Читать книгу Trail and Error - Annabel Müller - Страница 11
Jill is ill
ОглавлениеWährend ich hinter dem Buffet vorbei zum Ausgang dränge, halte ich nochmal Ausschau nach Verena, sehe sie aber nicht. Björn begleitet mich noch ein kleines Stück bis zum Waldrand. In der VP hatte ich kaum Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden. Es wäre während des Essens und bei dem Lärmpegel zu anstrengend gewesen, vom Schnee, dem Stierkampf und von Verena zu berichten. Doch auch jetzt gelingt es mir nicht, meine intensiven Eindrücke weiterzugeben. Björn geht es vorwiegend darum, Fotos zu machen. Stimmt, da war ja was: Ich brauche Bilder für meine Vorträge. Obwohl ich nicht glaube, dass irgendwen Bilder von hier unten im Ort beeindrucken, verstehe ich die Priorisierung. Erzählen kann ich auch noch daheim. So bin ich nicht böse, dass er mir nur mit einem Ohr zuhört und noch bevor ich meinen Satz beendet habe, vorausläuft, um ein Foto zu machen, als ich unter dem aus Backsteinen erbauten stattlichen Brückenbogen hindurchlaufe. Ich bin die Strecke von der VP bis hierher locker getrabt und laufe nun noch etwas schneller, um das fehlende Bergpanorama mit läuferischer Dynamik zu kompensieren. Zwei Läufer, auch im Ort immer gut an der Startnummer am Rucksack erkennbar, schauen mich verwundert an, als ich mit der Entschlossenheit eines Zielsprints – der bei Ultratrails selten ein wirklicher Sprint ist – zwischen den beiden hindurchrenne. Die beiden sind im zügigen Marschschritt unterwegs. Sicher haben sie die Station in La Thuile genutzt, um ihre Energiespeicher ordentlich aufzufüllen. Das Essen kommt beim TOR für die, die es vertragen, nicht zu kurz. Abgesehen von wenigen reinen Getränke-VPs gibt es überall ein reichliches Angebot an Obst, Kuchen und Schokolade über Käse und Mortadella bis hin zu warmen Gerichten wie Pasta oder Minestrone und was den jeweiligen VolonTORs noch so einfällt. Vielleicht fragen sich die beiden, was ich denn für einen Saumagen besitze, um hier so zu rennen. Vielleicht ist es auch die Kombination aus der Größe meines 20-Liter-Rucksacks – der darauf hinweist, dass ich hier sicher nicht zu den ganz Schnellen gehöre – und meinem aktuellen Lauftempo, die für Verwunderung sorgt. Ich weiß nicht wieso, doch spontan muss ich an die Szene aus dem Film „Harry und Sally“ denken. Als Sally Harry im Restaurant davon überzeugen möchte, dass er es gar nicht bemerken würde, wenn eine Frau ihm den Orgasmus nur vorspiele. Nachdem sie mit ihrer Orgasmus-Show fertig ist, meint eine Mittfünfzigerin zum Kellner, der die Bestellung aufnehmen möchte: „Ich will genau das, was sie hatte.“ Vielleicht haben sie sich auch gefragt, was ich wohl gegessen oder genommen habe, um hier derart abzugehen. Lauwarmes, verklumptes Bio-Kartoffelpüreepulver und einen halben Riegel, da ich den Rest genauso gut später unterwegs essen kann. Kein Wundermittel, sondern einfach relativ wenig. Nichts, was schwer im Magen liegt. Gut, denn nach der Straße folgt ein einwandfrei laufbarer Forstweg. Kurz nach der Holzbrücke halte ich an und setze mich – vor dem Wind durch ein altes zerfallenes Haus geschützt – auf einen der herumliegenden Steine. Gerade groß genug für die linke Gesäßhälfte. Mir ist klar, dass mich das Zeit kostet. Doch die Fußgelenksbandage, die ich trage, seit ich im Mai dieses Jahres für Filmaufnahmen nochmal recht heftig umgeknickt bin, scheuert. Und nachdem ich im Frühjahr beim Jurasteig Ultratrail über die 170 Kilometer eine Tape-Allergie entwickelt habe, kann ich dummerweise nichts mehr abkleben. Bloß keine Blasen riskieren. Beim Ultratrail-Laufen muss man soooo viele Entscheidungen treffen. Man kann auch nicht entscheiden und abwarten, was passiert, doch selbst das ist letztendlich eine selbst gewählte Entscheidung. Dabei sind es manchmal winzig kleine Dinge, die über die lange Distanz eine große Wirkung entfalten, zum Beispiel ein kleiner Stein im Schuh. Bei einem Zehn-Kilometer-Rennen käme kein ehrgeiziger Läufer auf die Idee, anzuhalten, den Schuh auszuziehen und den Stein zu entfernen. Hoffentlich sucht er sich eine Ecke, in der ich ihn nicht spüre und er wenig Schaden anrichtet, lautet da die Devise. Bei einem Ultratrail ist das mit dem wenig Schaden anrichten so eine Sache. Das kann gut gehen. Vielfach jedoch nicht. Deshalb lautet die Frage bei Ultradistanzen nicht ob, sondern wann halte ich an und entferne den Übeltäter. In meinem Fall ist es kein Stein, der an der Haut reibt, sondern die Bandage. Obwohl mir die hochwertige Fußgelenksbandage von Bauernfeind mit dem zusätzlich stabilisierenden X-Band am Rist bisher gute Dienste geleistet hat, fürchte ich, keine 360 Kilometer damit rennen zu können, ohne massive Blasen oder ein Druckgeschwür zu entwickeln. Und da der Weg hier sehr eben ist und keine Stabilisierungshilfe erfordert, ziehe ich die Bandage aus. Es geht sowieso recht bald wieder steiler bergauf, und da werde ich nicht rennen.
Björn, der immer noch Fotos macht, grüßt eine vorbeilaufende Teilnehmerin. Er ruft „Oh, hi Jill!“ und erntet unmittelbar einen genervten, bösen Blick von mir. Auch ich hatte Jill kommen sehen, bewusst schnell wieder wegschaut und mich weiter meiner Bandage gewidmet, in der Hoffnung, dass sie mich nicht erkennt. Björn und ich kennen Jill von diversen Ultratrails. Wobei sich das Kennen auf flüchtige Begegnungen am Start, den ein oder anderen kurzen Wortaustauch auf der Strecke und ein Erlebnis mit Björns Windjacke beschränkt. Der Eindruck, es gäbe keinen XXL-Ultratrail in Italien oder der Schweiz, bei dem sie nicht mit dabei ist, kann täuschen. Vielleicht haben wir einfach den gleichen Geschmack bei der Auswahl unserer Rennen. Zudem kommt Jill irgendwo aus der italienischen Schweiz. Ihre Eltern, zumindest ein Teil, kommt aus den USA, und es passt zu ihrer flippigen, überdrehten Art, dass sie stets Englisch spricht. Dass sie 2014 beim UTMB versehentlich Björns blaue Windjacke eingesteckt hat, ist kein Wunder. Blau scheint ihre Lieblingsfarbe zu sein. Abgesehen von ihren Schuhen, bei denen sie offensichtlich nach anderen Kriterien auswählt, habe ich sie immer nur in blauer Laufkleidung gesehen. Die kinnlangen Haare passend zum gut gefüllten Laufrock in einem grellen Türkis. Ob Türkis dem Grün oder Blau zuzuordnen ist, mag Ansichtssache sein. Bei Jill ist das eindeutig. „Na, super“, sage ich zu Björn, „ich habe mich extra geduckt, damit sie mich nicht sieht.“
Björn, der ohne gesonderte Erklärung versteht, woher meine geringe Begeisterung rührt, bereut den spontanen Gruß, doch wie sich 800 Meter weiter zeigen soll, kam diese Einsicht zu spät. Ich lasse mir beim Wiederanziehen des Schuhs gemütlich Zeit, um Jill ziehen zu lassen, will aber auch nicht unnötig Zeit verlieren. Nach nicht mal einem Kilometer läuft sie unmittelbar vor mir. Der Weg steigt an, sodass wir beide vom Laufen ins Gehen wechseln. Ich bleibe knapp hinter ihr. Eine Strategie, die nicht aufgeht.
„Dein Freund, der, der mich gegrüßt hat, den kenne ich, glaube ich“, beginnt Jill die Unterhaltung wie immer in ihrem typischen Südstaatenenglisch.
Der Grund, warum ich keine Lust auf eine Unterhaltung mit Jill habe, ist nicht ihre ausgeflippte Art, sondern meine bisherige Gesprächserfahrung mit ihr. Zugegeben, ich habe nie wirklich lange mit ihr geredet. Eigentlich hat meist auch nur sie geredet und dabei jedes Mal gejammert, wie schlecht sie gerade vorbereitet sei, was alles schieflaufe, wie schwierig ihre Situation oder die von uns allen hier im Rennen gerade sei. Dabei kommt Jill fast immer ins Ziel. Nicht als Schnellste, aber deutlich schneller, als man es ihr zutrauen würde, wenn man sie sieht und reden hört. Ohne eine wissenschaftliche Studie dazu zu kennen, bin ich der festen Überzeugung, dass fortlaufendes Jammern der beste Weg ist, um zu scheitern. Beim Laufen wie im Leben. Jill muss die Ausnahme von dieser Regel sein. Was für sie kein Problem darstellt, löst bei mir Angst vor schlechtem Karma aus. Der Ausdruck sich auskotzen trifft es, wie ich finde, recht gut. Wenn sich jemand übergibt, riecht es nach Erbrochenem. Ein Geruch, der bei vielen Menschen, so auch bei mir, Brechreiz auslöst. Jills Sich-Auskotzen über alles, was gerade schlecht läuft, birgt die große Gefahr, ansteckend zu sein und mich mit runterzuziehen, nur dass sie selbst aus diesem Jammern und Schimpfen scheinbar sogar Kraft zieht.
Obwohl sie oft ein bisschen konfus wirkt, erinnert sie sich noch an die Geschichte mit Björns Windjacke: „Habe ich nicht mal aus Versehen seine Jacke eingesteckt?“
„Ganz richtig, beim UTMB vor fünf Jahren“, entgegne ich.
„Ach ja, ich habe von der Rennleitung gehört, dass er sie vermisst und sie ihm zugesendet.“
„Du hast sie sogar gewaschen und den Riss überklebt, den Björn sich bei der ersten Hälfte des Rennens zugezogen hat“, gebe ich anerkennend zurück. Nicht ohne ein Schmunzeln, denn besagte Jacke spielte eine Rolle, als Björn und ich uns kennenlernten.
„Ich war so hundemüde“, meint Jill ein wenig entschuldigend.
Positiv überrascht über den unerwartet netten Wortwechsel, pflichte ich ihr bei: „Sicher, so was kann da leicht passieren.“
Ich weiß noch, wie müde ich war, als ich beim Swiss Irontrail 2014 das erste Mal in die zweite Nacht ohne Schlaf lief. Schmerzbedingt beendete ich das Rennen bei Kilometer 135 von 200. Kurz vor Cut-Off erreichte ich Savognin, die zweite Life Base des Rennes, an der ich im Rahmen einer angekündigten Sonderwertung aufhörte. Mit einem stechenden Schmerz im Fuß beim Auftreten und noch gänzlich unwissend, dass die Dinge, die ich auf einmal sah, die mir heute gut bekannten Halluzinationen waren. Dabei waren die Sporttasche, die ich im Wald liegen sah, und die Kokospalmen harmlos gegenüber dem, was ich bei späteren Ultratrails so halluzinierte.
„Ich bin ein Stück mit deinem Mann gelaufen“, unterbricht Jill die Erinnerungen an meinen ersten Swiss Irontrail. „Das war ein Rennen! Erst das schlechte Wetter und dann meine Magenprobleme. Ich hatte so starken Durchfall …“
Kopfkino, und zwar ein Film, den ich nicht sehen möchte. Ich versuche, auf Durchzug zu stellen, um nicht alle Details ihres Toilettenbesuchs am Col de la Forlaz mitzubekommen. Es klappt nicht so richtig. Vor dieser Unterhaltung habe ich gedacht, ich sei durch das Ultratrail-Laufen und die Physiotherapieausbildung abgehärtet, was Körperausscheidungen betrifft. Die ungefilterte Art von Jill, ihre „multiplen Magenprobleme“, wie sie es nennt, zu beschreiben, übertrifft meine Schmerzgrenze. Zumal sie jetzt wieder im üblichen Jammermodus ist.
„Immerhin hast du es trotzdem geschafft, zu finishen“, versuche ich, gute Stimmung zu machen.
„Mir ging es heute morgen so schlecht, sage ich dir“, erzählt sie im gleichen Tonfall wie zuvor. Ich muss zweimal hinhören, um zu erkennen, dass sie nicht mehr vom UTMB spricht. „Mir geht es gar nicht gut, verstehst du. Heute morgen hatte ich hohes Fieber. Ich fühle mich auch krank.“
„Meinst du, es ist eine gute Idee, dann den TOR zu laufen?“, unterbreche ich ihre Ausführungen, unsicher, ob meine Nachfrage eine gute Idee war.
„Ach, ich schlafe einfach an jeder Station, dann wird das schon“, antwortet Jill.
Ein Laufstock tippt mir auf die rechte Schulter. Er gehört Verena. Sie deutet mir an, ich solle mich etwas zurückfallen lassen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie hinter uns ist.
„Hast du das gehört?“, flüstert sie.
„Was?“
„Sie hat gesagt, sie hat Fieber. Sie ist krank und schläft an jeder Station.“
„Ja, ich habe es mitbekommen“, entgegne ich.
„Sie ist krank und schläft an jeder Station. In den gleichen Betten wie wir.“ Verena ist entrüstet.
„Das ist Jill, die ist immer am Jammern“, beruhige ich Verena. „Bisher kam sie dennoch bei all den Rennen ins Ziel. So schlimm, wie sie sagt, ist es vermutlich nicht.“
„Bist du dir sicher?“, stachelt Verena.
„Nein, bin ich nicht.“
Jill sieht tatsächlich nicht sehr gesund aus. Sie scheint stark zu schwitzen und das, obwohl wir im moderaten Ultratrail-Tempo unterwegs sind. 2016 nach meinem ersten Hochkönigman hatte ich eine Erkältung bei meinem damals vierjährigen Neffen völlig unterschätzt. Kleines Kind, kleine Erkältung, dachte ich. Ich liebe meinen Neffen, und auf die Wangenküsschen, die er nur sehr sparsam an ausgewählte Personen verteilt, wollte ich nicht verzichten. Vermutlich war ich noch in der Immunsuppression. Nach einem Rennen oder intensiven Training ist das Immunsystem kurzzeitig geschwächt. Wenige Tage danach lag ich zum allerersten Mal in meinem Leben mit knapp 40 Grad Fieber im Bett.
„Nein, sicher bin ich mir nicht, und der Gedanke, neben Jill zu liegen, die ihren fiebrigen Infekt auskuriert, gefällt auch mir nicht.“ Ich überlege kurz. „Dafür gibt es nur eine Lösung.“
„Welche?“
„Wir müssen schneller sein als sie. Wir brauchen genug Vorsprung“, sage ich zu Verena und setze direkt zum Überholen an. Verena und ich rennen wie vom Hafer gestochen an Jill vorbei. Als sie außer Sichtweite ist, lachen wir wie zwei Schulmädchen, die gerade jemandem einen Streich gespielt haben. „Komm, lass uns den Abstand ausbauen“, treibe ich Verena an, die immer noch lacht.
„Kennst du das Bild mit dem Radfahrer und dem Bären?“ frage ich Verena. „Klar. Manchmal findest du Motivation, und manchmal findet die Motivation dich, lautet der Spruch dazu.“
„Die kranke Jill ist unser Bär.“
„Every runner may sleep in my bed, but not Jill, she is ill“, entgegnet Verena lautstark.
Unsicher, ob Jill vielleicht noch hinter uns ist und uns hört, drehe ich mich um.
„Komm schon“, stichelt Verena, „die alten Kinderreimwitze kennst du doch bestimmt auch.“
„Klar, zumindest auf Deutsch“, sage ich und bereue es im selben Moment.
„Oh, cool, lass hören.“
„Ich weiß nicht, ob diese Witze nicht längst verboten sind. Politisch korrekt sind sie sicher nicht.“
„Wer soll dich denn hier verhaften?“, scherzt Verena.
Da hat sie eigentlich recht. Das Erste, was mir einfällt: „Alle Kinder rennen aus dem brennenden Haus, nur nicht Klaus, der schaut raus.“
„Alle Kinder springen über die Schlucht, nur nicht Peter, dem fehlt ein Meter“, kontert Verena.
Obwohl ich lachen muss, finde ich es nur bedingt lustig: „Hoffentlich rächt sich das nicht. Absturzgefahr besteht hier beim TOR auch des Öfteren.“
„Sei kein Spielverderber, einer geht noch.“
Da fällt mir was ein: „Alle Kinder haben Spaß mit dem Spielzeug.“ Ich schaue zu Verena, ob sie den schon kennt. „Nur nicht Uschi, die hat Spaß mit ihrer Katze.“
Darüber müssen wir beide von Herzen lachen.
„On the way to Deffeyes“, ruft Verena noch immer ziemlich überdreht.
Ob sie jemals wieder den Reimmodus verlassen wird? Zumindest sind wir jetzt wieder beim Rennen und unserem nächsten Ziel angekommen. Gedanklich, denn physisch sind es noch 200 bis 300 Höhenmeter bis zum Rifugio Deffeyes.