Читать книгу Trail and Error - Annabel Müller - Страница 19
Оглавление„Wie lange braucht man bis zur Staumauer?“, fragte ich im Laufschritt.
„Über die Straße? Eine Stunde.“
Ich schaute auf die Uhr. Es war 18:30 Uhr. Wenn ich bis um 19:30 Uhr an der Base Station oben an der Staumauer bin, dann habe ich eine Stunde. Genug Zeit, um zu essen, zu schlafen und die Ärztin um etwas für meinen Hals zu bitten. Ich hatte ein vermutlich kältebedingtes Giemen entwickelt, das jeden Atemzug erschwerte und mich klingen ließ wie eine Asthmatikerin. Ein Krampfgefühl im Hals- und Brustraum, zudem fiel mir dauernd das rechte Ohr zu. Tagsüber hatte ich es kaum bemerkt, gegen Abend wurde es wieder schlimmer. Erstaunt, welche Kräfte der Körper mobilisieren kann, wenn es darum geht, ein verloren geglaubtes Ziel doch noch zu erreichen, rannte ich die Straße entlang. Bis ein Pfeil für den SwissPeaks 360 eindeutig nach links zeigte. Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben. Der Weg führte über ein ausgetrocknetes Flussbett. Ein Meer aus Steinen, Ästen, alten Plastik- und Metallresten. Ich kletterte, so schnell ich konnte. Ich zwang mich, nicht vorzeitig aufzugeben, wohl wissend, dass meine Chancen, das Ziel zu erreichen, nicht gut standen. Um 19:30 Uhr war ich immer noch etwa 200 Höhenmeter unter der Krone der Staumauer. Ich wählte Björns Nummer, um ihm zu sagen, dass ich aufhöre. Wie ein paar andere, die hier aufgeben mussten, hatte ich keine Übernachtung gebucht. Und so war ich dankbar und froh, dass ich die Nacht nicht in einer kalten Turnhalle verbringen musste, weil Julien uns kostenfrei ein Mehr-Zimmer-Apartment zur Verfügung stellte. Björn war ziemlich erschrocken, als er mich am Morgen dort abholte. Geistig war ich schon wieder einigermaßen auf der Höhe, doch die Waage zeigte drei Tage später noch knapp 47 Kilo an. Den Körperfettanteil konnte ich im Hotel nicht messen, doch bei 1,65 Meter war dieser zumindest am Oberköper, jedenfalls für Björn, bedenklich gering. Kein Wunder. Ich hatte nicht nur keine Zeit zu schlafen gehabt, ich hatte vor lauter Hinterherhetzerei auch kaum etwas gegessen. Nach einer innigen Umarmung – hinterher erzählte er mir, er habe Angst gehabt, mich zu drücken, weil ich so zerbrechlich wirkte – packte er meine Sachen, und wir gingen zum Auto. Mein Blick fiel auf die Raiffeisen-Bändchen am Weg. „Das Apartment liegt an der Strecke“, meinte Björn.
An seinem Blick erkannte ich, dass er spürte, was das rote Plastikband in diesem Moment bei mir auslöste. Auch wenn Aufhören die einzig vernünftige Entscheidung war, ging mir immer wieder die Frage durch den Kopf: Hätte ich es nicht doch noch schaffen können?
Beim TOR sorgen die zwei Stunden zwischen Time-In und Time-Out an den Life Bases dafür, dass niemand gezwungen ist, keine Pause zu machen, um im Rennen zu bleiben. Dass ich keine Zeit mehr habe zu essen und zu schlafen, obwohl ich noch im Rennen bin, kann mir hier nicht passieren, denke ich. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte.