Читать книгу In der Waldklause - Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahre und darüber - Augustin Wibbelt - Страница 28

Das arme Bienchen

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Gestern habe ich eine neue Freundschaft geschlossen, und zwar mit Fräulein Bienchen. Das ist eine vornehme Person, sie wohnt auf dem Weidenhofe in einem großen Bienenstocke und gehört zu dem berühmten Volke der Honigbienen, die eine großmächtige Königin haben. Ich habe ihr das Leben gerettet, von Rechts wegen müsste ich die Rettungsmedaille haben. Aber ich gebe nichts auf Orden; ich glaube, sie würden auch auf meiner groben Kutte gar nicht aussehen. Es kam so.

Ich saß am Waldbächlein mitten in dem blühenden Vergissmeinnicht. Meine Sandalen hatte ich ausgezogen und plätscherte vergnügt mit den Füßen im kühlen Wasser, was ich schon als kleiner Junge gern getan habe. Die Maiensonne schien mir warm auf den Rücken, und ich unterhielt mich gemütlich mit Herrn Krebs, der auf dem Ufersande saß. Erst hatte er Reißaus nehmen wollen, als ich kam, denn wir sind im Mai. Das ist einer von den Monaten ohne den Buchstaben r, und da stellen die Menschen den Krebsen nach, weil sie in diesen Monaten gut schmecken. Als er mich erkannte, blieb er ruhig sitzen und legte seine Scheren friedfertig zusammen.


»Guten Tag, Waldbruder«, sagte er, »Ihr seid zwar ein Mensch, aber doch kein Mörder wie die meisten Menschen. Die Menschen schimpfen immer auf die schlechte Welt, aber sie sind die Schlimmsten von allen und meinen, sie müssten alles auffressen.« Wir waren dann in ein gemütliches Gespräch gekommen, und er hatte mir viel erzählt von dem Leben und Treiben im Wasser. Frau Forelle sei eine sehr gefräßige Person, sagte er, aber Herr Fischotter sei noch viel schlimmer. Er habe vor einigen Tagen die Frau Krebsin aufgefressen, und er, der Herr Krebs, sei nun ein tiefbetrübter Witwer.

»Seht, Waldbruder«, schluchzte er und wühlte etwas aus dem Sande heraus, »das sind die Scheren meiner seligen Frau, das einzige, was von ihr noch übrig ist. Ach, sie war eine Seele von einer Frau und hat mich nie gekniffen, obwohl sie sehr kräftige Scheren hatte.«

Als ich ihm gerade mein Bedauern aussprechen wollte, ertönte ein schriller Hilfeschrei in feinen, durchdringenden Tönen. Ich sah ein Bienchen, das auf einem Stückchen Holz auf dem Wasser dahintrieb und vergebens die nassen Flügel reckte.

»Schnell, Herr Krebs«, rief ich, »schwimmt hinüber und rettet die Person.«

Er zwickte ein paarmal mit den Scheren und glotzt mit den vorstehenden Augen. »Geht mich nichts an«, murrte er dann, »sollte zu Hause bleiben, die naseweise Person!«

Damit kroch er rückwärts in sein Loch und verschwand. Nun sprang ich schnell in das Bächlein und wäre auf den glatten Steinen bald ausgerutscht, aber es gelang mir, das arme Bienchen zu retten. Ich setzte es auf mein Knie in die warme Sonne. Es trug ein graues Jäckchen und dicke, gelbe Höschen von Blütenstaub. Dankbar schaute es mich an mit den klugen Augen und zugleich etwas misstrauisch, ja, es ließ sogar seinen Stachel sehen.

»Armes Kind«, sagte ich freundlich, »beruhige dich nur, ich tue dir nichts. Aber wie kommst du in den Bach?«

Fräulein Bienchen atmete tief auf und zog den Stachel ein.

»Ihr seid ein guter Mann, Waldbruder, und habt mir das Leben gerettet. Das vergesse ich Euch nicht. Ihr sollt zum Danke Honig haben, wir sind reich. Und nun will ich euch meine Geschichte erzählen, bis meine Flügel wieder trocken sind. Ach, wie tut die Sonne doch gut! Seht, Waldbruder, ich lebe auf dem Weidenhofe in dem Bienenhause, das dort im Obstgarten steht. Es ist heute ein Unglückstag. Mit drei von meinen Schwestern bin ich heute Morgen ausgeflogen, mit Minchen, Linchen und Finchen. So wie wir ins Freie kamen, um an die Arbeit zu gehen, wurde Minchen von dem bösen Fliegenschnäpper gefressen. Er hat sein Nest neben dem Bienenhause und sitzt immer auf der Lauer, ob er nicht eine von uns schnappen kann, gerade als wenn wir gewöhnliche Fliegen wären. Ach, das arme Minchen war ein so fleißiges Mädchen! Sie hatte immer die dicksten Höschen an, wenn wir heimkamen, und wurde von der Frau Königin oft gelobt. Ihr wisst, die Obstblüte ist vorbei, und die Lindenblüte hat noch nicht angefangen, und die Heideblüte kommt noch später. Wir flogen über das schöne Kleefeld, das herrlich duftete, und beneideten die dicke Frau Hummel, unsere Tante, die dort bei der Arbeit war.«

»Warum geht ihr denn nicht alle in den blühenden Klee?«, fragte ich, »er hat sehr viel Honig, das habe ich als Kind schon zuweilen probiert.«

Fräulein Bienchen lächelte. »Ja, das möchten wir wohl«, sagte sie, »und die jungen unerfahrenen Bienen probieren es auch, aber unsere Zunge ist zu kurz. Zeigt mal die Eure, Waldbruder!«

Ich streckte meine Zunge aus, soweit es ging. »Großartig!«, rief Bienchen bewundernd aus, »nur ein wenig zu plump. Unsere Tante, Frau Hummel, hat auch eine lange Zunge, nicht so lang wie Eure, aber feiner. Die kann mit dem Klee fertigwerden. Sie rief uns zu: Kinder, dies ist nicht für euch, geht auf die Waldwiese, da stehen viele Blumen mit kurzen Hälsen. Die will ich euch alle überlassen. Dann bummelte sie gemütlich zum nächsten Kleekopf und streckte ihre lange Zunge hinein – ach, es ist der schönste Traum meines Lebens, dass ich es auch noch zu einer solchen Zunge bringe! Ich mache jeden Abend, ehe ich zu Bett gehe, gymnastische Zungenübungen. Genug, wir flogen auf die Waldwiese und fanden Arbeit in Fülle. Aber, o weh, da kam ein dicker Frosch herangehüpft.

Ich rief ›Achtung‹, doch es war zu spät. Er hatte mein Schwesterchen, das liebe Linchen, schon heruntergeschluckt. Sie hat ihn noch schnell gestochen, er sprang in den Graben und sitzt wahrscheinlich noch jetzt dort im Wasser und kühlt seinen dicken Kopf. Aber das gute Linchen ist hin. Wir hatten eine reiche Ausbeute, und da wurden wir übermütig.

Meine Schwester Finchen schlug vor, wir wollten einmal in den Wald fliegen und sehen, was dort wohl für Blumen blühten. Ich fürchtete mich, schließlich ließ ich mich bereden. Ach, es war schön, aber auch unheimlich. Alle Augenblicke stieß ich mir den Kopf an einem Zweig. Als wir über den Waldbach flogen, fiel Finchen hinein und schrie jämmerlich. Ich wollte ihr helfen. Da kam eine Forelle geschossen, wie ein Blitz so schnell, und verschlang mein armes Schwesterlein vor meinen Augen. Vor Schrecken bin ich selbst auch ins Wasser gefallen, konnte aber zum Glück ein Hölzchen erwischen und mich daran festklammern. Da habt Ihr mir geholfen, guter Waldbruder, und das werde ich Euch nie vergessen.«

Fräulein Bienchen probierte ihre feinen, silbergrauen Flügel. Sie waren trocken geworden und schwirrten lustig in der Sonne.

»Nun muss ich heim«, sagte sie, »ach, was wird die Frau Königin sagen, dass ich allein komme und dass Minchen, Linchen und Finchen tot sind. Den Honig bringe ich Euch morgen, Waldbruder.« Damit machte sie eine zierliche Verbeugung, hob sich in die Lüfte und verschwand.

Zu dem Honigfeste, liebe Kinder, lädt euch euer Waldbruder freundlichst ein.

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