Читать книгу Die Geierkrieger - Arthur Krasilnikoff - Страница 30
Die Entdeckung
ОглавлениеSchon mit dem ersten Streifen Licht kündigte sich ein besonderer Tag an.
Er konnte das fühlen. Als er die Augen aufschlug, war es kühl gewesen wie an einem kalten Wintermorgen, und er machte schnell Feuer. Glücklicherweise fand er Reste noch glühender Glut, sodass er nicht ganz von vorn anfangen und Holz hacken musste. Davon wäre ihm auch warm geworden, dachte er, als er die Glut fand, das musste doch Glück bringen. Also saß er da und ließ sich durchwärmen.
Trübes Wetter, die verschiedenen Grautöne der Wolken verschwammen fast zu einem Ton, und kein Wind. Aber es war kühl. Fast alle waren still, Vögel, Insekten, alle warteten sie auf die Wärme. Dann kam er. Ein Blitz. Krach. Ein Donnerschlag gefolgt von einem Grollen, das den ganzen Vormittag wie ein tiefer Ton über allem hing. Er konnte ihn fast nicht hören, vernahm ihn aber trotzdem während des Gehens wie einen Widerhall im Brustkasten. Erst als in der Mitte des Tages die Sonne durch die Wolkenschicht brach, konnte er den Laut nicht mehr spüren. Das tiefe Dröhnen war nicht länger zu hören. Während des ganzen Weges hatte er darauf gewartet, dass es anfangen würde zu regnen. Nur ein paar zusätzliche Donnerschläge oder ein kurzes Grollen.
Aber an diesem Tag kam nichts mehr vom Himmel herunter. Ein lauter Knall. Und danach das tiefe, anhaltende Dröhnen. Noch nie hatte er so etwas erlebt. Er war sicher, dass dies ein magischer Moment war.
Trotzdem fiel es ihm nicht leicht zu entscheiden, welchen Weg er einschlagen sollte, da die Sonne Schwierigkeiten hatte durchzubrechen. Ihm kamen Zweifel, ob es richtig war, die ganze Zeit in die Richtung zu gehen, in der die Sonne unterging. Es machte wohl nichts, wenn er an einem einzigen Tag die andere Richtung einschlug. Der Donner erlaubte es ihm.
An diesem Tag passierte es: Wieder begegnete er Menschen.
Die Frauen kamen des Weges. Schon auf weite Entfernung hörte er ihre Stimmen, die singend alle wissen ließen, dass sie da waren. Zuerst traute er seinen eigenen Ohren nicht. Dieses Lied, das seit seiner Geburt in seinem Körper gelegen hatte, gesungen von den Stimmen seiner Mutter und seiner Großmutter, hörte er seit jenem Morgen das erste Mal. Ein Gesang wie ein Ruf, der die anderen immer wissen ließ, wo man gerade war. Wortlos und trotzdem voller Mitteilungen.
Ein Rufen, das wir, die wir auf den großen Ebenen leben, als Sicherheit gegen Einsamkeit und Verlassenheit kennen. Leute, die es plötzlich hören, können mit derselben Melodie antworten. Man kann es singen, egal ob man alleine oder mit anderen zusammen ist.
Er sah, wie sie langsam zum Vorschein kamen, wie sie mit Grabstock und Umhängebeutel über das Feld kamen. Hin und wieder beugte eine der Frauen sich hinunter und sammelte eine Melone oder eine Wurzelfrucht auf. Die ganze Zeit ging der Gesang zwischen den drei Frauen in einer Art Frage und Antwort hin und her. Er starrte sie mit offenem Mund an, wie sie sich näher auf ihn zubewegten. Er war vollkommen betäubt oder gelähmt von der Gewissheit, dass er nie von den drei Früchte sammelnden Frauen gefunden worden wäre, wenn er an diesem Morgen seinen gewohnten Weg beibehalten hätte.
Er konnte sich auch nicht entscheiden, ob er weglaufen oder sich zu erkennen geben sollte. Ihm war sehr wohl klar, dass er nicht mehr weglaufen konnte, wenn sich erst alle drei um ihn herumgestellt hatten.
Aber plötzlich waren sie da, bei ihm.
»Wo kommst du her?«
»Du kannst doch noch nicht alt sein.«
»Bist du allein?« Er antwortete ihnen mit keinem Wort. Er schwieg und sah zu Boden.
»Sag uns doch, wo du sie versteckt hast, die Alten!«
»Lasst ihn doch erst einmal zu Atem kommen.«
Die ganze Zeit beobachteten seine Augen einen Mistkäfer, wie er seine Kugel über ein Hindernis nach dem anderen rollte. Ein Zweig, ein Grasbüschel, ein Stöckchen. Er guckte so starr darauf, dass er die Farbe veränderte. Er wurde dunkelgrün, dunkelgrau, schwarzblau, wie eine kleine Gewitterwolke. Die Stimmen schwirrten um ihn herum, und er wagte nicht zu antworten. Nach und nach wurden die Worte weniger. Die Frauen mussten ihn ansehen, um herauszufinden, ob er noch immer dadrinnen in seinem Körper war, den sie deutlich sahen. Schließlich fasste eine der Frauen ihn an.
»Kannst du nicht sprechen?«
Sie schüttelte seinen Arm, aber so leicht, als wäre er ein Geist. Jetzt wurde es sehr schwer, dem Mistkäfer mit den Augen zu folgen und so zu tun, als sei nichts. Aber er hatte sich überhaupt nicht vorgestellt, dass er die Augen schließen würde. Das überraschte ihn genauso wie die Frauen.
»Jetzt hat er die Augen geschlossen.«
»Wenn er nur nicht auch die Ohren geschlossen hat, ist es gut.«
Die Frau fasste ihn am Kinn und beugte sich hinunter, dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. Ihm in die Augen sehen konnte, falls er sie aufschlug. Es waren viele Tage vergangen, seit ihn jemand angefasst hatte. Bei der Berührung erschauerte er, und die Frau ließ ihn los, nachdem sie ihm den Rücken gerieben hatte.
»Vielleicht kann er nicht sprechen.«
Er hatte selbst das Gefühl, dass nur ein paar halberstickte Laute aus ihm herauskommen würden. Nur ein paar seltsame Krächzlaute. Vielleicht würde er nie mehr sprechen können, auch wenn er die Worte gut verstand. Einige Worte betonten sie ein bisschen zu sehr. Dafür konnten sie natürlich nichts. Vielleicht hatte er trotzdem die Worte vergessen.
Als die Frau, die ihm den Rücken gerieben hatte, zurückgegangen war, um ihre kawaa zu holen, eine Lederdecke, öffnete er die Augen und sah zu Boden. Während sie die Enden zusammenknotete, um sie mit allen Sachen, die sie gesammelt hatte, wie eine Tasche über der Schulter zu tragen, starrte er weiter auf den Boden. Der Sand war ja da. Rot und lehmig leuchtete er zwischen den Grashalmen. Die andere Frau kam zu ihm. Ihr war das Ganze offensichtlich gleichgültig. Sie umarmte ihn und drückte ihn an sich, dass er ihren warmen Körper überall, wo er an seinen gepresst war, mit seiner ganzen Haut spüren konnte. Sie hielt ihn so lange fest, dass er Atem holen musste. Denn das hatte er auch zu verbergen gesucht. Dass er atmete.
»Weißt du was?«, sagte sie. Er konnte merken, wie ihr Flüstern wie ein kleiner Windstoß über seinen Körper fuhr.
»Du musst nichts sagen, und es macht auch nichts, wenn du nicht sprechen kannst. Komm einfach mit uns mit. Dann können wir immer sehen, was passiert. Ich heiße Qose. Und das ist Duitwé. Und da drüben geht Mamasa.«
Die Frau, die Duitwé hieß, sah erheblich älter aus als die beiden anderen. Sie lachte viel, und das Lachen endete meistens in einem starken Husten.
Die drei Frauen suchten weiter nach zarten Wurzeln, Melonen und Brennholz, das sie, wenn ihre Arme voll waren, in ihren kawaas unterbrachten. Er ging mit ihnen, langsam, dass er immer der Letzte war. Nach und nach gewöhnte er sich daran, dass sie sich nach ihm umdrehten, um sich zu versichern, dass er ihnen folgte. Sie streiften ihn mit ihren Blicken, als wäre er ein weiterer Busch in der Landschaft. Er sollte ja nicht glauben, dass er etwas Besonderes war.
Wenn er richtig darüber nachdachte, brauchte er eigentlich nicht länger stumm zu sein. Ja, er war stumm gewesen, verschämt, wie es sich Fremden gegenüber gehört. Aber er wusste auch nicht, ob er nach den stummen Tagen nicht stumm geworden war. Nein, Unsinn, er hatte ja zwischendurch immer wieder gesungen. Aber nicht vor kurzem, vielleicht war es gestern oder vorgestern gewesen. Daran konnte er sich nicht genau erinnern. Jedenfalls war etwas mit Regen gewesen. Er wusste genau, dass es lange dauerte, bis der Regen wieder kam. Erst mussten die Rosinenbeeren reifen.
Aber er überlegte auch, ob er immer im Kreis gegangen war, sodass er in Wirklichkeit nicht so weit Richtung Westen gekommen war, wie er geglaubt hatte. Und wenn sie erst erfuhren, wer er war, würde er schnell von jemandem aus seiner Verwandtschaft wieder erkannt werden. Ja, vielleicht wussten sie, dass seine Familie von den Geierkriegern getötet worden war. Es war wohl das Beste, weiter zu schweigen. Er versuchte in die hohle Hand zu flüstern. Es gelang ihm gut. In Wirklichkeit konnte er gut sprechen. Er brauchte keine Angst haben, die Stimme verloren zu haben.
Die Frau, die ihn zuvor umarmt hatte, kam zu ihm und sagte:
»Du brauchst dich nur an mich zu halten, wenn wir nach Hause kommen. Dann hast du einen Platz, wo du bleiben kannst.«
Am späten Nachmittag, als die Schatten schon über den Bäumen lagen, machten sich die Frauen auf den Heimweg. Aus Müdigkeit waren sie lange geblieben, obwohl die Sonne am Mittag durchgebrochen war. Die Kühle breitete sich in der Luft aus. Einzelne Fledermäuse stießen ihre Laute aus wie Steine, die über das Wasser geworfen wurden.
Einmal kam Duitwé zu ihm, nahm ihn an den Händen und sah ihm lange in die Augen. Dann seufzte sie und ließ ihn gehen.
Die Sonne war so spät gekommen, dass es fast wie eine Absprache wirkte, die unabhängig davon, wie unerfreulich das sein mochte, eingehalten wurde. Das Licht, das von der Sonne kam, war so länglich und halbherzig, dass er gezweifelt hätte, dass die Sonne da war, hätte er sie nicht gesehen. Man konnte es nur als angenehm ansehen, dass den ganzen Tag dieses seltsam trübe Wetter herrschte, das sich nicht entschließen konnte zu regnen. Jetzt wusste er, dass er sicher sein konnte, abends etwas zu essen zu bekommen, das nicht von ihm selbst zubereitet worden war. Dass er zusammen mit anderen Menschen einschlafen würde, die lebend neben ihm liegen würden. Zum ersten Mal innerhalb einer Zeitperiode, deren Länge er nicht kannte, würde er menschliche Schlaflaute hören und nicht alleine sein. Aber gleichzeitig war da ein Morgen, in den zu erwachen er sich fürchtete, weil er das letzte Mal, als er zusammen mit andern geschlafen hatte, den Tod gebracht hatte.
Er beschloss, nicht zu schlafen. Er wollte sich wach halten, bis aus dem Tagesanbruch ein Morgen geworden war und er sehen konnte, dass die Sonne aufging. Während der Nacht würde er trotzdem einschlafen. Das wusste er genau. Er würde alle Laute deutlich hören, und sie würden wie ein schwaches Klicken in seine Ohren eindringen. Die Laute würden weniger werden. Der Himmel würde tief und dunkelblau direkt über ihm schweben. Er würde die Sterne so klar sehen, als würden sie zu ihm hinunterkommen.
Er würde sich nicht länger darüber wundern, dass Gxwma die Knochen des ersten Elenstiers schließlich hoch in den Himmel geworfen hatte, wo sie wie Sterne glänzten und funkelten. Das Rückgrat hatte er im Handumdrehen hoch in den Himmel geschleudert, dass es ihn oben tragen und im Zaum halten konnte, sodass die Sonne jeden Tag Platz zum Scheinen hatte. Jetzt, wo Gxwma sie hatte hervorkommen lassen, damit die Jungen nicht sofort vergaßen, wie böse er darüber geworden war, dass sie den Elenstier getötet hatten.
Er würde die Sterne aus der Nähe sehen. Wie sie die Nacht dort oben trugen. Würde die Decke fester um sich ziehen. Die erste Decke, die er besaß, seit jenem Morgen. Dann würde er einschlafen.
Plötzlich merkte er, dass die drei Frauen dichter neben ihm gingen als vorher. Sie waren jetzt nahe an der Siedlung. Es war Zeit abzuhauen, wenn er das wollte. Trotzdem, der Gedanke, mit anderen zusammen zu schlafen. Richtiges Essen zu bekommen, das erwachsene Frauen zubereitet hatten. Nein, jetzt wollte er es versuchen. Doch wenn ihm auch nur etwas merkwürdig vorkäme, würde er verschwinden. So unmerklich unter der Decke hindurchsickern, wie ein Skorpion sich darunter schleichen kann, doch diesmal würde er dafür sorgen, dass er eine Waffe und eine Decke mitnahm.
Jetzt, wo er hinter den Frauen herstapfte, konnten sie nicht erraten, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Sie taten, als sei alles in Ordnung. Als müsste er selber wissen, ob er mit ihnen mitgehen wollte oder nicht.