Читать книгу Trail and Error - Annabel Müller - Страница 12
Wahrheit oder Pflicht
ОглавлениеEs dauert keine zwei Minuten, bis Verena auf die Unterhaltung mit Jill zurückkommt. Offensichtlich hat sie mehr mitbekommen, als ich gedacht habe.
„Was war denn deine peinlichste Situation?“, schwenkt sie schnell um, nachdem ich erkläre, dass ich keine Lust habe, über Jills Durchfall zu sprechen.
Dank der spontanen Erinnerung an längst vergangene Zeiten, antworte ich flapsig: „Ich nehme Pflicht.“
Verena ein bisschen zu verwirren, gibt mir Zeit, zu überlegen, ob und wie viel ich ihr hier und jetzt erzählen möchte, bevor mein Mundwerk schneller ist als mein Verstand.
„Ich verstehe nicht.“
„Na, du hast vorher vergessen, zu fragen. Ich nehme Pflicht. Wahrheit oder Pflicht – das kennst du sicher. In meiner Pubertät haben wir das gespielt. Auch unter dem Namen Flaschendrehen, da bei uns die Flasche darüber entschieden hat, wer an der Reihe ist. Der, der vorher dran war, die Wahrheit zu sagen oder seine Pflicht zu erfüllen, hat gedreht und durfte dem Nächsten die Frage oder Aufgabe stellen.“
„Flaschendrehen kenne ich nur als Trinkspiel.“
„Na, das war dann bei uns die Ü-16-Variante von Wahrheit oder Pflicht. Man musste trinken, eine Aufgabe erfüllen oder eine Frage beantworten. Die Kombination war meist ganz schön explosiv. Irgendwann platzte fast immer die Bombe.“
„Ja, das kenne ich. Manchmal mit und manchmal ohne Happy End. Nur 16 war ich damals noch nicht. Hast du Alkohol?“
„Na klar. In der einen Flask ist Wasser, in der anderen Wodka“, entgegne ich ironisch. Was für eine Frage.
Im Grunde war es auch keine Frage, sondern vielmehr Taktik. Verena ist zwar voll auf meine Geschichte eingestiegen, aber ohne sich in die Irre führen zu lassen: „Ich sehe auch keinen Läufer, den du als Pflicht küssen kannst.“
Die Aufgabe hatte damals fast immer was mit dem anderen Geschlecht zu tun. Ein Kuss, ein Tanz, fünf Minuten mit einem der Jungs allein in einem Raum sein usw.
Und sie ergänzt: „Siehst du, du hast keine Wahl. Es bleibt bei der Wahrheit. Was war deine peinlichste Situation?“
Touché. Ich gebe mich geschlagen: „Ich verrate es dir. Unter einer Bedingung.“ Ich schaue Verena in die Augen, um sicherzugehen, dass sie mich ernst nimmt: „Alles, was wir hier am Trail erzählen, bleibt auf dem Trail. Ultratrail-Läuferinnen-Ehrenwort.“
„Eh klar. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Du kannst mir vertrauen.“
„Ich meine, es war ein Sonntag im Mai. Das Wetter war schön, noch nicht sonderlich heiß, und der Bauernmarkt war gut besucht. Sehr gut besucht. Mein damaliger Freund Markus und ich verkauften dort wie so oft an den Wochenenden Brot. Er hatte sich zwei Jahre zuvor selbstständig gemacht. Seitdem war die Firma sein Leben. Obwohl ich in der Regionalleitung und später mit der Ausbildung zur Physiotherapeutin mit zwei Jobs genug zu tun hatte, unterstützte ich ihn, wo ich konnte. Als es zeitlich nicht mehr machbar war, kündigte ich meinen Job, und er bezahlte mich für die Hilfe auf 450-Euro-Basis. Ein notwendiger Schritt, den ich vom ersten Tag an bereut habe. Das Machtverhältnis verschob sich. Nicht nur in seiner Firma, auch in unserem Privatleben. Er trennte nicht zwischen seiner Firma und seinem Leben und ebenso wenig zwischen meinem Angestelltenverhältnis bei ihm und unserer Beziehung. Er war der Boss. In seinen Gedanken war er das bereits vorher, doch es gelang mir meistens, mich abzugrenzen. Nachdem ich auf seiner Gehaltsliste stand, gestaltete sich das schwierig. ‚Wer zahlt, schafft an‘, hatte mein Vater früher gesagt, und nachdem er aus dem Haus war, hat meine Mutter die Macht dieser Regel auf ihre Weise für sich genutzt.“
„Deine peinlichste Situation, nicht deine Lebensgeschichte“, ermahnt mich Verena.
„Sei nicht so ungeduldig. Das kommt schon noch. Wir arbeiteten also wie an so vielen Wochenenden und verkauften das frisch gebackene Brot in unserem weißen Verkaufszelt. Schwarz oder Weiß, bei Markus gab es nichts anderes. Und clean musste es sein. Clean bezeichnete bei ihm eine Mischung aus klar, sauber und makellos. Er war ein Perfektionist.“
„Huhu, du meinst wohl, du kannst bis zum Refugio um den heißen Brei herumreden und dich dann aus dem Staub machen.“
„Wohl eher aus dem Schnee“, scherze ich, in Erwartung, dass es am zweiten Pass ähnlich aussieht wie am ersten.
Verena wirft mir einen fordernden Blick zu. „Okay, okay.“
Es war nicht meine Absicht, sie hinzuhalten. Zumindest bis zu dem Moment, als sie mich auf die Idee brachte. Keine so schlechte Strategie. Aber auch ein wenig feige. Ich verwerfe also den Gedanken ans Kneifen und erzähle weiter: „Ich musste schon seit einer geschlagenen Stunde dringend auf die Toilette, aber die Schlange am Stand wurde nicht kürzer. Was gut war, denn wenn der Markt ein Misserfolg war, war Markus danach unausstehlich. Doch heute würde das nicht passieren. Wenn das so weiterginge, hätten wir in zwei Stunden alles verkauft – zwei Stunden vor Marktende. Aus Markus’ Sicht ebenso ein Grund, sich zu ärgern: Was man da noch alles hätte verkaufen können, wurde gedanklich ebenfalls als Verlust verbucht. ‚Ich geh kurz auf die Toilette‘, flüsterte ich ihm zu, warf den Kunden einen flehenden und entschuldigenden Blick zu und überlegte, wo ich am schnellsten Erleichterung finden konnte.
Die Schlange an den extra für den Bauernmarkt aufgestellten Containern war meist lang, nicht jeder hatte so viel Verständnis, dem Marktpersonal den Vortritt zu lassen, und zu allem Überfluss hatte ich vergessen, Geld einzustecken. Dumm, denn die Kassiererinnen machten leider auch keinen Unterschied zwischen Verkäufern und Kunden. Für sie sind alle Kunden. An den Markttagen unter der Woche war ich regelmäßig allein, und da gab es nicht einmal Toilettencontainer. Ich ging dann schnell in das Restaurant an der Ecke des Marktplatzes. Es war zwar nicht das einzige, aber der Vorteil gegenüber allen anderen war der Hintereingang. Er war meist offen, und man konnte von da aus auf die Toilette, ohne an den Kellnern vorbei durchs Restaurant gehen zu müssen. Der dicke schwere Samtvorhang, der die Toilette vom Gastraum trennte, war meist halb offen. So auch an jenem Tag. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, dass die Toilettentür trotz des gut besuchten Restaurants ebenfalls offen war. Denn mit Pech musste man anstehen. Es war eine Einzeltoilette.“
„Und was ist daran jetzt so peinlich?“, fragt Verena.
Sie hat noch weniger Geduld als ich. Und sie hat recht, ich sollte zur Sache kommen. Wenn ich nicht doch noch kneifen möchte.
„Ich machte mein Geschäft.“ Was ein dummer Ausdruck. „Ich musste groß“, versuchte ich es erneut. Im Gegensatz zu Jill fällt es mir schwer, mit Fremden über meinen Stuhlgang zu sprechen.
Verena findet es offensichtlich sehr lustig, wie ich nach den passenden Worten suche.
„Als ich fertig war, hätte mir feuchtes Toilettenpapier gute Dienste erwiesen“, versuche ich die missliche Lage zu umschreiben.
„Lass mich raten, es gab keines.“
Es gibt so gut wie nie feuchtes Toilettenpapier auf öffentlichen Toiletten.
„Nein, es war ein gutes, gehobenes Restaurant, aber nicht der Schindlerhof“, antworte ich, ohne Gewissheit, dass es auf den dortigen Örtlichkeiten welches gibt.
„Ein Standardproblem“, kommentiert Verena, „aber noch immer nicht peinlich.“
Ich überlege, ob ich ihr das wirklich erzählen soll. Der einzige Mensch, der diese Geschichte bisher kennt, ist Björn. Ich dachte, er habe ein Anrecht darauf, es zu erfahren, bevor er mich heiratet. Ich wollte es ihm vor der Frage des Standesbeamten – wenn jemand einen gerechtfertigten Grund vorzubringen hat, warum dieses Paar nicht heiraten sollte – lieber noch unter vier Augen erzählen. Die Frage wurde dann bei der Trauung nicht einmal gestellt.
„Wo waren wir stehen geblieben?“
„Feuchtes Toilettenpapier.“
„Ach genau. Da es in der Toilette ein Waschbecken gab, nahm ich normales Klopapier und machte es nass. Dabei stand ich mit dem Rücken zur Tür, die ich unglücklicherweise nicht verriegelt hatte.
„Du meinst unachtsamerweise“, korrigiert mich Verena mit einem schadenfrohen Unterton.
Du weißt doch, Annabel, wer den Schaden hat … Vielleicht ist es eine dumme Idee, ihr das zu erzählen, aber jetzt bringe ich es zu Ende: „Egal wie, just in diesem Moment ging die Tür nach außen auf. Beim erschrockenen Blick über die Schulter sah ich nicht nur den flüchtenden Türöffner, sondern auch die Gäste im Restaurant. Und sie mich. Durch den geöffneten Samtvorhang hatte man von vielen der Tische einen optimalen Blick auf das Schauspiel. Da der Öffner der Tür, vermutlich geschockt durch den unerwarteten Anblick, kehrtmachte, ohne die Tür zu schließen, übernahm ich das. Ich drehte mich um, sah notgedrungen für einen weiteren Moment in die Gesichter der Restaurantbesucher, griff mit einer Hand zur Tür und zog diese so rasch wie möglich zu.“
„Mit heruntergelassener Hose? Das ist wirklich peinlich“, prustet Verena vor Lachen und stolpert beinahe über einen größeren Stein.
„Pass auf, dass du nicht hinfällst vor Lachen“, scherze ich und füge schadenfroh hinzu: „Du weißt ja, wer den Schaden hat …“
„Ist denn dann noch was passiert?“
„Nein, zum Glück nicht. Nachdem ich die Tür wieder geschlossen und beendet hatte, was ich angefangen habe, inklusive Händewaschen, habe ich die Tür wieder geöffnet und bin, den Kopf zur Seite gedreht, damit man mein Gesicht vom Restaurant aus nicht sehen konnte, zum Hintereingang beziehungsweise jetzt -ausgang gestürmt. Draußen habe ich mich unter die Leute gemischt und bin zurück zu unserem cleanen Verkaufszelt. Bis zum Ende des Marktes hatte ich panische Angst, es könnte mich jemand erkennen. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Markus diese Geschichte mitbekommen hätte. Zum Glück erkannte mich niemand, zumindest hat mich niemand jemals auf diese Situation angesprochen. Ich kann dir nicht sagen, warum ich es Björn erzählt habe. Aber es gab immer wieder Momente, da hatte ich Angst, es könne jemand kommen und sagen: ‚Waren Sie nicht diejenige am Bauernmarkt? Sie wissen schon, damals auf der Toilette im Restaurant …‘“
„Du hättest die Geschichte mit ins Grab nehmen können. Vermutlich hätte es nie jemand erfahren.“
„Richtig. Zugleich war ich unglaublich erleichtert, als ich es Björn erzählt hatte, der meine Scham verstand, mich aber nicht verurteilte. Er musste sogar lachen, so wie du. Und wenn du diese Geschichte irgendwem erzählst, muss ich dich leider töten.“
„Ohoho, schon gut. Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Wusstest du, dass die Bakairí in Zentralbrasilien sich für ihre Nacktheit kein bisschen schämen, es bei ihnen jedoch verpönt ist, in der Öffentlichkeit zu essen?“9
„Interessant. Warum kennst du dich da aus?“
„Ich habe während meiner Hotelfachausbildung erlebt, dass es in anderen Kulturen andere Normen gibt. Aus deutscher Sicht ist Schmatzen und Rülpsen beim Essen ziemlich ekelhaft. Als ich beim Frühstück im Hotel einmal asiatische Geschäftsleute bediente, ahnte ich, dass in diesen Ländern andere Sitten gelten. So wie bei den Bakairí.“
Ich sehe das Bild, wie sich ein nackiger Bakairí während eines Ultralaufs zum Riegelessen hinter einem Busch versteckt. Eine lustige Vorstellung. „Normal“ ist eben überall anders.
9 Jennifer Jacquet (2015), Scham: Die politische Kraft eines unterschätzen Gefühls. Frankfurt am Main, S. 45.