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Die Tour der Giganten

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RedBull.com bewertet den Tor des Géants im italienischen Aostatal auf der Liste der zehn „härtesten Ultramarathons der Welt“ mit einem Härtefaktor von neun.1 Getoppt wird er einzig vom Western States 100, der jedes Jahr in Kalifornien stattfindet. Einem Rennen, das nur halb so lang ist wie der TOR. Der Western States, der mit 100 Meilen, 5500 Höhenmetern im Aufstieg und 8800 Höhenmetern im Abstieg dem TOR nicht annähernd das Wasser reichen kann, genießt also immer noch den Ruf als härtester Ultramarathon der Welt. Vielleicht weil dort die Gefahr besteht, von einem Bären gefressen zu werden. Wobei die Suchmaschine Google unter „Läufer von Bär gefressen Western States 100“ keine Ergebnisse liefert. Es ist schwierig, nein sogar unmöglich, über etwas zu urteilen, was man selbst nicht erlebt hat. Deshalb an dieser Stelle nur meine persönliche Vermutung: Es ist das knappe Zeitlimit von 30 Stunden in Kombination mit dem sehr heißen Klima, das die meisten Läufer beim Western States niederstreckt. Eine Gefahr, die man als Läufer nicht unterschätzen soll, da sie am Ende ebenso gefährlich sein kann wie der Bär. Darüber hinaus reicht ein Blick auf die Webseite des Western States und die Auflistung der Ergebnisse seit 1974 (!),2 um zu verstehen, warum das Rennen immer noch als das legendärste Langstreckenrennen der Welt gilt. Und während der Western States auf RedBull.com eben als „das härteste Ultra Trail Race der Welt“ bezeichnet wird, ist der Tor des Géants dort als „der Lauf für Masochisten“ gelistet. Das sehe ich anders, doch eines ist Fakt: Der TOR bietet durch seine enorme Distanz und die Streckenprofilierung bei einem Zeitlimit von 150 Stunden deutlich mehr Zeit zum Kampf mit den äußeren Anforderungen und dem inneren Schweinehund.

„Der TDG – oder „the Tor“ – ist sogar unter erfahrenen Ultra-Läufern gefürchtet, und die Statistiken sprechen für sich: 336 Kilometer, 24.000 Meter Anstieg, 25 Berganstiege über 2.000 Meter – und nur 50 Prozent Finisher. Die Rekordzeit beträgt drei Tage. Die Bedingungen sind oft miserabel. Man stelle sich frostkalte Temperaturen vor, mit Böen, die einen vom Berg drücken wollen, Regen, Graupel, Hagel, Donner, Blitze und lange, dunkle Nächte. Dann der Schlafmangel und die Halluzinationen. Auf der Habenseite? Man erlebt Sonnenaufgänge, sternenfunkelnde Nächte, Begeisterung, Zorn, Angst, Trostlosigkeit und Freude.“3

Wenn ich von mir auf andere schließen würde, ist der TOR aber keineswegs ein Lauf für Masochisten, sondern einer für Optimisten. Menschen, die darauf hoffen, möglichst viel von dem einen zu bekommen und möglichst wenig vom anderen, auch wenn das für einen Realisten bei dieser Auflistung schwer begreiflich ist. Bis 2020 gab der Veranstalter 330 Kilometer und 24.000 Höhenmeter als zu bewältigende Strecke an. Zahlen, die bis heute noch immer auf allen Plakaten und Merchandisingartikeln zu finden sind. Auch wenn 2021 im Streckenprofil erstmals 349 Kilometer und 30.879 kumulierte Höhenmeter stehen. Die International Running Association hat die Strecke 2019 offiziell mit einer Gesamtdistanz von 357,9 Kilometern und 25.300 Höhenmetern im Auf- und Abstieg ausgewiesen.4 2021 übrigens mit 352,50 Kilometern und 25.170 Höhenmetern, was zeigt, dass hinsichtlich der Zahlen Uneinigkeit herrscht. Die GPS-Geräte, die die Läufer mit sich führen zeigen Jahr für Jahr unabhängig voneinander um die 360 Kilometer und 30.000 Höhenmeter an. 2021 sollen es sogar sechs Kilometer mehr gewesen sein. Doch der TOR ist mehr als Zahlen. Er ist auch mehr als körperliche Anstrengung. Alessandra Nicoletti, Race Director und Ideengeberin des Tor des Géants, beschreibt es so: „Der TOR ist vor allem eine Reise, während der die Teilnehmer einer beispiellosen Landschaft begegnen, anderen Läufern, dem herzlichen Willkommen der Region und nicht zuletzt ihrem inneren Ich.“5

Eine Reise, auf die ich dich gerne mitnehmen möchte. Und das ganz ohne „Regen, Graupel, Hagel, Donner, Blitze und lange, dunkle Nächte, Schlafmangel und Halluzinationen“, vorausgesetzt, du liest dieses Buch in deinem mehr oder weniger gemütlichen und einigermaßen sicheren Zuhause und gönnst dir nach spätestens 24 Stunden ein wenig Schlaf. Bereit?

1 Frederik Ölmqvist/Henner Thies (2020), Die härtesten Ultramarathons der Welt, www.redbull.com/de-de/ultramarathons-die-laengsten-haertesten-schwiergstenweltweit (28.1.2022).

2 www.wser.org/results (1.2.2022).

3 Frederik Ölmqvist/Henner Thies (2020): Die härtesten Ultramarathons der Welt, www.redbull.com/de-de/ultramarathons-die-laengsten-haertesten-schwiergstenweltweit (28.1.2022).

4 https://itra.run/Races/RaceDetails/Tor.des.Glaciers.Tor.des.Géants®/2019/38929 (22.1.2022)

5 Stefano Torrione (2013), Tor des Géants: Valle d’Aosta, San Vendemiano, S. 17: „The TOR is above all a journey, during which trailers encounter unparalleled landscapes, other runners, a warm local welcome and not least of all their inner selves.“

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