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Die Geierkrieger Der Elenstier
ОглавлениеDamals hieß er Duube. Er war zehn Jahre alt und verstand das Ganze eigentlich nicht. Alles zerfiel, wie Vögel vom Himmel fallen.
Als er am nächsten Morgen erwachte, lange bevor die Sonne genug Kraft hatte, etwas Lebendem zu schaden, machte er sich gleich auf den Weg. Er hatte keinen Grund zu bleiben. Es gab nichts zu essen. Ja, es gab keinen Tee, keinen Maisbrei oder etwas anderes.
Er betrachtete es als Notwendigkeit, Richtung Westen zu gehen. So war er sicher, niemanden zu treffen, der ihn kannte. Es war seine größte Angst, so lange zu leben, dass jemand, nachdem er seinen Namen gehört hatte, zu ihm sagen würde: »Duube? Du bist doch bestimmt der Sohn von Nqaba und Kito. Nein, das kannst du nicht sein! Wessen Kind magst du sein?«
Vielleicht würde er erwachsen und sein Gegenüber alt sein, wenn das geschähe. Vielleicht hätte der andere seine Eltern gut gekannt und würde sagen: »Es ist unglaublich, wie du Bo ähnelst. Bist du mit ihm verwandt? Wie hast du gesagt, dass du heißt?«
»Ich heiße Ciko.«
»Ciko. Ich kenne niemanden, der so heißt. Wie heißen dein Vater und deine Mutter?«
Bei diesen Gesprächen glaubte er immer, dass das Wiedererkennen erst passieren würde, wenn er erwachsen geworden wäre und seine Pflegeeltern, die zu treffen er sich sicher war, tot wären, sodass er ihre Namen nennen könnte, ohne zu lügen.
»Ja. Ich kenne sie nicht, und du hast gesagt, dass deine Mutter an einer Krankheit gestorben ist, von der man Narben bekommt? Die erst rote Wunden sind.«
So ging er umher und redete mit fiktiven Menschen.
Die Mistkäfer. Lange starrte er auf die Mistkäfer, die sich in einem Scheißehaufen versammelten wie eine Gemeinde mit schwarzen Regenschirmen bei Regenwetter. Es war ein Scheißehaufen von einem Elenstier. Er wusste genau, dass so die Tiere auf die Welt gekommen waren.
Ja, so war das, dachte er, während er auf die Mistkäferversammlung starrte. Er begann sich selbst Geschichten zu erzählen, aber nicht zu laut. Vielleicht erzählte er sie auch den Mistkäfern. Sie mussten sie ja allmählich auswendig können.
Eines Tages hatte Gxwma einen Teig gemacht. Einen kleinen Klumpen des Teigs verwahrte er in einem Topf mit Deckel. Einmal täglich hob er den Deckel, um nach dem Teig zu sehen. Ja, ich weiß wirklich nicht, woraus der Teig gemacht war, aber jeden Tag war er ein Stück weiter aufgegangen.
Donnerwetter, wenn nicht allmählich aus dem Teig ein kleines Tier wurde.
Damals gab es nichts als Gras und Honig. Mit jedem vergangenen Tag wurde das Wesen im Teig größer, und nach und nach konnte man sehen, was es werden würde. Zuerst war es ein kleiner Ball, dann wuchs es und wurde zu einem Tier mit Haut. Zuerst glatt wie die Oberfläche des Teigs, dann behaart wie eine Antilope.
Wenn man jetzt den Deckel hob und in den Topf guckte, sah man deutlich, dass es ein Elenstier war. Unbegreiflich, denn damals gab es nur Dunkelheit und kein Licht. Ja, Gxwma hatte kein Feuer. Den Strauß gab es noch nicht. Es gab überhaupt kein Tier mit Ausnahme des kleinen Kerls da unten im Topf. Und der wusste wohl kaum, was er war. Denn er war durch und durch aus Teig geboren und in einem Topf erschaffen. Gxwma sah jeden Tag nach ihm. Als er groß genug war, setzte er ihn an einem geheimen Ort aus.
Das war Gxwma. Und dann seine Frau. Somit waren sie jetzt zu zweit.
Überall herrschte Dunkelheit, und es gab weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer. Es war dunkel wie im Magen eines Tiers.
In diesem Dunkel gab es einen besonderen Ort, unbekannt und geheim. Nur Gxwma wusste, wo der Ort war, denn er versorgte den Elenstier mit Futter. Noch heute frisst der Elenstier nur Gras, das frisch sprießt, wo das alte abgebrannt worden ist, denn dieses Gras ist süß.
Jedes Mal, wenn Gxwma mit seiner Frau draußen war, um Honig zu suchen, gab er dem Elenstier heimlich seinen Teil ab, damit er wuchs und dick und groß wurde. Die Kinder mussten zu Hause bleiben, obwohl zwei so groß waren, dass sie wie erwachsene Jäger hätten jagen können, wäre es nicht so dunkel gewesen. Und hätte es Tiere gegeben, die man hätte jagen können, aber die gab es nicht.
Dafür gab es einen Jungen, einen richtigen Jungen. Den kleinen Bruder der Großen. An ihn sollt ihr euch erinnern.
Gxwma war mehr und mehr davon in Anspruch genommen, den Elenstier mit Honig zu füttern. Und er wurde größer und größer. Ja, er wurde fett und schwer von dem ganzen Honig. Nur Gwxma konnte ihn aus seinem Versteck hervorrufen.
»Kga-na-na-kga«, rief er.
Und dann kam der Elenstier, fett und groß. Er war so schwer geworden, dass er nur langsam zu ihm kommen und den Honig fressen konnte. Gxwma trug ihn in großen Grasbüscheln.
Wenn er mit seiner Frau Honig in Grasbüscheln gesammelt hatte, weil sie nicht genug Töpfe und Gefäße für den ganzen Honig hatten, sagte er zu seiner Frau: »Ich verschwinde noch einmal. Geh du nur schon heim und bereite den Jungen ihr Essen, ich komme auch bald.«
Ja, nicht einmal seiner Frau hatte er von dem geheimen Tier erzählt. Und sie hatte wohl jeden Tag, wenn er zu dem Ort kam, nur gedacht: Der eine Busch ist doch so gut wie der andere. Oder: Natürlich kann er noch pinkeln gehen, bevor wir nach Hause gehen.
Jedenfalls liebte Gxwma den Elenstier über alles in der Welt. Nichts anderes schien etwas zu bedeuten, doch niemand kannte Gxwmas Gedanken.
Allmählich gab es zu Hause immer weniger zu essen, da Gxwma fast alles dem Elenstier gab. Der wurde fetter und fetter und fraß mehr und mehr. Die ältesten Jungen beklagten sich, wenn ihre Mutter mit dem, was sie tragen konnte, nach Hause kam. Denn das, was sie nach Hause brachte, reichte ja nicht, wenn alle drei davon satt werden sollten. Die Söhne wurden immer hungriger, je größer sie wurden. Auch Gxwma und seine Frau bedienten sich, bilde ich mir ein, auch wenn die Jungen das Beste bekamen. Die Kinder konnten ja nicht aufhören zu wachsen.
Was machte die Mutter der Jungen? Sie hätte Gxwma doch auffordern sollen, seinen Honig stehen zu lassen, wenn er austreten ging. Vielleicht aß er ihn selbst. Und außerdem hatte sie ihm ja versprochen, den Jungen nichts zu sagen. Trotzdem dürfte sie sich allmählich gewundert haben. Wer weiß das schon? Vielleicht wusste sie es, sagte aber nichts. Es kann doch sein, dass sie es ihm anfangs gönnte. Und erst als die Jungen über den Hunger klagten, der kniff und ihre Mägen plagte, dass sie ohne Unterlass knurrten, dachte sie darüber nach.
Es war ja noch immer stockfinster, selbst mitten am Tag. Noch immer gab es weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer. Es ist doch klar, dass die Jungen sich zufrieden geben mussten. Aber sie waren nicht dumm, die beiden Jungen. Obgleich der Kleine es noch nicht verstand. Er hat noch mehr Essen als die anderen bekommen, da er der Jüngste war. Die Großen dachten, wir müssen einen Plan schmieden. Und das taten sie.
Der eine sagte: »Kleiner Bruder, wir müssen miteinander reden. Wir glauben, dass Vater das meiste isst, bevor Mutter und er nach Hause kommen. Allerdings ist Vater nicht dicker geworden. Aber wir glauben trotzdem, dass er es isst. Mutter wird nichts sagen.«
Und der andere: »Ja, sie sagt, dass sie nicht mehr gefunden haben, aber das glauben wir nicht. Wir wollen, dass du morgen mitgehst. Wir müssen wissen, was passiert. Ob es wirklich weniger zu essen gibt als früher. Du musst Vater nur genug zusetzen, dann kann er nicht nein sagen.«
Der kleine Bruder blieb dabei, dass er das nicht wollte. Wozu sollte er auch?
Die beiden Jungen antworteten im Chor: »Aber du musst mitgehen, dann hören wir auch auf, dich zu necken!«
Der andere fügte noch hinzu: »Dann darfst du auch mit uns spielen.«
Vielleicht haben sie ihm das gesagt, wer weiß, jedenfalls stimmte er zu.
Am nächsten Morgen, es war noch immer dunkel, rief Gxwma seiner Frau zu, dass sie auf Honigjagd gehen konnten.
Sofort begann der jüngste Sohn herzzerreißend zu weinen.
»Was ist denn mit dir los?«
»Ich will mit«, heulte der Junge.
Und die Mutter sagte: »Das geht nicht, es ist doch viel zu dunkel für so einen kleinen Jungen.«
Daraufhin weinte er noch mehr.
Die großen Jungen antworteten: »Nehmt ihn mit, sonst heult er den ganzen Tag. Dieser Lärm ist nicht auszuhalten.«
Die Mutter sagte: »Hör auf zu weinen. Damit erreichst du nichts.«
Als es eine ganze Zeit so weitergegangen war, war Gxwma der Sache müde und fasste einen Beschluss: »Lass ihn mitkommen. Er kann mit mir gehen. Ich kann ihn ja tragen, wenn er müde wird.«
»Ja«, jubelten die beiden großen Jungen. »Endlich haben wir Ruhe.«
»Wenn es denn so sein soll, lass uns gehen«, meinte die Mutter schließlich. »Aber du nimmst ihn.«
»Ja, ja«, sagte Gxwma und dabei blieb es.
So gingen sie los: Der kleine Bruder hicksend und schniefend. An Gxwmas Hand und mit der Mutter im Schlepptau. Der Tag verging mit Gras und Honig sammeln. Es war ein köstlicher Honig, dick und süß und herrlich duftend. Und sie sammelten sehr viel davon. Als es endlich Zeit wurde, nach Hause zu gehen, trug Gxwma das größte Fuder.
Es war ja noch immer dunkel. Es gab weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer, doch trotzdem wusste Gxwma genau, wie spät es war. Also machten sie sich auf den Heimweg. Nicht weit von zu Hause wurde Gxwma langsamer und sagte: »Ich gehe noch austreten, geht ihr nur schon heim.«
Doch der schlaue kleine Bruder antwortete: »Ich muss auch pinkeln.« Also begleitete er den Vater. Währenddessen ging die Mutter nach Hause, um das Abendessen zu bereiten.
Jetzt konnte Gxwma sein Geheimnis nicht länger für sich behalten und sagte: »Jetzt bist du mein Mitwisser, aber untersteh dich, irgendjemandem etwas zu sagen, verstanden?«
Der Junge nickte und versprach es.
»Kga-na-na-kga«, rief Gxwma.
Zuerst war es ganz still, doch dann polterte und stampfte es im Gras. Der Elenstier kam. Er war so schwer. So schwer. So schwer. So fett war er von dem ganzen Honig geworden.
Langsam, langsam, Schritt für Schritt kam er hervor. Er war so groß wie ein Haus. Er war das größte Tier. Er war das einzige Tier auf der Welt.
Lange bevor das Tier in Sichtweite kam, konnte man die Geräusche seiner Schritte hören, so dröhnten sie. Ja, er trat so hart auf, dass die Körper des Großen und des Kleinen bei jedem seiner Schritte erbebten. Der kleine Bruder keuchte vor Verblüffung. Noch nie hatte er etwas Ähnliches erlebt. Er hatte zwar noch nicht so lange gelebt, aber dass es so etwas auf der Welt gab, hatte er nicht erwartet. Ein so riesiges Tier.
Man hätte nicht glauben sollen, dass es aus einem kleinen Teigklumpen in einem Topf entstanden war. Plötzlich merkte der kleine Junge, dass der Elenstier von dem, was sie heute gesammelt hatten, zu fressen begann.
»Er frisst ja alles auf«, rief der Junge.
»Ssst, nicht so laut. Das ist mein Tier und es lebt von dem, was wir sammeln. Das Tier ist meine Freude und es hält die Welt in Gang. Du darfst kein Wort davon erzählen. Versprich es mir. Dann darfst du auch morgen wieder mitgehen.«
Und Gxwmas kleiner Sohn versprach es, die Hand fest auf das Herz gepresst.
Wenig später kamen sie nach Hause und aßen das Abendessen, das die Mutter aus dem, was sie tragen konnte, bereitet hatte. Am nächsten Morgen standen Gxwma und seine Frau bereit. Das Kind lag wie seine beiden großen Brüder noch in seinem Bett und schlief. Sie weckten ihn, und der Junge weigerte sich aufzustehen.
»Ich bin so müde und der Weg ist viel zu weit.«
Gxwma bot ihm an: »Aber du kannst meinen Bogen und meine Pfeile tragen.«
Man mag vielleicht denken, dass er damit schießen wollte.
Der Junge wiederholte: »Ich bin so müde und ich schaffe es nicht, so lange zu gehen.«
Schnell sagte die Mutter: »Lassen wir das Kind liegen. Komm.«
Sobald sie verschwunden waren, standen die älteren Brüder auf und plagten ihren kleinen Bruder.
»Erzähl. Was hast du herausgefunden?«
Sie bedrängten ihn weiter, bis er nachgab und ihnen von dem Elenstier erzählte.
»Ihr habt noch nie ein so großes Tier oder Wesen gesehen. Es ist so fett und schwarz wie die Dunkelheit. Vater gibt ihm den größten Teil des Honigs, und es frisst ihn mehr als gerne. Zuerst sagt er Kga-na-na-kga, damit es herauskommt. Aber ich weiß nicht mehr, was er sagt, damit es wieder geht.«
Die beiden großen Jungen wollten unbedingt sofort losgehen. Zuerst wollte der kleine Bruder nicht mit.
»Er schlägt mich tot, wenn ich euch den Ort zeige.«
»Natürlich tut er das nicht«, sagten die beiden Brüder. »Und außerdem wird Mutter es ihm verbieten.«
Also machten sie sich auf den Weg. Sie mussten ja nicht weit gehen. Trotzdem nahmen sie ihre Speere mit.
»Hier ist es«, flüsterte der kleine Bruder, obwohl Gxwma nicht in der Nähe war.
»Kga-na-na-kga«, rief der eine der großen Jungen.
Kurz darauf kam der Elenstier hervor. Mächtig und riesig und fett. Fett, das man es nicht glauben konnte. Schwer, dass der Boden bebte. Ja, größer als groß. Dunkler als das Dunkel selbst. Und das obwohl es weder Sonne noch Mond noch Sterne gab. Einen kurzen Augenblick keuchten die Jungen vor Verblüffung, aber nur einen Augenblick.
Unverzüglich stießen beide ihre Speere in das Tier.
Atemlos stürzte der Stier davon, aber es wurde nur ein kurzer keuchender Lauf.
Er fiel um und starb, fiel um und starb, und starb. So groß war er.
Sofort spürte Gxwma durch die Dunkelheit, dass die Welt sich veränderte.
Er konnte keinen Honig mehr finden. Wie sehr er auch suchte.
Im Gras.
Auf der Erde.
In den Tälern.
Auf den Höhen.
Er konnte keinen Honig finden. Und seine Frau auch nicht. Trotzdem gaben sie nicht auf. Sie suchten weiter.
Was Gxwma dachte, wusste niemand.
Und im Gras lag tot der fette Elenstier mit den Speeren der Jungen in seinem Körper. Schnell begannen sie das große Tier zu häuten und aufzuschlitzen. Das Fett floss. Der Stier war so groß, dass sie mit ihren Messern schnitten und schnitten.
Der kleine Bruder sagte: »Ja, jetzt werde ich totgeschlagen.«
Ermüdet von dem Häuten und Aufschlitzen, stöhnten die beiden Großen: »Quatsch. Natürlich wirst du das nicht. Wenn Vater das ganze fette Fleisch sieht, wird er wild vor Begeisterung sein. Er wird sich zu uns setzen und essen. Und auch wenn wir gegessen haben, wird noch immer massenhaft Fleisch da sein.«
So setzten sie sich hin und aßen und aßen, dass ihre Bäuche dick wurden.
Danach mussten sie sich hinlegen und schlafen, so müde waren sie geworden. Und der kleine Bruder lief sofort nach Hause.
Gxwma und seine Frau hatten nur ein paar Waben gefunden. Mit ihnen gingen sie heimwärts. Jetzt erhärtete sich Gxwmas Verdacht, dass etwas Entscheidendes passiert war. Noch immer war das Dunkel überall, doch Gwxma wusste, ob es Morgen oder Abend war. Als er zu der Stelle kam, ging er wieder austreten, wie er es gewöhnlich tat, und rief nach dem Elenstier: »Kga-na-na-kga«, rief er.
Nichts geschah.
Er rief noch einmal. Der Elenstier kam nicht. Jetzt wusste er, warum es keinen Honig mehr gab. Er wurde sehr wütend und traurig. Er ging mit seinen Waben nach Hause. Und traf den kleinsten Jungen.
Sofort sagte Gxwma: »Du hast das Geheimnis verraten. Es gibt keinen Honig mehr. Wo sind die Jungen?«
Der kleine Bruder antwortete: »Sie waren so wütend, dass es nicht mehr zu essen gab. Deshalb haben sie mich geschlagen, bis ich ihnen erzählt habe, was du mir gestern gezeigt hast. Sie haben ihre Speere mitgenommen. Sie haben den Elenstier getötet. Und jetzt werden sie mich töten, weil ich es dir erzählt habe.«
»Nein«, sagte Gxwma. »Nicht während ich hier bin.«
Die Mutter bereitete die Waben zu, und sie aßen sie und legten sich schlafen. Die beiden Jungen waren noch immer draußen an dem Ort, an dem sie den Stier getötet hatten.
Am nächsten Morgen stand Gxwma ohne ein Wort zu sagen auf und ging hinaus. Es war noch immer dunkel. Noch immer gab es weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer.
Er ging direkt zu dem toten Tier und setzte sich in den Matsch aus Fleisch und Blut, Eingeweiden und Darminhalt. Die Jungen schliefen noch immer. Er griff in die Eingeweide. Was er dachte, weiß niemand. Aber er nahm eine Hand voll Kot und warf ihn weit von sich, so weit er konnte, und während er das tat, sagte er: »Jetzt kann der Springbock kommen.«
Sofort war da ein Gewimmel von Springböcken.
Natürlich konnte man sie nur hören und nicht sehen, denn es war dunkel, und es gab weder Sonne noch Mond. Ja, woher er ihren Namen wusste und ob es die richtigen waren, die hervorkamen, das kann niemand wissen. Aber jetzt heißen sie jedenfalls Springböcke, und sie sehen genauso aus.
So saß er mitten in den Überresten des Tiers und warf den Darminhalt in alle Richtungen und rief: »Jetzt kann das Gnu kommen.«
Sofort sprangen und liefen Gnus in wirrem Getümmel umher. So fuhr er fort.
Alle Tiere entstanden, indem er sie bei ihrem Namen rief, während er den Kot in alle Richtungen warf. Sie kannten ihre Namen, deshalb kamen sie herbei, als hätten sie nur darauf gewartet, von ihm gerufen zu werden.
Weiter warf er mit Darminhalt und Matsch und Kot um sich. Giraffen und Elefanten und Strauße entstanden.
»Jetzt kann der Strauß kommen.«
So fuhr er fort, bis die Tiere da waren, alle Tiere.
Und sie machten einen Lärm, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Aber die Jungen schliefen so tief, dass sie nichts hörten. Man konnte es kaum glauben. Bei all dem Lärm.
»KauKai! Kaukhoi Ai Ai! Khoi! Kai«, riefen die Tiere im Chor.
»So hört doch«, sagte Gxwma zu seinen Söhnen. »Hört ihr wirklich nicht den Lärm, den die Tiere machen? Kommt, wacht auf!«
Erst da wurden sie endlich wach und hörten das Iahen und Blöken und Muhen der Tiere. Sie liefen sofort nach Hause und schnappten sich ihre Jagdausrüstung. Sie wussten sofort, was sie tun sollten. Natürlich liefen sie erst gegen den Wind. Dann krochen sie langsam in Schussnähe heran. Aber es war noch immer dunkel, und es gab weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer.
In der Zwischenzeit war Gxwma nach Hause gegangen. Nachdem er den Jüngsten geweckt hatte, fragte er: »Sag mir, wo ist das Federdings, mit dem die Jungen immer spielen?«
Der Jüngste holte das Teil. Ein Stock und eine Feder, die mit einer Schnur zusammengebunden waren. Woher es kam, wusste niemand. Es war einfach da. Gxwma warf es in die Luft, und es fiel sofort wieder herunter. Das wiederholte er viele Male, ohne dass irgendetwas passierte.
»Du musst die Feder an beiden Enden nass machen. Das tun sie immer, damit es lange in der Luft bleibt«, sagte der jüngste Sohn.
Das half. Diesmal flog es hoch in die Luft und blieb lange Zeit oben, bevor es dicht bei Gxwma wieder herunterfiel, denn es war ein gutes Spielzeug. Und er machte es noch einmal. Warf es hoch, hoch in die Luft. Diesmal stieg es immer höher hinauf, als wollte es nicht mehr herunterkommen. Plötzlich traf es die Mitte der Dunkelheit. Und die Sonne kam hervor und begann über allem zu scheinen. Je höher es stieg, desto stärker schien über alles die Sonne.
Alles war mit Gras bedeckt, aber es gab keine Bäume. Nicht einen Ort, an dem man draußen in der Ebene Schatten finden konnte. Und allmählich wurde es sehr warm.
Als nun die beiden jagenden Jungen alle Tiere sehen konnten, schlichen sie sich vorsichtig und listig an sie heran. Doch nach und nach begann die Erde an Knien und Ellenbogen zu brennen, dass sie sich aufrichten und auf den Füßen gehen mussten. Ungeachtet ob sie auf Zehen oder auf Fersen gingen, die Erde war sengend heiß, wenn man auf sie trat. Es brannte und tat furchtbar weh, ob sie nun auf den Fußaußen- oder Fußinnenseiten hüpften. Es half weder, mit krummen Beinen zu hinken, noch mit geraden einherzustolpern. Sie mussten sich auf den Bauch legen und kriechen. Trotzdem brannte die Erde noch immer so, dass es nicht auszuhalten war.
Plötzlich rief eine Stimme: »Redet nicht so viel darüber. Bittet die Bäume hervorzukommen.«
Und wirklich, da war plötzlich ein Baum.
Wenig später kam ein zweiter hinzu. Jetzt konnten sie darunter kriechen und hatten Schatten. So ging es weiter mit den Bäumen. Es wurden immer mehr. Die Jungen blieben im Schatten der Bäume, bis die Sonne zum Abend hin kleiner wurde.
Ja, das ist die Geschichte, wie die Sonne hervorkam.
Duube lächelte vor sich hin, denn diese Geschichte hatte er schon oft gehört. Sie hatten sich dabei vor Lachen gewälzt. Sie war so unmöglich und so unglaublich, wenn sein Vater sie erzählte. Und obwohl es ihn nicht mehr gab, hörte Duube doch seine lebendige Stimme, wenn er die Geschichte für sich selbst wiedererlebte.
Er saß in der frühen Morgensonne und zeichnete Vogelspuren in den Sand. Als die Holzmaus nur wenige Meter von ihm entfernt mit Zweigen und Wollflocken im Maul geschäftig von Ast zu Ast eilte, wurde ihm klar, dass er von jetzt an immer allein sein würde, ungeachtet wie viele Freunde oder gute Menschen er auch traf. Diesmal begann er nicht zu weinen. Wie er so in dem klebrigen Sand saß, der sich gelblich gegen die Haut des Schienbeins abhob, ähnelte er am ehesten einem Jungen, der von zu Hause abgehauen war. Gleich würde er aufstehen und weitergehen, zurück in die Siedlung. Wenig später würde er johlend die Hütten erreichen. Hallo.
Wenn es nur so wäre. Nie wieder würde er johlend in die Siedlung kommen.
Von jetzt an musste er ein Mensch sein, der alles vergessen hatte und alles neu lernen musste. Langsam, wie sich der Elenstier im Dunkeln vorwärts bewegte, lernte er einzusehen, dass er niemals mehr diese Verbundenheit erfahren würde, diese Ganzheit, die zwischen ihm und seinen Eltern, zwischen ihm und seinen Großeltern, zwischen ihm und seiner kleinen Schwester bestanden hatte. Er hatte sie tot zurückgelassen und musste ein Leben ohne sie beginnen. Er sah nach der Holzmaus, deren Backen sich kräftig bewegten. Die blanken Augen glänzten, als hätte sie jemand geputzt. Doch obwohl sie ihn sah, sah sie ihn nicht. Als wäre er ein Stück abgeschälte Rinde oder ein Haufen verkrüppelter, kranker Grashalme, die sich bewegen konnten. Sie war teilnahmslos, außer Stande, die Existenz eines anderen lebenden Wesens anzuerkennen, wenn dieses Wesen keine Holzmaus war. Dieses Gefühl hatte er.
Aber dieser Morgen war anders als alle anderen. Es war der erste Tag seines Lebens ohne Mutter und Vater. Sie gab es nicht mehr und seine kleine Schwester auch nicht. Sie waren getötet worden wie Tiere in einer Falle.
Etwas fiel ihm auf. Es war nicht mehr neblig wie an jenem Morgen. Aber der Nebel kam mit dem dunstigen Tod in seinem Schoß auf die Erde, ungeachtet wie er die Landschaft sichtbar werden ließ, als sei sie gerade erschaffen worden.
Hinterlistig und unbemerkt lauerte der Tod im Nebel, bevor er lautlos und ohne zu wanken zuschlug.