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Die Geschichte am See

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Der Tor des Géants gilt nicht umsonst als einer der härtesten Ultratrails der Welt. Das wusste ich. Darauf war ich vorbereitet. Doch während ich mich mit meinem steifen und schmerzenden Bein die hohen Stufen vom Col della Vecchia hinunterquälte, konnte ich die negativen Gedanken nicht mehr zurückhalten: Warum ich? Warum ausgerechnet jetzt? Nach allem, was ich auf den letzten 190 Kilometern gemeistert habe?

Über 70 Stunden war ich nun unterwegs. Zweieinhalb Stunden Schlaf hatte ich mir seither gegönnt. Man läuft bei Ultratrails nicht nur bei fast jedem Wetter, sondern auch nachts. Wenige Stunden zuvor war ich noch tanzend durch den strömenden Regen gelaufen. Ich war geradezu euphorisch, weil ich so gut mit all den Widrigkeiten klarkam. So schnell kann sich das Blatt wenden. Wie das Wetter. Die Sonne brannte. Keine Wolke am Himmel. Das Thermometer meiner Sportuhr zeigte 28 Grad. Und das, obwohl ich mich noch immer dicht unterhalb der Passhöhe auf knapp 2000 Meter Seehöhe befand. Jeder Schritt mit dem schmerzenden Bein fühlte sich an, als ob mir jemand ein Messer ins Knie rammen würde.

Warum jetzt, warum ich, woher dieser Schmerz? Warum kann ich mein Bein nicht mehr beugen? Fragen, die mich nicht weiterbrachten. Das wusste ich. Ich ärgerte mich über die Situation. Ich ärgerte mich über meinen Ärger. Der Ärger, die Ohnmacht, die falschen Fragen – all das brachte mich nicht weiter. Ich wusste das. Doch Wissen und Tun sind nicht immer so leicht zusammenzubringen. Schnell holte mich der Schmerz zurück aus meinen Gedanken. Mit voller Wucht drang er bis tief ins Mark. Einen Moment nicht aufgepasst. Ich musste mich besser konzentrieren. Mehr Gewicht auf die Stöcke. Es schmerzte dennoch, nicht nur beim Beugen, auch beim Belasten. Dass ein Knie so wehtun kann …

Am liebsten würde ich mich auf einen Stein setzen, heulen und darauf warten, dass mich jemand abholt. Doch so funktioniert das nicht. Weder beim Laufen noch im Leben. Ich setzte mich trotzdem und gönnte mir eine Pause. Nicht vom Laufen. Obwohl ich die Anstrengung spürte, fühlte sich das Laufen immer noch gut an. Wenn nur dieser fiese Schmerz nicht wäre. Er war es, der mich bremste. Wenn du ein Problem hast und das nicht wahrhaben möchtest, hast du gleich zwei Probleme. Oder wie ein Zitat von Buddha es ausdrückt: „Wenn du ein Problem hast, versuche es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.“

Komm schon, Annabel, was kannst du tun? Das Wärmepad hatte ganz gut geholfen, beim Aufstieg. Seit es wieder bergab ging, half nur, das Bein zu entlasten. Den aufkeimenden Schmerz zu ignorieren, funktionierte nicht. Also mit dem steifen Bein voran die Stufen hinunter. Nur wie lange konnte die rechte Seite diese doppelte Arbeit leisten? Außerdem war ich so viel zu langsam.

Was ist das große Problem? Es ist ein Rennen. Du bist gestartet, du hast es probiert, und nun zeigt dir dein Körper die Grenzen. Akzeptiere sie, melde dich unten im nächsten Ort ab. Steig zu deinem Mann in den Camper und schlaf dich erst einmal aus. Es wird sich ein paar Tage schlecht anfühlen. Vielleicht auch ein paar Wochen. Scheitern ist kein angenehmes Gefühl, doch es bringt dich nicht um. Weitere 170 Kilometer mit einem entzündeten Knie zu laufen eventuell schon. Zumindest eine Stimme in mir sagte genau das. Wer mich kennt, weiß, dass ich erst spät mit dem Laufen begonnen habe. Nie laufsüchtig, maximal bergsüchtig, haben mich Erhebungen schon immer fasziniert. Berge wäre zu weit gegriffen, da ich als Kind so gut wie nie in den Bergen war. Doch wenn es die Möglichkeit gab, irgendwo hinaufzulaufen, wollte ich dorthin. Von oben war die Welt eine andere. All das, was mich unten erdrückte, wirkte von oben winzig und weit weg. Während ich mich unten klein und fehl am Platz fühlte, spürte ich beim Blick von oben eine ungewohnte Leichtigkeit. Dennoch dauerte es Jahre, besser gesagt Jahrzehnte, bis ich die Liebe zum Hinauflaufen wiederentdeckte.

Eine lange Geschichte, die mich hierhergebracht hat. Und irgendwie auch nicht. Verena, eine Läuferin, mit der ich Teile der Strecke im gleichen Tempo gelaufen bin, wollte wissen, wie ich zum Ultratrail-Laufen gekommen bin. Eine spannende Frage. Denn obwohl bei einem Ultratrail, einem Rennen über 100 Kilometer am Stück, größtenteils abseits befestigter Wege, lauter Gleichgesinnte dieselbe Strecke und dasselbe Ziel verfolgen, sind ihre Beweggründe sehr verschieden. Bei mir haben sich die Motive über die Jahre immer wieder verändert. Das Ultratrail-Laufen selbst hat mich verändert. Zurückblickend hat mich nichts im Leben so positiv beeinflusst wie die Erlebnisse am Berg. Bis auf ein Schlüsselerlebnis in der Regionalbahn. Ausgerechnet in der Bahn, einem Ort, der ein krasser Gegensatz zum Berg ist.

Obgleich sich beziehungsweise ich mein Leben ab diesem Erlebnis massiv änderte, hatte ich es schon fast vergessen. Verenas Frage erinnerte mich daran. Ich wusste, dass sie nicht nach dem fragte, was man fast immer anhand von Laufstatistiken nachlesen kann. Mein erster Zehn-Kilometer-Volkslauf vor zwölf Jahren, ein Jahr später Halbmarathon, dann Marathon. 2011 mein erstes Bergrennen. Nur knapp 18 Kilometer lang, dafür vom Tal in Ehrwald auf den höchsten Gipfel Deutschlands – der Zugspitz Extremberglauf, über den ich zum Zugspitz Supertrail gefunden habe, bereits das erste ultragroße Ziel vor Augen: den Zugspitz Ultratrail mit 100 Kilometern und über 5000 Höhenmetern. Ein Ziel, an dem ich festhielt, obwohl mich die 68,8 Kilometer und knapp 3000 Höhenmeter des Supertrails spüren ließen, was passiert, wenn man als Pfälzer-Hügelchen-Läuferin ungebremst 1000 Höhenmeter bergab rennt. Unten angekommen, waren meine Oberschenkel gefühlt steinhart, brannten und wollten keinen einzigen Laufschritt mehr abbremsen. Dass ich es viel zu schnell angegangen bin, hätte ich ahnen können, als die Zuschauer mir applaudierten und hinterherriefen: „Sehr stark, du bist die sechste Frau.“ Mir, die ich vor 15 Jahren noch mindestens eine Schachtel am Tag rauchte und nach dem zweiten Laufversuch beim Orthopäden landete. Der Sportarzt, zugleich mein langjähriger Hausarzt, untersuchte mich und meinte: „Wenn Sie Ausdauersport machen wollen, gehen Sie besser Radfahren!“ Er war der festen Überzeugung, mein Körper sei nicht zum Laufen gemacht.

Wie bin ich zum Ultratrail gekommen, oder anders gefragt: Warum immer höher und weiter? Warum nicht schneller? Ich bewundere Athleten, die sich ein halbes Jahr oder länger quälen, um auf der Marathondistanz nochmal zwei oder drei Minuten schneller zu sein. Meins ist das nicht. Ich war noch nie sehr detailverliebt, und trotz all meinem Ehrgeiz war ich schon immer faul. So nannte das zumindest meine Mutter, als sie in meiner Anwesenheit zu meinem Grundschullehrer sagte: „Die ist nicht dumm, die ist nur faul.“

Ein Kompliment, das ich damals nicht als solches wahrnahm. Den Spruch „Effizienz ist die Faulheit der Intelligenten“ kannte ich noch nicht, aber es schien mir generell unsinnig, für eine Sache mehr Kraft aufzuwenden als nötig. Dazu ein angeborener Dickkopf, und als ich 2009 bei meinem damaligen Arbeitgeber, einer mittelständischen Autovermietung, zum Vertrieb noch die Regionalleitung übernahm, war Laufen die flexibelste Option, um fit und schlank zu bleiben. Vielleicht habe ich auch von Anfang an gespürt, dass Laufen eine Chance für mich ist. Doch um das zu verstehen, muss man wissen, wie ich aufgewachsen bin.

Schon in meiner Jugend wollte ich immer zu den coolen Leuten gehören. Also jobbte ich, um mir die coolen Klamotten kaufen zu können. Nicht ohne fortlaufend zu meckern, dass andere diese Dinge von ihren Eltern bekämen. Meine Eltern waren nicht reich, doch sie wären sicherlich in der Lage gewesen, mir die Levi’s 501 zu bezahlen. Stattdessen bekam ich von meiner Mutter genau das Geld, was ein günstiges Modell bei C & A kostete. Überhaupt hatten es die anderen fast immer besser. So wie meine vier Jahre ältere Schwester, die immer genau wusste, wie sie von meinen Eltern bekam, was sie wollte.

Als ich zehn Jahre alt war, fand ich ein Buch mit dem Titel „How to manipulate people“ oder so ähnlich bei ihr. Ich hatte zwar niemals gesehen, dass sie darin gelesen hätte, dennoch musste es ihre Bibel sein. Wenn jemand wusste, wie man Situationen für sich entscheidet, dann meine Schwester. Auch mit 14 wäre das Buch immer noch das Letzte gewesen, was ich gelesen hätte. Zumal ich mit dem Englischen eher auf Kriegsfuß stand. Beim Vokabellernen gab es keine Abkürzung und keine Schleichwege. Fleißarbeit war nicht mein Ding. Also las ich es nicht, obwohl es mir vielleicht geholfen hätte. Denn wie gesagt, ich wollte vor allem eines: dazugehören. Zu den coolen Leuten, versteht sich. Mit ihnen um die Häuser ziehen, Party machen und einiges mehr, wovon meine Mutter besser nichts erfahren sollte. Nur wollte ich dafür niemanden manipulieren. Ich wollte um meiner selbst willen geliebt und von der Clique anerkannt werden. Von meinem ersten selbst verdienten Geld kaufte ich mir „deshalb“ coolere Klamotten. Ich bemalte, wie es die coolen Mädels machten, meine Doc Martens mit Tipp-Ex, rauchte Zigaretten und was eben noch so angeboten wurde. Aus dem Österreich-Urlaub schmuggelte ich Red Bull über die Grenze, um es dann vor der Disco mit Wodka, Whisky oder sonst was zu mischen, an das die etwas Älteren der Szene rankamen. Zu den Disco-Zeiten war ich vermutlich schon ein bis zwei Jahre älter und zugleich viel zu jung, um mich mit diesen Dingen erwischen zu lassen. Es folgte die Phase der All-You-Can-Drink-Partys. Ziele hatte ich in dieser Zeit kaum. Ich wollte Spaß haben, zur angesagten Gang gehören und mich bei nichts erwischen lassen, was Ärger einbrachte.

In einem dieser Sommer zwischen meinem 14. und 16. Lebensjahr fuhr ich mit der Clique an den Langwieder See. Es war Anfang November und schon ziemlich frisch. Wir waren wie immer mit den Rädern unterwegs. Die meisten hatten weder Führerschein noch Auto, und für das, was wir am See vorhatten, war es sowieso besser, nicht mit dem Auto zu fahren. Ich erinnere mich, dass ich keine Lust hatte, mit den anderen einen Joint zu rauchen. Mit Gras konnte ich nichts anfangen. Es machte mich nur müde und hungrig. Und niemals dick zu sein, nicht zu viel zu essen, das war so die einzige Regel – neben guten Noten –, an die ich mich hielt. Denn die guten Noten waren die Voraussetzung für meine Freiheit.

Schlank bleiben war für meine Mutter immer oberste Devise, und ich sah die Vorteile darin. Denn ich kam so langsam in ein Alter, in dem sich die älteren Jungs für mich interessierten. Meine langen blondierten Haare und meine sexy Tänzerinnenfigur waren mein einziger Trumpf gegen meine Schwester, die sich damals bereits selbst als eloquent bezeichnete. Ich hatte keine Ahnung, was eloquent bedeutet. Google gab es noch nicht. Wir hatten weder Laptops noch Smartphones. Ich hätte natürlich nachfragen können, was das Wort bedeutet, aber damit hätte ich nur mal wieder gezeigt, dass ich weniger gebildet war als sie.

Zurück zu dem Nachmittag am See. Ich erinnere mich nicht mehr, worüber wir sprachen. Es war ein gemeinsames Abhängen wie so oft. Bis zu dem Moment, in dem sie mich zu dritt packten und versuchten, mich mitsamt meinen Klamotten in den See zu werfen. Es war ein trister Novembertag, und ich fand es gar nicht witzig. Ich wehrte mich und schrie um Hilfe. Zwei von der Clique standen etwas unbeteiligt am Rand daneben. Der Rest feuerte die drei Angreifer kräftig an: „Werft die kleine Nervensäge in den See. Vielleicht kapiert sie dann, dass sie hier niemand haben möchte.“

Und ehe ich mich versah, landete ich im See. Unsanft, wenn auch zum Glück ohne mich ernsthaft zu verletzen.

Ich verstand nicht wieso, aber die Botschaft kam an. Oder besser gesagt, ich kannte sie bereits. Es war nicht das erste Mal, dass mir Menschen sagten oder zeigten, ich solle mich verziehen. Es war diesmal nur die eindringlichste und fieseste Art, mir das mitzuteilen. Das Problem, nicht dazuzugehören, kannte ich auch von daheim. Daher wusste ich, dass mich dort wenig Mitgefühl erwartete. Mein Vater, zu dem ich innerhalb meiner Familie noch das beste Verhältnis hatte, sofern er seinen optimalen Alkoholspiegel hatte – was zugegebenermaßen bereits seit ich zehn war nur noch sehr selten der Fall war –, lebte nicht mehr bei uns. Meine Schwester hätte mich bestenfalls ausgelacht. Nach dem Motto: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“ Und meine Mutter mochte diese Leute sowieso nicht. Offiziell war ich gar nicht mit ihnen unterwegs. Also bat ich eines der Mädchen, die an der Sache unbeteiligt gewesen waren, ob ich mit zu ihr fahren könne, um meine Kleidung zu trocknen, bevor ich heimradeln würde. Sie überlegte nur kurz. Scheinbar hatte sie mehr Mitleid mit meinem Häufchen Elend als Angst, von der Clique ausgeschlossen zu werden. Wissend, dass ich in ihrer Situation niemals diese Stärke besessen hätte, fühlte ich mich noch elender. Die sechs Kilometer bei eiskaltem Wind pitschnass auf dem Fahrrad gaben mir einen weiteren Grund zum Heulen.

Ab diesem Tag am See beschloss ich, niemandem mehr zu vertrauen. Das Vertrauen in mich selbst hatte ich schon vorher verloren. Falls ich es jemals besessen hatte. Wenn ich die Menschen nur enttäusche und sie mich nur enttäuschen, dann bin ich allein besser dran. So fing ich an, mich stark zu fühlen in meiner Rolle als Außenseiterin, als Rebellin. Dagegen sein wurde zu meinem Credo. Schuld war ab sofort niemals ich, sondern immer nur die anderen, und damit verbannte ich meinen Schmerz, das schwarze Schaf zu sein, ganz tief in mir. Und wenn er auftauchte, half mir mein oberflächliches Partyleben, der Alkohol oder berufliche Erfolge. Die gab es, denn auch wenn ich keine großen Ziele hatte, versuchte ich stets, besser zu sein. Ich hatte schließlich gelernt, dass gute Leistungen mir die Freiheit gaben, anders sein zu dürfen. Doch je älter ich wurde, desto schwieriger wurde es für mich. Meine oft besserwisserischen Dagegen- und Ja-Aber-Strategien sorgten, wohlwollend ausgedrückt, für einen durchaus bewegten Lebenslauf. Auch wenn ich die Verantwortung für Unstimmigkeiten natürlich nie bei mir sah.

„Aus dir wird eh nichts. Du bist wie dein Vater“, hörte ich dann die Stimme meiner Mutter. Es dauerte meist zwei bis drei Wochen, bis ich mich in dieser gefühlt falschen Welt wieder einigermaßen zurechtfand.

Die Geschichte am See hatte ich komplett vergessen. So in meine Gedanken versunken, hatte ich nicht bemerkt, dass der Weg schmaler wurde. Während ich nachdenklich hinter Verena auf dem zum Glück nicht mehr schneebedeckten Trail herlief, fiel mein Schweigen nicht sonderlich auf. Es ist üblich, dass man die Unterhaltungen unterbricht, wenn das Rennen es verlangt. Zudem ist das mit dem Denken nach ein paar durchgelaufenen Nächten so eine Sache. Es passt sich dem Trend des 21. Jahrhunderts an: Statt Slow Food, Slow Fashion oder Slow Travel betreibt man notgedrungen Slow Thinking. In den Momenten der größten Müdigkeit auch Slow Running. Ein Tempo, das mit Rennen nichts mehr gemein hat und mich beim Swiss Irontrail 2014 an ein Buch aus meiner Jugend erinnerte: „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Noch war ich allerdings ordentlich zügig unterwegs und steuerte im lockeren Trab auf die Ortschaft Donnas zu. Gute zehn Stunden auf das Zeitlimit hatte ich inzwischen herausgelaufen. Und mit jeder Verpflegungsstation gewann ich weitere Zeit dazu. Was auch immer das Gegenteil eines Teufelskreises ist, zu sehen, wie mein Abstand auf das Zeitlimit immer größer wurde, beflügelte mich im wahrsten Sinne des Wortes. Verena schien sowieso jedes Tempo mithalten zu können. Oftmals war sie schneller, weil ich neben Schnee, Eissturm und Morast noch mit einigen weiteren Herausforderungen zu kämpfen hatte. Dennoch kreuzten sich unsere Wege immer wieder. So ist das oft bei Ultratrails. Manche Läufer siehst du nur kurz oder nie und andere immer wieder. Und obwohl es ein Wettkampf ist und jeder für sich kämpft, läuft man streckenweise zusammen. Manchmal bricht einer die Stille und beginnt eine Unterhaltung. Bis einer von beiden schneller ist, und sich die Wege wieder trennen.

„Na, sag schon, was ist deine Geschichte? Hattest du auch eine schlechte Kindheit?“, stichelte Verena.

„Wie kommst du darauf?“

„Ein Bekannter von mir meint, man könne sich so was nur antun, wenn man eine traumatische Kindheit hatte.“

Wir lachten oder zeigten uns galant die Zähne. Zumindest bei Verena sah es oftmals mehr danach aus.

„Und, hattest du?“ Sie ließ nicht locker.

„Kommt ganz drauf an, was du unter einer schlechten Kindheit verstehst. Es hätte schlimmer sein können“, rief ich ihr zu.

Ehrlich gesagt, war ich lange der Meinung, sie sei wirklich gar nicht so schlecht gewesen, bis ich auf der Suche nach der Ursache für Autoimmunkrankheiten das Buch „Wenn die Kindheit krank macht“ gelesen habe. Ein Teil in mir hatte sich allerdings gefragt, wer denn bei diesen Maßstäben bitte noch als nicht gefährdet gilt. Zudem hatte ich keine Lust, hier und jetzt über schlechte Kindheitserlebnisse zu sprechen. Das Rennen lief gerade so gut. Außerdem kannte ich Verena gerade mal seit zwei Tagen. Und auch wenn wir einiges gemeinsam hatten und so eine nächtliche Passüberquerung bei einem Ultratrail-Rennen zusammenschweißt, konnte ich sie menschlich nur ganz schwer einschätzen.

Die Wege runter in die mittelalterliche Stadt führten über sehr alte Naturtreppen und teils gepflasterte Wege, was das Laufen erschwerte. An vielen Stellen stachen die ehemaligen Treppenkanten als scharfe Steinkanten hervor. Treppen und Steine, die sicherlich einmal den Auf- und Abstieg in den Ort erleichtern sollten, inzwischen jedoch das Gegenteil bewirkten. Mit dem einsetzenden Regen wurde der Weg zudem nass und rutschig. Ich machte noch schnell ein Foto von mir an der markanten Holzbrücke und schickte es meinem Mann, der im Ort auf mich wartete. Ich las seine Nachricht: „Ich habe einen Parkplatz ganz in der Nähe der Halle. Hier regnet es in Strömen. Alles gut bei dir?“

„Kommst du?“, drängelte Verena, die fast schon um die nächste Ecke bog. „Ich ziehe meine Regenkleidung an“, rief ich ihr hinterher.

Zwar war es bei Weitem nicht mehr so kalt wie die letzten Tage, aber ich hatte keine Lust, pitschnass in Donnas anzukommen. Jedes einzelne Stück, das ich anhatte und bei mir trug, hatte bisher gute Dienste geleistet. Das sollte auch so bleiben.

„Never change a running system“, sagt mein Mann immer, der im Gegensatz zu mir seine Schuhe beim Ultratrail anlässt, solange keine dringende Notwendigkeit besteht, sie auszuziehen. Geschmacksache oder besser gesagt Geruchssache. Regenhose und Jacke anziehen kostete mich vielleicht zwei Minuten. Zwei Minuten, die am Start noch entscheidend waren, die aber jetzt nach 150 Kilometern und gut 10.000 Höhenmetern keine Rolle spielten. Vermutlich hatte ich intuitiv längst entschieden, dass ich nicht nass werden wollte, und in den meisten Situationen ist Intuition eine große Hilfe. Nicht immer, aber dazu später mehr.

Trail and Error

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