Читать книгу Die Geierkrieger - Arthur Krasilnikoff - Страница 10
Sie sitzen im Schatten unter dem Apfelblattbaum
ОглавлениеDer Baum steht westlich von der Mitte der Siedlung, die oben auf einem nach Süden gehenden Hang liegt. In alle Richtungen breitet sich die Hochebene weit unter dem sengenden Blick des Himmels aus.
Es sind bestimmt ein Dutzend Hütten oder mehr, die den Menschen als Wohnungen dienen. Den Menschen der Dornenbüsche. Sie gehören zum roten Volk. Ncoakwe. Oder sie nennen sich einfach kwe.
Sie sitzen viele Tage dort, während sie Werkzeuge und Ledersachen fertig stellen, die als Kunsthandwerk an die Aufkäufer verkauft werden sollen. Während der sich unablässig jagenden Jahreszeiten haben sie im Schatten ihre Beute mit Messer und Nadeln und ihr Leben mit dem Mund verarbeitet. Sie erzählen diese Geschichten, weil sie mit ihnen weiterleben.
Da sind unter anderem NxauNxau, Kanta, Abel, Duitwé. Qose und Willie, der eigentlich ein Farmersohn aus Ghanzi ist. Khuuo, der aus dem Norden gekommen ist, aus Chobe. Er ist zufällig da, während die Geschichte erzählt wird.
Zwischendurch sind sie mit anderen Dingen beschäftigt, doch dann kommen sie zurück und erzählen weiter.
Duitwé und Qose haben Zickzackstreifentätowierungen über den Augenbrauen, auf den Wangen, doch nicht aus Schönheitsgründen. Die Tätowierungen sind mit Asche gefüllte Narben von Kopfschmerzen der Seele und des Körpers.
Duitwé ist die Älteste. Sie ist so alt, dass niemand ihr Alter kennt, denn sie ist älter als alle anderen. Ihre Haut ist von Runzeln durchzogen, und ihr Gesicht zeigt tiefe Furchen. Es zerspringt vor Lachen und schnalzenden Lippen, ob sie nun von Lachen oder Schmerzen erzählt. Und hinter ihren Worten zittert unaufhörlich ein Husten, der ab und zu so gewaltsam aus ihr herausbricht, dass sie aufstehen und sich aushusten muss, um wieder Luft zu bekommen.
Qose ist inzwischen auch in die Jahre gekommen, auch wenn sie noch immer einen ausgelassenen Melonentanz tanzen kann. Man bemerkt sie nicht, trotzdem ist sie die, die immer da ist. Doch hat man ihr einmal in die Augen gesehen, vergisst man ihren Blick nie mehr. Sie ist Kantas Mutter. Jung ist sie nicht mehr.
Khuuo ist auch alt. Dennoch hat er die lange Reise von Nordosten hier herauf unternommen, weil die Familie seines Vaters aus diesem Teil des Sandgesichts stammt. Er hat eine Nase, von der man ebenso gut heruntergleiten könnte wie von dem Hügel nördlich der Siedlung. Er hat sich immer gewünscht, diese Gegend kennen zu lernen. Jetzt hat er Zeit dazu und ist hergekommen.
Willie ist der Jüngste, auch wenn die meisten ihn nicht mehr als jungen Mann bezeichnen würden. Er hat pechschwarzes Haar, das jetzt voll grauer Funken ist. Aber seine Augen sind sanft und glühend zugleich.
Abel ist ungefähr so alt wie Duitwé. Beide dürften sich einem Jahrhundert an Lebenszeit nähern. Sein Gesicht ist davon geprägt, dass er ein Leben lang neugierig war. Er ist der Christ unter ihnen. Der Pfarrer. Der Missionar. Den größten Teil seines Lebens hat er auf den Farmen der Weißen zugebracht. An seiner linken Hand fehlt der kleine Finger.
NxauNxau ist ein guter Jäger, aber er ist nicht mehr jung. Deutlich sieht man die schwarze Narbe zwischen den Augen. Asche, die in Hautkratzer gerieben worden ist, das soll ihm bei der Jagd Glück bringen. Auch Abel und Kanta haben solche Kratzer zwischen den Augen, aber sie sind nicht so deutlich sichtbar. NxauNxaus Kinder sind schon erfahrene Jäger. Er erzählt seine Geschichten ohne Umschweife und erregt nicht viel Aufsehen.
Kanta ist der Erzähler unter ihnen. Man sieht ihm an, dass er das, was er erzählt, ganz tief aus sich herausholt, als würde es gerade passieren. Seine Stimme ist weich und tief. Seht ihn euch an.
Zusammen mit Willie ist er der, der die Welt außerhalb der Kalahari bereist hat. Bis Europa und Amerika sind sie gekommen. Nur im Traum haben sie gewusst, dass die Welt sich so weit ausdehnen kann.
Mathilda sollte man nicht übergehen. Sie ist Kantas Tochter und nach Hause gekommen, nachdem sie als junges Mädchen einige Jahre bei einer schwarzen Familie in der Hauptstadt gelebt hat. Sie hat ihr Tonbandgerät mitgebracht und wir fangen an. Sie ist kein Kind mehr, das steht fest.
Schließlich vergessen wir das Tonbandgerät. Mathilda kommt geschmeidig wie der Schatten einer Schlange und wechselt die Bänder, wenn es nötig ist.
Kinder und Jungen lauschen, kommen und gehen. Erwachsene sitzen etwas im Hintergrund und hören zu. Rufen hin und wieder dazwischen. Die Geschichten sind so zufällig wie ihre Zuhörer. Doch hört man zu, sind sie wichtig, und sie passieren, auch wenn man sie nicht hört.
Es ist die Zeit des Jahres, in der die Früchte reifen und die Jagd nicht schlecht ist. Dai, Kantas Frau, ist mit ein paar anderen Frauen draußen, um Melonen zu sammeln. Der Regen kann noch immer fallen, und die Nächte werden langsam kühler.
Eine Zeit, in der das Leben leicht sein müsste.
Fremde kommen hinzu, lauschen und gehen wieder. Ihre Geschichten sickern in die der anderen.
Kanta erzählt noch immer.