Читать книгу In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber - Augustin Wibbelt - Страница 25
Wahltag
ОглавлениеIhr wisst wohl, wenn ein Wahltag ist, dann machen sich die Leute viel Arbeit und kommen sich sehr wichtig vor. Sie drängen sich zum Wahllokale und geben ihre Stimmzettel ab, und manche benutzen die Gelegenheit und gönnen sich ein Glas Bier und führen dabei sehr kluge Reden. Ich will übrigens auch gar nicht bestreiten, dass es wichtig ist. Die Reden meine ich nicht und das Glas Bier auch nicht, sondern das Wählen.
Die Menschen müssen sich aber nicht einbilden, dass sie allein das Wahlgeschäft verständen. Die Tiere haben den Löwen zum König gewählt und die Blumen die Rose zur Königin. Die Vögel aber haben sogar zwei gewählt für die königliche Würde, den Adler wegen seines hohen Fluges und die Nachtigall als Sangeskönigin. Nun war ich bisher der Meinung, diese Sache sei ein für alle Mal erledigt, und ihr habt das auch wohl geglaubt. Aber das ist ein Irrtum, wenigstens soweit es die Blumen angeht.
Die Blumen haben vor Kurzem Wahltag gehabt, und durch einen glücklichen Zufall bin ich dahintergekommen. Am liebsten machen sie das für sich allein ab. Aber so ein Waldbruder, der überall herumspioniert, wird doch manches gewahr, wovon andere Leute gar keine Ahnung haben.
Es war mir in der letzten Zeit schon aufgefallen, dass die Blumen immer die Köpfe zusammensteckten und miteinander flüsterten und wisperten; wenn ich aber dazu kam, kniffen sie die Äuglein zusammen und schwiegen mäuschenstill.
Einmal ertappte ich den Aronstab bei einer lustigen Rede. Ihr kennt doch den Aronstab, der im Schatten wächst und eine grüne Hülle trägt mit einem Zipfel daran? Er sieht fast aus wie ein kleiner Waldbruder, bloß dass er etwas aufgeblasen ist. Er hatte seinen langen Hals hoch herausgestreckt aus seiner grünen Kutte und redet viel von »Prinzipien«, und die weißen Windröschen rundum hörten ihm andächtig zu. Als ich kam, zog er den Hals ein und schwieg.
Nun ging ich gestern Mittag etwas spazieren im warmen Sonnenschein und horchte vergnügt das schöne Lied der Frau Nachtigall. In Gedanken versunken kam ich auf die Waldwiese hinaus, und da traf ich eine große Blumenversammlung an der Hecke.
In der Hecke, im grünen Schatten, saßen die Waldblumen, vor der Hecke, im prallen Sonnenschein, die Wiesenblumen, und einige Feldblumen hatten sich auch herangeschlichen. Das war ein Geflimmer wie von Hunderten Regenbogen und ein Gesumm wie von einem Dutzend Bienenstöcken. Mitten unter den Blumen thronten drei schöne Feen in luftigen Schleiergewändern. Die in der Mitte erkannte ich an dem vielfarbigen, blumendurchwirkten Kleide, es war die Blumenfee Flora. Sie winkte mir gnädig zu und beruhigte die Versammlung, die bei meinem Erscheinen ganz aufgeregt geworden war.
»Waldbruder«, sagt sie mit ihrer süßen Stimme, »kommt heran! Wir haben Wahltag, und Ihr könnt Protokoll führen. Ich bin Wahlvorsteherin, und das sind meine beiden Beisitzerinnen, Jungfer Chlorophyllis und Frau Samenkapsel.«
Ich schaute mir die beiden an. Die Fee Chlorophyllis trug ein grünes Gewand; sie macht das Blattgrün, das die Pflanzen so nötig haben zum Leben und Gedeihen. Frau Samenkapsel war ein altes, vergnügtes Mütterchen und schaute mit roten Apfelbäckchen aus ihrer gestärkten Haube. Ihr Kleid war von silbergrauer Seide und knisterte bei jeder Bewegung.
Ich machte zuerst ein höfliches Kompliment, wie es sich gehört, und ließ mich dann auf einem Maulwurfshügel nieder. Zwei winzige braune Kerlchen sprangen zum Graben herunter, schöpften Wasser mit silbernen Eimerchen und wollten es mir auf die Füße gießen. Ich gehe barfuß und trage bloß Sandalen.
Die Fee Flora wehrte ihnen und sagte: »Lasst nur! Der Waldbruder braucht kein Wasser von unten, er hat ja keine Wurzeln. Das sind nämlich unsere Wurzelmännchen«, sagte sie dann zu mir, »die den Pflanzen das Wasser liefern.«
»Mit Verlaub, Eure blumenreiche Hoheit«, sagte ich höflich wie möglich, denn wenn es darauf ankommt, verstehe ich mich auch auf den Hofton, »darf ich fragen, was für eine Wahl denn im Gange ist? Reichstag oder Landtag oder …«, da unterbrach mich ein hundertstimmiges Gelächter.
Der gelbe Löwenzahn brüllte ordentlich vor Vergnügen. »Ruhe!«, rief Flor, und als der Löwenzahn etwas von »Dummkopf« sagte, bekam er einen Ordnungsruf.
»Wir wählen die Blumenkönigin«, belehrte mich die gute Fee.
»Ist das denn nicht, Frau Rose?«, fragte ich harmlos. Da hättet ihr den Lärm hören sollen.
»Die ist bloß von den Menschen gewählt. Die gilt bloß im Garten. Die Aristokratin, wir sind Demokraten, und unsere Königin soll die erste Demokratin sein.«
So ging das durcheinander, und die Fee Flora musste tüchtig läuten mit weißen und blauen Glöckchen, bis die Ruhe wiederhergestellt war.
Ich bat um Entschuldigung und beschloss, ganz still zu schweigen und mich auf das Protokoll zu beschränken. Die Wurzelmännchen hatten ein Huflattichblatt gereicht und eine Binse; sie hielten mir ihre Eimerchen hin, dass ich fleißig eintunken konnte.
»Wir fahren in den Verhandlungen fort«, sagte Flora, »wer wünscht das Wort?«
Der Führer der gelben Partei, Herr Löwenzahn, hielt eine glänzende Rede. Er sprach mit so einem Kraftaufwande, dass er schwitze, und sagte viel Schönes von der gelben Sonne und dem gelben Golde und schlug vor, Frau Himmelsschlüssel als Königin zu wählen. Seine Rede machte tiefen Eindruck.
Da erhob sich der Führer der blauen Partei, Herr Ehrenpreis, und redete fast noch schöner vom blauen Himmel, indem er empfahl, entweder der Kornblume oder der blauen Glockenblume die Krone zu geben. Auch er fand Beifall.
Dann kamen die Roten an die Reihe und verlangten die Königswürde stürmisch für die rote Orchidee, denn das sei eine ganz vornehme Blume.
Da erhoben sich viele Zwischenrufe: »Was soll uns das Vornehme? Die Orchidee heißt eigentlich Knabenkraut. Knaben sollen nicht herrschen. Übrigens riecht sie unangenehm, ja, sie stinkt sogar ein bisschen.« Frau Orchidee in ihrem roten Samtkleide drehte sich auf dem Absatz um und ging stolz davon.
Nun trat eine ganz neue Partei auf, die Partei der Duftspender, vertreten durch Junker Waldmeister. Er hatte ein sehr aristokratisches Benehmen und näselte ein bisschen.
»Aller Pöbel riecht schlecht«, sagte er, »und der gute Geruch ist doch schließlich die Hauptsache. Wer möchte sonst neben dem Thron stehen?«
Hier wurde er unterbrochen. »Arroganter Kerl!«, schrie Herr Löwenzahn, der sehr böse war, weil er gar nicht duften konnte, »hast ja bloß so kleine weiße Blümchen …«
»Weiß ist die nobelste Farbe«, näselte Junker Waldmeister, »sie fasst alle Farben in sich zusammen …«
»Schluss! Schluss!«, schrie das ganze Blumenvolk, und Fee Flora läutete gewaltig.
Als es endlich ruhig geworden war, sagte Flora: »Ich mache einen Vorschlag zur Güte. Nehmen wir eine Blume, die ganz bescheiden ist und zeitgleich eine schöne Farbe hat und einen süßen Duft. Komm, mein kleines Veilchen! Warum versteckst du dich?«
Das kleine Veilchen war sehr erschrocken und kroch noch tiefer unter die Blätter, alles klatsche Beifall und rief: »Ja, ja, das Veilchen soll Königin sein! Hoch das Veilchen!«