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Der Wettlauf

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Es ist unglaublich, was hier im Walde alles passiert! Als ich noch in der Welt war, da meinte ich, wichtige Dinge passierten nur in der Welt bei den Menschen; der Wald sei bloß Wald, ein grünes Einerlei, und dort sei weiter nichts los. Das weiß ich jetzt besser. Die Menschen treiben immer dasselbe, und es ist durchweg gar nicht schön, was sie treiben. Hier im Walde ist alles jeden Tag wieder neu, so frisch, als wenn es gerade aus Gottes Hand käme.

Ihr denkt vielleicht, das Marienkäferchen dort auf dem breiten Bärenklaublatt sei eben bloß ein Marienkäferchen, wie es Hunderte gibt, und weiter nichts. Höchstens, dass es elf schwarze Punkte auf seinem roten Panzer hat und andere bloß neun oder sieben. Ihr irrt euch. Dies Marienkäferchen hat schon eine ganze Geschichte erlebt, und wenn es erzählen wollte, würdet ihr euch wundern. Und der liebe Gott hat dies eine Marienkäferchen immer im Auge gehabt und hat seine Freude an dem schmucken Ding, so gut wie wir.

Darum habe ich mir auch hinterher Gedanken gemacht über die alte Frau Eule, die ich im Winter hinausgeworfen habe aus meiner Klause. Wisst ihr noch? Sie hatte eins von meinen weißen Mäuslein gefressen. Die Mäuslein haben sich vermehrt, es ist ein ganzes Dutzend, und sie können jetzt schon Komödien spielen, worin viel Volk vorkommt. Frau Eule lebt auch noch. Sie hat einen hohlen Weidenstumpf gefunden, und es geht ihr gut. Sie ist ziemlich fett geworden.

Als ich neulich bei ihr anklopfte, war sie zuerst sehr ungnädig und knappte stark mit dem krummen Schnabel. Sie ließ mich auch einige unhöfliche Redensarten hören. Wir sind aber als gute Freude voneinander geschieden, und sie will mich nächstens besuchen. Der alte Weidenstumpf ist wackelig, und ich glaube, bei den nächsten Herbststürmen fällt er um. Dann nimmt Frau Eule vielleicht wieder Wohnung in meiner Waldklause. Es wäre mir nicht unlieb, denn sie ist sehr gelehrt und hat viele Bücher durchstudiert. Ich fürchte auch, dass die Mäuse bei mir sonst überhand nehmen, besonders die gewöhnlichen grauen. Aber das liegt noch in ferner Zukunft. Heute muss ich euch von dem großen Wettrennen erzählen, dem ich neulich beigewohnt habe.

Es war ein schöner und sonniger Nachmittag, und ich hatte einen weiten Gang gemacht bis zu der großen Wiese im Walde. Da sah ich zwei langbeinige Herren am Graben stehen. Wahrhaftig, es war Herr Storch und sein vornehmer Vetter, Herr Reiher. Sie schienen Streit zu haben, denn Herr Storch klapperte gewaltig mit dem Schnabel, und Herr Reiher sträubte unwillig die schönen Federn in seinem Schopfe.

Ich begrüßte sie mit aller Artigkeit und fragte, ob sie von der langen Reise zurück seine und wie es drüben in Ägypten aussehe, ob die Pyramiden noch aufrecht ständen und was die Krokodile machten im Nil.

Sie gaben mir keine Antwort. Dann wandte Herr Storch sich gravitätisch um und fragte mich: »Sagt, Waldbruder, Ihr habt ein gutes Augenmaß, wer von uns hat die längeren Beine, der da oder ich?«

Ich wollte schon sagen, dass ich selbst die längsten Beine hätte, aber die beiden Herren verstehen so recht keinen Scherz. Die Frage war heikel. Da fiel mir ein Ausweg ein.

»Meine edlen Herren«, sagte ich, »die Frage lässt sich am besten ausmachen durch ein Wettrennen, denn wer die längsten Beine hat, wird gewinnen.«

»Sehr gut!«, rief Herr Reiher und schlug mit den Flügeln, »fangen wir gleich an. Diese Wiese ist lang, eine sehr gute Bahn.«

Ich machte den Vorschlag, dass eine so wichtige Sache mit der gehörigen Feierlichkeit vor sich gehen müsse, und man gestattete mir, die nötigen Vorkehrungen zu treffen.

Den Meister Specht, der gerade vorbeiflog, rief ich an und bat ihn, das ganze Getier und Gevögel des Waldes zusammenzutrommeln zu dem bevorstehenden Wettlaufe. Er lachte laut auf vor Vergnügen und trommelte dann tüchtig auf dem nächsten dürren Aste. Der Häher half als Ausrufer, und bald wimmelte die Wiese von Tieren und Vögeln.

Das war ein Schwirren und Zwitschern, ein Plappern und Pfeifen, ein Knurren und Murren und Fauchen, sodass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Nun ging es los.

Ich zählte bis drei, und die beiden Langbeine schossen über die die Wiese, die langen Hälse vorgestreckt, die Flügel ausgebreitet. In unglaublich weiten Sprüngen hopsten sie daher, und die kleinen Maßliebchen duckten sich tief ins Gras. Aber wer war nun der erste gewesen? Ein Frosch guckte aus dem Graben und quakte: »Der Storch, der Storch hat …« gesiegt, wollte er sagen. Wupp – hatte der Reiher ihn heruntergeschluckt. Ich freute mich, dass ich kein Frosch war. Wenn man ein Frosch ist, muss man bei solcher Gelegenheit hübsch unter Wasser bleiben. Eine Maus guckte aus dem Erdloche und piepte: »Der Reiher, der Reiher hat …« – gesiegt, wollte sie sagen. Wupp – hatte der Storch sie heruntergeschluckt.

Ich freute, dass ich keine Maus war. Wenn man eine Maus ist, muss man hübsch im Loche bleiben.

Die Sache war unentschieden, es wurde ein zweiter Wettlauf gemacht. Diesmal liefen sie noch viel schneller als das erste Mal. Ich konnte gar nicht folgen mit den Augen. Wer war den jetzt der erste gewesen?

Ein Maulwurf quäkte: »Ich glaube …« Weiter kam er nicht. Storch und Reiher fielen beide über ihn her; wer ihn heruntergeschluckt hat, weiß ich nicht. Aber fort war er.

Da trat der Igel auf. Seitdem er mit seiner Frau den Hasen besiegt hat im Wettlaufe, gilt er als erster Sachverständiger auf allen Rennplätzen. Also der Igel trat auf und bat um Ruhe und Aufmerksamkeit. Dann hielt er einen langen Vortrag von dem rechten Anlaufe und Fortlaufe und Auslaufe und wurde so langweilig, dass die ganze Gesellschaft sich auflöste und nach Hause ging.

Storch und Reiher gaben sich einen Schnabelhieb und flogen weg. Nun kann ich euch nicht berichten, wer die längsten Beine hat. Ich glaube aber, die längsten hat euer Waldbruder.

In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber

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