühlte Temperatur bei Kälte und Wind, www.bergfreunde.de/windchilleffekt-rechner/ (27.4.2021).

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