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Von der Notwendigkeit, in die Schule zu gehen
ОглавлениеEines Tages kam ein schwarzer Lehrer. Ja, dieser schwarze Lehrer, Johannes hieß er. Er ist übrigens noch immer hier. Als er das erste Mal hier herauskam, meinte er, hier wäre es sehr einsam. Und der Ort lag so weit von allem entfernt. Dass es der Ort war, an dem die Welt beginnt, konnte er nicht begreifen. Er sah nur irdische Geier, die an nichts anderes dachten als an den nächsten Gang Fleisch. Staub. Gras. Vertrocknete Äste. Skorpione und staubige Schlangen. Bis hier heraus kam er, wo die, mit denen er Umgang haben sollte, kaum als Menschen bezeichnet wurden. Und ihren Kindern sollte er Lesen und Schreiben lehren. Kindern?
Stinkende Staubhaufen waren das. Vor den Worten lehrte er sie, sich zu waschen, bevor sie in die Schule kamen. Solch eine Wasserverschwendung, wie er sie ihnen zeigte, hatten sie noch nie gesehen. Dann setzte er sich hinter den Tisch, den vierbeinigen, und lehrte sie, wie die Worte geschrieben wurden.
Beim Anblick all dieser blanken, neugierigen Augen spürte er plötzlich eine unbändige Lust, sie die Wunder des Schreibens erkennen zu lassen. Die Wunder der Wörter, wenn sie sich in Schrift verwandelten.
Vor ihren Augen verwandelte er die kratzende Kreide auf der Tafel in einen Zauberstab. Doch erst lehrte er sie mit unendlicher Geduld seine eigene Sprache.
Aus ihr kamen die Wörter als Geschichten von wundervollen Dingen und Menschen aus aller Welt. Aber am erstaunlichsten war das, was er ihnen erzählte. Über die Haltbarkeit der Worte. Sie konnten weder verfaulen noch vom Regen aufgelöst werden. Nicht zu Staub werden. Waren sie erst als Schrift da, blieben sie auf ewig bestehen.
Die Schrift war das Ewigkeitsgeschenk der Gedanken, sagte er. Er hielt den Finger in die Luft, als er das sagte.
Vorher konnte man sich nur so gut erinnern, wie man eben konnte. Er wusste sehr wohl, dass man sich auf verschiedene Weisen erinnerte. In der Schrift jedoch lagen Mitteilungen. Grüße. Gedanken, die vor tausend Jahren gedacht worden waren und tausend Jahre in die Zukunft reichten.
Deshalb beschlossen zwei aus der südlichen Siedlung, das Mädchen Gaba und der Junge Xaisi, ihrem Großvater in tausend Jahren einen Gruß zu schicken. Niemand hatte etwas gegen einen Großvater in tausend Jahren einzuwenden. Sie erzählten es auch niemandem. Jedenfalls keinem Erwachsenen. Bei ihnen konnte man nie ganz sicher sein. Erwachsene konnten Einwände haben. Das wussten sie.
Stundenlang konnten sie ihre Nachmittage damit verbringen, darüber nachzudenken, was sie schreiben wollten. Ab und zu, wenn sie sahen, wie der schwarze Lehrer seine Wunderworte von der Tafel wischte, hegten sie Zweifel, ob die Worte wirklich tausend Jahre Bestand haben würden. Sie in den Sand zu schreiben, brachte auch nicht viel.
Im Herbst fanden sie einen alten Kotflügel von einem Lastwagen, den die Mutter des Jungen jahrelang genutzt hatte, um Wasser hineinzufüllen oder um ihn und seine Geschwister darin zu baden, als sie noch klein waren.
Er war so alt und haltbar, dass sie sich vorstellen konnten, dass er die Wörter über tausend Jahre festhalten konnte. Was also sollten sie schreiben? Es war ja nicht so einfach. Sie brauchten lange, lange Zeit, um ein Wort auf das rostige Eisen zu schreiben. Denn die Worte sollten nicht nur in den alten Lack geritzt werden, sondern in das Eisen, dass es schrie.
Jeder Buchstabe sollte da stehen. Es war so schwer und brauchte so lange Zeit. Sie mussten noch einmal nachdenken, denn die Wörter mussten ausgesucht werden, mussten leicht sein und trotzdem all das beinhalten, was sie sagen wollten.
Der schwarze Lehrer hatte so traurige Augen. Trotzdem begeisterte er sich für die Wörter. Sie wussten genau, dass die melancholischen Augen und die hängenden Schultern daher rührten, dass seine Frau ihn von Karakubis aus hier herausgefahren und ihn im Sand vor dem Lehrerhaus mit einem großen Gerät von einem Koffer mit Gurt und Schnalle und einem zweitürigen Kleiderschrank zurückgelassen hatte.
Zuerst hatten sie geglaubt, dass er darin wohnen wollte, so groß war der Schrank. Aber am Tag darauf kam das Klinikauto holpernd angefahren mit einem Bett aus altem Eisen und einer Matratze, die der Wind wie ein Pferd wiehern ließ, indem er durch die kupferroten Spiralfedern sauste.
»Stellt euch vor«, sagte er eines Tages in der Schule zu den Sprachlosen. Denn die Kinder verstanden nicht, was das war, das sie sich vorstellen sollten.
»Stellt euch jedes einzelne Wort als Schiff vor, das mit kostbaren Schätzen oder den gefährlichsten Giften beladen ist. Jedes Wort ist ein Schiff, das alles enthalten kann.«
An ihren Augen konnte er sehen, dass sie nicht einmal ahnten, was ein Schiff war. Das Meer, die Schiffe, die Stürme, die Wellen, die Gischt und der salzige Geschmack. Das war sein Traum. Wie sollte er ihnen davon erzählen? Wie sollte er Fragen stellen? Und sie wiederum sahen seine Augen matt werden und abgleiten, da er ihre Welt nicht begriff. Langsam verstand er, was für eine unmenschliche, grenzenlose, unmögliche Aufgabe es war, die er auf sich genommen hatte.
Niemand konnte wissen, gegen welchen Grad an Hoffnungslosigkeit er ankämpfte, als er sagte: »Ein Schiff ist ein Kübel, der auf dem Wasser schwimmt. Ein Meer ist eine Wasserwüste, die sich schnell bewegt. Auf diesem Meer segeln Schiffe mit Menschen und Waren zwischen den Städten hin und her. Und sie werden entladen und wieder beladen und segeln weiter. Genauso ist es mit den Worten. Jeder kann unterschiedliche Dinge in dasselbe Schiff füllen.«
Aber sie verstanden ihn nicht. Oder sie wollten ihn nicht verstehen.
Trotzdem waren da die zwei aus der südlichen Siedlung, die sich monatelang mit dem alten rostigen Kotflügel zu schaffen machten. Sie verwandten einen alten Nagel zum Schreiben. Und er quietschte mehr als die Kreide an der Tafel. Ihre Finger taten weh, obwohl sie sich abwechselten. Aber sie waren zäher als der widerspenstige Nagel. Es brauchte viele quietschende Kratzer, bis diese zu einem Buchstaben wurden.
Es gelang ihnen, eine Botschaft an ihren Großvater zu schreiben, der in tausend Jahren leben würde.
Lieber Großvater.
Wir sind deine Enkelkinder. Leider wurden wir zuerst geboren.
Wir hoffen, du hast nichts dagegen.
Die Welt, in der du lebst, wird nicht mehr die gleiche sein wie heute.
Vielleicht gibt es dort, wo du lebst, keine Tiere und auch keine Tsamamelonen.
Vielleicht gibt es keine Bäume und keine Vögel, die sich auf sie setzen können.
Aber wir kennen sie und lieben sie.
Der Elenstier und die Giraffe sind die besten Tiere, die wir kennen.
Solange sie über die Erde wandern, so wie sie wollen, ist die Welt es wert, in ihr zu leben.
Du darfst nicht vergessen, unseren Geschwistern das zu sagen.
Dies ist unser Brief an dich.
Gaba Xaisi
An dem Tag, an dem sie den letzten Satz schrieben, lachten sie und dachten lange an ihren Großvater, vielleicht würde er ihren Brief nicht lesen können. Und sie fragten den Lehrer danach. An ihren Gesichtern konnte er sehen, dass sie es ernst meinten, deshalb sagte er, nachdem er lange Zeit aus dem Fenster gesehen hatte, dass er darüber nachdenken und vielleicht in Büchern nachschlagen musste, um dort etwas zu erfahren, was er im Moment nicht wusste. Aber morgen wollte er ihnen antworten, das versprach er. Und sie glaubten ihm.
Der Lehrer Johannes lachte vor sich hin. Wer hätte gedacht, dass einige der Wüstenkinder wissen wollten, ob man die Schrift noch in tausend Jahren lesen konnte, was für Staubhaufen, als würde die Schriftsprache nichts taugen, wenn sie keine tausend Jahre Bestand hatte.
Sie erzählten ihm ja nicht, dass sie eine Nachricht für ihren Großvater hatten, die wirklich haltbar sein sollte.
Hier sitze ich weit von allem entfernt, dachte er, und soll diese Kinder, die nie einen Bleistift oder einen Kugelschreiber in der Hand gehabt haben, eine Schriftsprache lehren. Sie, die Tausende von Jahren gut damit zurechtgekommen sind, sich am Feuer Geschichten zu erzählen und Lieder zu singen. Herrgott, wohin soll das führen?
Aber der Lehrer Johannes war ein ergebener Mann. Seinem Lehrberuf war er treu bis zum Äußersten. Er würde schon eine Antwort finden, die nicht ganz gelogen war. Jetzt galt es den Glauben zweier Kinder daran zu erhalten, dass die Schriftsprache Bestand hatte. Auf jeden Fall tausend Jahre.
Hier hält Qose mit ihrer Erzählung inne.
Die Kinder gehen. Die Letzten müssen laufen, um rechtzeitig da zu sein, wenn es schellt.
Nur Erwachsene sind noch da, Abel, Duitwé und einige andere. Willie muss da gewesen sein, aber er sagt nichts. Qose muss ein paar Dinge erledigen, die Ziege melken, Wasser holen, und verlässt deshalb den Schatten unter dem Baum.
Als wäre es die Fortsetzung von dem, was sie gerade erzählt hat, sagt Kanta: »Ich habe das Meer gesehen. Er hat mich einmal mitgenommen. Wir sind im Auto zur Küste gefahren, viele Tage lang. Zuerst haben wir bei Kalkfontein übernachtet und dann irgendwo bei Windhoek.
Und eines Tages kamen wir zum Meer.
Ich hatte mir überhaupt nicht vorgestellt, dass das Meer diese glänzend blaue Farbe haben könnte.
Eine Unendlichkeit konnte ich darauf gucken, und gleichzeitig musste ich das Gesicht von dem Meer abwenden.
Ich ertrug es nicht, dass es mir unablässig in die Augen sah.«