Читать книгу Die Geierkrieger - Arthur Krasilnikoff - Страница 25
Willie erzählt
ОглавлениеWillie hat seinen Worten aufmerksam zugehört. Nach und nach, als die Erinnerung ihm viele Ereignisse ins Gedächtnis zurückruft, wächst seine Lust, zu erzählen.
Ich kann mich gut an ihn erinnern. Ich kann mich noch genau an ihn erinnern. Wie Abel sagt, bin ich mit seinem Sohn zur Schule gegangen. Wir haben ihn nur bei seinem richtigen Namen gerufen, der Tsai war. Sein voller Name ist William Tsai Johnsston. Die meisten nennen jetzt ihn Johnsston, wie sie seinen Vater genannt haben, und deshalb will ich das hier auch tun. Aber in Wirklichkeit nennen wir ihn noch immer Tsai, denn jetzt ist er einer von uns. Ich habe mit seinen Geschwistern gespielt, und manchmal sprach der alte Johnsston mit uns.
Er war um 1910 hierher gekommen. Vielleicht zu der Zeit, als Duitwé geboren wurde. Aber er war damals schon alt.
Mit dem Alter verlor sich seine Vergangenheit im Dunkeln. Irgendwo gab es verstreute Inseln der Erinnerung, an die er sich noch erinnern konnte, als wären sie wirkliche Träume. Ab und zu nahm er sich Zeit, um uns Kindern davon zu erzählen. Wir lauschten so, dass wir jedes Wort aus ihnen heraussaugten. Da war eine, wo er in Yorkshire den Hügel heruntergelaufen kommt. Er sprach oft von diesem Ort in England. Wir sagten das Wort immer wieder zueinander und krümmten uns dabei vor Lachen. Es kitzelte im Mund, dieses Wort auszusprechen. Yorkshire.
Das Gras ist grün, obwohl die Erde kalt und nass ist. Ganz oben auf dem Hügel, den er johlend heruntergerannt kommt, gibt es eine Kirchturmspitze, die aus dem grünen Laub der Baumkronen herausschaut. Diese Kirchturmspitze erwähnte er immer.
Einige Jungen, die er damals so gut kannte wie seine eigenen schmutzigen Hosentaschen, sind bereits laut rufend den Abhang hinuntergerannt.
Er kommt zu ihnen gelaufen. Er erinnert sich so lebhaft daran, dass er fast den Wind auf seinem Gesicht spürt, während er den Hügel hinab auf die anderen Jungen zustürmt. Sie winken mit den Armen. Und er weiß, dass sein Gesicht die Vorfreude auf das widerspiegelt, was passieren wird. Unten am Fuß des Hügels liegt ein von Wald umgebener dunkler See, den sie heimlich jeden Tag besuchen. Da ist ein Duft aus Holzfäule und Wald und See, der die Nase und den ganzen Körper prickeln lässt. Eine Verschmelzung dieser drei Gerüche, die so die Sinne durchdringen, dass der Körper vor Vorfreude strahlt.
Sie sind wie eine Art Stamm der Gesetzlosen, die in den Wald eindringen und Äste von den Bäumen abbrechen. Im Wald, in der Stille knackt es laut. In ihren Taschen haben sie Schnüre und Angelhaken. Tief im Wald stoßen sie auf den See, der ganz versteckt dort liegt.
Der See hat matschige Ufer mit glitschigem Schlamm. Sie wissen, dass er irgendwo heimlich mit dem Meer in Verbindung steht, das nicht weit von diesem Ort entfernt ist. Ein unsichtbarer Graben bedeckt mit Blättern aus unzähligen Herbsten, voll schwarzen Wassers. Jetzt setzt sich jeder auf seinen Platz, da, wo die Bäume aus dem schmierigen Schlamm eine Wurzel haben unbeachtet hervorgucken lassen, sodass sie sicher mit ihren Stöcken sitzen können.
Jetzt tauchen sie ihre dicken Schnüre ein, die sie in der Zwischenzeit an den abgebrochenen Ästen befestigt haben. Mit an den Schnüren befestigten Angelhaken versuchen sie, die Riesenaale zu fangen, die ihres Wissens nach in dem dunklen, unheimlichen Wasser schwimmen. Oft haben sie die hellroten und braungelben Körper sich lüstern mit dem Wasser, dem schwarzen, wenden sehen. Heute wollen sie die riesigen Seeschlangen herausholen. Und in einer Pfanne braten, die einer von ihnen zu Hause geklaut hat.
Da weiß er, er erinnert sich jetzt genau, dass es Sonntagnachmittag ist. Sie haben den ganzen Tag frei, und es gibt keinen Ort, den sie nicht heimsuchen können. Doch der waldumrandete See am Ende des Hügels ist der heimlichste Ort, den sie finden können. Trotzdem liegt wie bei allem Verbotenen etwas Lüsternes über den wilden Erwartungen, die sie an dieses Angeln haben. Unterwegs sind sie laut gewesen, bis sie zum Ende des Hügels kommen und in den Wald hineingehen. Dann werden sie stumm, und während die Äste abbrechen, liegt ein erwartungsvolles Lächeln auf ihren Gesichtern. Er erinnert sich aus der Ferne, aber trotzdem so, als wäre er noch immer dabei. Noch immer kann er die unbestimmte Mischung aus Holzfäule, Seewasser und dem faden Dunst der Aale riechen, der von ihrem langen Aufenthalt im Brackwasser herrührt. Noch immer kann er den Klang ihrer Stimmen hören, die wie helle Vögel durch das Dunkel des Waldes fliegen, während Äste knacken und Füße im Matsch ausrutschen.
Noch immer kann er sich genau daran erinnern, während er da in Sand und Hitze in seinem selbst gebauten Holzlehnstuhl sitzt, den er hartnäckig vor den wenigen Besuchern, die dort vorbeizukommen wagen, als seinen Wüstenpolsterstuhl bezeichnet.
Der Hügel mit seiner Böschung, die kein Junge ohne zu schreien hinunterlaufen kann. Die Bäume wie abwartende Erwachsene. Die Kirchturmspitze. Der Waldsee. Das glitschige, schlammige Seeufer. Die fleischigen Aale, die mit etwas Verbotenem behaftet waren.
Wir hörten ihn erzählen, während wir neben ihm im Sand saßen, und lauschten ihm verwundert und verblüfft, denn die Bilder, die er in seinem Holzlehnstuhl vor sich sah, konnten wir nicht sehen.
Er erinnert sich noch immer an die dunklen Straßen, durch die er als junger Polizist ging. Nicht, dass es keine beleuchteten Straßen gab. Aber die dunklen, engen Gassen sind es, an die er sich am besten erinnert. In denen das Dunkel so dicht ist, dass es sich fast wie ein Nebel um die eingeschalteten Laternen legt. In denen das Licht das Dunkel fast nicht durchdringen kann. Einige Male, als niemand auf der Straße zu sehen war, hat er dem Laternenpfahl mit seinem Stab einen ordentlichen Schlag versetzt, dass der metallene Laut zwischen den Häuserfassaden widerhallte. Gleichzeitig mit dem Abklingen des Lautes ist er unbekümmert weitergewandert, als hätte er nichts mit dem Geräusch zu tun. Ein Polizist auf Streife. Er kann noch immer darüber lachen und den Kopf schütteln. Und in der Ferne, nur ein paar Meter entfernt, spielen ein paar seiner Kinder.
Er sagte zu uns, dass wir uns seine Worte vielleicht nicht merken würden, weil wir Kinder seien. Aber wir schlürften sie in uns hinein und ließen uns die Geschichten immer wieder erzählen.
Obwohl sie halb ernst, halb lustig ausfielen, sah er uns an, während er die Worte zusammen mit dem flüchtigen Pfeifenrauch wegwinkte: »Ich bin siebzig Jahre alt. Ich habe drei Kinder, die noch klein sind. Und ich habe meiner Familie in England verboten, Weihnachtspudding hier herauszuschicken. Ich bekomme ihn ja erst Ostern. Was soll ich mit so einem ausgetrockneten Krümelpaket?«
Nach so einer Bemerkung konnte er plötzlich Lust bekommen, Musik zu hören. Hineinzugehen und die Maschine aufzuziehen, die große 78’er aufzulegen. Den Trichter Richtung Tür auszurichten. In dem Raum ist es fast schwarz durch das ganze Licht draußen, aber er weiß, dass sie zuoberst im Plattenstapel liegt. Er weiß, dass es das langsame Stück mit der schweren, trägen Melodie ist. Eine Sehnsucht ist in diese Musik eingeflochten. Die Musik ist langsam wie eine Nadel mit Sehnendraht, die man unendlich durch ein Stück Fell zieht.
Weil ich es wissen wollte, habe ich Johnsston gefragt, was das für eine Musik war, die sein Vater gespielt hat. Aber er wusste es nicht. Wie so vieles andere waren das Grammofon und die Platten verschwunden, nachdem der Alte tot war.
Jetzt beginnt die Musik. Er geht hinaus und beginnt seinen selbst erfundenen Tanz zu tanzen. Langsam, in einer versuchten Übereinstimmung mit der Musik. Die Kinder entdecken es und kommen, um sich an seine Arme oder an andere Körperteile zu hängen, denn sie wissen, was passieren wird. Erst kommt der langsame erstarrte Tanz. Ja, der Frost, das Eis auf den Seen, lange Zeit. Unendlich, langsam. Dann der plötzlich heftige letzte Teil des Satzes.
Die Kinder werden weggeschleudert und fliegen wie große Bienen durch die Luft, sodass sie mit einer gleitenden Bewegung im Sand landen. Ihr Lachen vermischt sich mit der Musik. Das dunkle Verlangen von vorher verschwindet. Er lacht mit ihnen, denn einige von ihnen sind seine eigenen Kinder. Sie sind das Einzige, was von ihm bleiben und ein Zeichen dafür ablegen wird, dass es ihn gegeben hat. Das ist sein Yorkshire-Gedanke, dass man da gewesen sein muss. Er sagt das oft zu uns und lacht: »Dort, wo ich herkomme, regnet es immer. Es gibt nur zwei Arten von Wetter in Yorkshire. Regenwetter, bei dem es regnet, dass man die Hügel sehen kann. Und Regenwetter, bei dem man sie nicht sehen kann.«
Hier, tief in der Kalahari, in der Gomkgae, im Sandgesicht, ist er damit zufrieden, gelebt zu haben.
Er kann sich nicht aufraffen, andere Orte zu besuchen. Es ist für ihn mit einer besonderen Zufriedenheit verbunden, dass seine Gebeine hier begraben werden sollen. Dass sein Fleisch verwesen und zu Futter für die kleinsten Tiere der Kalahari werden wird.
Die Musik verklingt und stottert in den Rillen mit einem Laut, der kein Wort hat, aber jedes Mal da ist, wenn das passiert.
Weiter weg von dem Tanz sitzen Menschen und sehen ihn an. Ab und zu bin ich unter denen, die ihn verwundert ansehen. Da ist dieser merkwürdige Mann mit seinem einsamen Tanz, und mit den Jahren sind die Kinder mit in den Tanz eingebunden worden. Er hat sein Leben so mit unserem, dem des roten Volks, aus dem ihre Mutter kommt, verflochten. Er kommt nicht mehr davon los. Die Kinder sind seine Sorge. Sie sind es, an die er am meisten denkt. Nicht daran, wie sie sind, sondern daran, was aus ihnen werden soll, wenn er tot ist. Können sie überleben?
Aber dann taucht er zurück in den Tanz und in die träge Musik und in den erstarrten Tanz. Er ist wie Musik, die man schafft, um zu zeigen, wie ein großer Vogel seine Flügel bewegt, bevor er dorthin fliegt, wo die Sehnsucht ihn hintreibt. Dann lächelt er den Kindern zu. Sie haben kein Verlangen gespürt mitzusingen, wie sie es oft tun, wenn sie irgendeinen rhythmischen Laut oder den Gesang eines anderen hören.
Unsere Lieder sind auch Lieder, deren Klänge eine große Sehnsucht und ein schmerzvolles Wissen um das Leben beinhalten. Oft sind sie wie der Anfang eines Rufs nach der Anwesenheit anderer. Doch wenn er diese Platte auflegt, ist es, als wollte er allen deutlich machen, dass er ein Mann von einem ganz anderen Ort ist.
Bei Willies letzten Worten seufzt Kanta wissend durch Nase und Mund, und Abel, der mit dem gegen die Schulter gelehnten Tanzstab dasitzt, nickt mehrere Male.