Читать книгу Trail and Error - Annabel Müller - Страница 15

Abenteuer

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Inzwischen kann ich bereits die Läufer an der nächsten VP auf der Alm Promoud sehen. Verena muss auch da sein. Du hast sie bisher nicht überholt. Noch weiter vorne kann sie nicht sein. Unten angekommen und abgescannt, schaue ich mich um. Meist ist an der VP zugleich ein Kontrollpunkt, an dem die Startnummer mit einem Scanner, wie man das aus dem Supermarkt kennt, erfasst wird. Keine Verena. Promoud ist eine kleine Versorgungsstation, und so begnüge ich mich, da ich von den Snacks das meiste sowieso nicht vertrage, mit kaltem Wasser. Außer Wasser für die Flasks, das mir warm in diesem Moment deutlich lieber gewesen wäre, benötige ich nichts. Beim Anblick der Lichterkette, die sich auf den nächsten Pass, den Col Crosaties, hochschlängelt, kommt mir eine Idee. Vielleicht kann ich den abgebrochenen Stock mit Panzertape reparieren? Panzertape ist ein besonderes festes und stabiles Klebeband, dass unter anderem beim Militär und in der Raumfahrt verwendet wird. Auch im Motorsport, das weiß ich von meinem Mann, werden während des Rennens damit notdürftig Teile der Karosserie befestigt. Warum soll das nicht auch bei einem Trailrunning-Stock funktionieren, denke ich und beweise damit wieder einmal, dass Physik nicht meine große Stärke ist. Ich krame auf einer der vielen freien Bänke meine Minirolle Panzertape heraus und wickle es im Licht meiner Stirnlampe um die beiden Stockhälften. Eine helfende Hand wäre jetzt nicht schlecht, doch von Verena keine Spur. Die anderen Läufer tummeln sich um den Verpflegungsstand in einigen Metern Entfernung. Die meisten laufen rasch weiter. Kaum einer hält sich hier lange auf. Es ist dunkel und kalt, und vor uns liegt noch ein langer Weg.

Nach zwei Fehlversuchen gelingt es mir, die beiden Teile mit dem Tape zu einem Stück zu verbinden. Ich teste ganz vorsichtig an. Sehr stabil wird es nicht sein, das ist mir schon klar. Dass der Stock aber schon bei minimalem Druck wieder zerbricht, hätte ich nicht gedacht. Mist, die Zeit hätte ich mir sparen können. Da hätte ich besser was gegessen. Egal, auf, weiter. Es ist zu kalt, um hier länger Pause zu machen. Der kaputte Stock ist eigentlich kein großes Problem. 800 Höhenmeter Anstieg zum Pass, danach 1000 Höhenmeter runter, insgesamt noch 17 Kilometer nach Valgrisenche. TOR-Kilometer und -Höhenmeter, also die Kilometer nach dem Rechensystem der Veranstalter. Das darf man nicht vergessen, denn irgendwo verstecken sich die Mehrkilometer und -höhenmeter. Aber so oder so: 20 Kilometer – oder eben etwas mehr – ohne Stöcke sind kein Problem. Das restliche Rennen ohne Stöcke zu bestreiten schon. Im Gegensatz zu anderen Ultratrails habe ich hier noch keinen Läufer ohne Stöcke gesehen. Manchmal im Rucksack, meist aber im Einsatz. Ein Pass, das packst du locker. Aber es wird mich mehr Kraft kosten. Die Beine mehr belasten. Mag sein, aber du entlastet die Arme, kontert die Optimistische. Tatsächlich gab es eine Zeit, da war meine rechte Schulter das schwächste Glied bei ultralangen Bergläufen. Auf der 170-Kilometer-Distanz beim SwissPeaks waren meine Stöcke ganz, die Schmerzen in der rechten Schulter jedoch noch im ersten Drittel so stark, dass ich keine Kraft übertragen konnte. Später stellte sich heraus, dass ich einen zuvor unbemerkten leichten Bandscheibenvorfall im Halswirbelbereich hatte. Bis zum TOR hatte ich das recht gut im Griff, bei extremen Belastungen und wenn ich viel am Schreibtisch arbeitete, spürte ich es jedoch oft noch. Du gönnst deiner Schulter eine Pause, ist doch super.

Col Crosaties? Das ist doch der Pass, an dem der Chinese 2013 abgestürzt ist. Und ich wusste, dass er nicht der Einzige war. Mein Mann hatte im Vorjahr erlebt, wie ein italienischer Läufer beim Abstieg vom Pass reglos ein Stück abseits der Strecke lag, um ihn herum drei Läufer. Also war der gellende Schrei, den er kurz zuvor gehört hatte, kein dummer Scherz gewesen. Er lief zu ihnen hinunter. Ein asiatischer Läufer sagte auf Englisch, dass er Ersthelfer sei. Der Läufer lag bäuchlings auf einem Stein, hatte eine Platzwunde am Kopf, blutete und schien benommen. Björn, der erst einmal nichts tun konnte, weil der Ersthelfer davor warnte, ihn zu bewegen, überlegte, was passiert sein könnte. „Ihn nicht bewegen ist klug“, dachte Björn. „Denn er kann nicht hier unten gestürzt sein. Dann läge er nicht hier. Er muss von weiter oben abgestürzt sein. Von der Passhöhe sind das etwa 20 Fallmeter. Das würde auch die schwere Kopfverletzung erklären.“ Ich beschreibe den Unfall aus Björns Perspektive, in der alles wie in Zeitlupe ablief. In Wirklichkeit geschah all das innerhalb von ein, zwei Minuten.

„Jemand muss die Rettung anrufen“, meinte der Ersthelfer.

Björn dachte, dass das längst geschehen sei. Er holte sein Smartphone heraus und erkannte das Problem. Kein Empfang.

„Okay, ich laufe weiter und rufe die Rettung, sobald ich Empfang habe“, versprach Björn und machte sich sofort auf den Weg. Für einen Moment hatte er sich überlegt, ob er dieser Anweisung so schnell folgte, weil er so keine Zeit verlor. Ein verrückter Gedanke, denn in so einem Moment geht es doch um viel mehr als den eigenen Zieleinlauf. Dennoch verstehe ich den zwiespältigen Gedanken gut. Er zeigt, dass seine Priorität ganz klar beim Wohl des verletzten Läufers lag, und zugleich wie bedeutsam so ein Rennen ist, für das man ein Jahr und länger trainiert hat. Zudem war es wirklich das Beste, was er tun konnte. Der Italiener benötigte dringend medizinische Hilfe. Björn lief mit Blick auf die Balken seines Smartphones, noch ganz geschockt von dem, was passiert war. Mikael, der 2013 seinen ersten TOR lief, als der Chinese hier ums Leben kam, ist ein guter Freund von ihm. Er wusste, dass solche Unfälle bei Bergrennen immer wieder passieren, doch bis eben waren es Geschichten. Weit weg. Geschichten, an die man während eines Ultratrails lieber nicht denkt. Als er die Veranstalter etwa 300 Höhenmeter weiter unten über die Notfallhotline informierte, wusste man dort bereits Bescheid. Vermutlich hatten andere Teilnehmer, die das Geschehen beobachtet hatten, schon angerufen. Als Björn jemanden in der Leitung hatte, der Englisch sprach, erklärte er noch, welche erkennbaren Verletzungen der Italiener hatte. Zum Glück konnte er gerettet werden, obgleich eine Helikopterrettung in der Nacht nicht möglich war, wie wir im Nachhinein erfuhren. Erst gegen sechs Uhr morgens konnte er mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden. Bei der Siegerehrung sechs Tage später meinte der Sprecher, sein Zustand sei stabil. Die Eilmeldungen, die die Organisation noch während des Rennes dazu veröffentlichte, verhießen zunächst nichts Gutes: „He was transferred to the reanimation department in a reserved prognosis“,11 was so viel bedeutet, wie dass er in kritischem Zustand in eine Reanimationsabteilung transferiert worden war.

Das ist es, was mir ein wenig Angst macht. Ich werde oben um die 4000 Höhenmeter in den Beinen haben. Es ist eine bitterkalte Nacht ohne Sterne und ohne Mondlicht. Hat es auch hier geregnet oder geschneit? Es könnte durchaus eisig sein. Stöcke sind überall da, wo Rutschgefahr besteht, eine große Hilfe. Hat der Italiener eigentlich überlebt? Ich weiß es bis heute nicht. Ich nehme es an. Wie es ihm wohl geht? Ob er wieder laufen kann? Wovor habe ich Angst? Ich möchte nicht sterben. Obwohl ich mir unter dem Prozess des Sterbens noch etwas vorstellen kann und es Zeiten in meinem Leben gab, als ich sterben wollte. Zumindest war ich damals der Ansicht, dass ich das wollte. Tod hingegen ist ein Wort, unter dem ich mir nur wenig vorstellen kann, so irreal erscheint mir der Gedanke. Ultratrail-Laufen ist statistisch gesehen viel weniger gefährlich als Alpin-Bergsteigen. Doch ein Rennen am Berg, insbesondere wenn man so hoch und so lange unterwegs ist, birgt Gefahren: Man kann in ein Gewitter geraten, abstürzen oder sich verlaufen. Letzteres führt nur selten zum Tod. Doch wer seinen Körper wie die Teilnehmer beim Tor des Géants an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit heranführt, muss wissen, wie er mit Wind, Wetter und extremer Müdigkeit umgeht. Und spätestens mit dem Unterzeichnen der Anmeldeunterlagen ist klar, dass dieses Abenteuer, wie alle richtigen Abenteuer, gefährlich ist. Mal mehr, mal weniger. Manches lässt sich kontrollieren, alles nicht.

11 www.tordesgeants.it/en/news/col-de-la-crosatie-update-n°2 (13.5.2021).

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