Читать книгу "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" - Barbara Halstenberg - Страница 10

»Alles ist aus, das Licht ist aus, alles aus …« Dieter Hadel

Оглавление

(Geboren 1934 in Berlin, Ingenieur)

Es war Winter, als wir aus der Evakuierung zurück in Berlin ankamen. Wir hatten die Flucht überstanden und waren zufrieden: Die Wohnung stand noch. Aber die Luftangriffe nahmen gegen Ende des Krieges immer mehr zu. Es kamen Wellen von 600–900 Bombenfliegern! Im Radio hörten wir ständig: »Hier ist der deutsche Rundfunk. Feindliche Fliegerverbände im Raum Hannover–Braunschweig.« Dann wussten wir, dass es auf Berlin gehen würde. Schon bald gingen dann die Sirenen auf den Häuserdächern los und alles flüchtete in die Keller. Dort hatten Baufirmen Holzpfeiler eingebaut und Querbalken eingesetzt, damit die Kellerdecke bei einem Angriff nicht einstürzen würde. Wir kamen gar nicht mehr aus den Sachen raus, trauten uns nicht, uns abends auszuziehen. Ich zog bloß den Mantel aus und legte mich so aufs Bett. Wenn die Mutter nachts um zwei zu mir sagte: »Junge, komm, aufstehen, wir müssen wieder runter gehen!«, zog ich nur den Mantel an und rannte runter. Wir wohnten vier Treppen, mussten noch über den Hof laufen und eine halbe Treppe tiefer in den Keller rein. Dort waren bestimmte Räume als Luftschutzräume gekennzeichnet.

In der Nacht kamen dann manchmal zwei oder drei Angriffe, abends um acht der erste. Die meisten Fliegerangriffe waren nachts, damit die Flak die Flieger nicht sehen konnte. Ich konnte die Scheinwerfer der Flak am Himmel sehen, die versuchte, die Flieger abzuschießen. Aber es wurden ganz wenige getroffen, die meisten Flieger konnten ihre Luftminen und Brandbomben abwerfen. Die Brandbomben waren achtkantig und im Durchmesser vielleicht fünfzehn Zentimeter. Sie schlugen nur durch die Dachziegel und blieben auf den Dachböden liegen, wo sie die Holzböden in Brand setzten und die Häuser alle von oben runterbrannten. Die Sprengbomben gingen durch. Und dann gab es noch die Luftminen. Die explodierten oberhalb des Hauses, in einer Höhe von vielleicht zwanzig, dreißig Metern. So eine Luftmine traf auch unser Haus.

Wir sitzen unten im Keller. Jeder hat seinen Platz, daneben eine Decke und ein Eimer mit Wasser. Wenn eine Bombe runterkommen würde, sollten wir uns nasse Tücher vor das Gesicht halten, um nicht den Rauch, den Staub und den Dreck einzuatmen. In jedem Haus gibt es Verantwortliche für Luftschutz, den Luftschutzwart. An diesem Tag stehen der Luftschutzwart und noch ein anderer Mann oben an der Kellertreppe, als es einen furchtbaren Knall gibt. Meine Mutter wirft sich über mich. Ich habe keine Geschwister, ich bin das einzige Kind. Alles ist aus, das Licht ist aus, alles aus … Meine Mutter presst mir ein nasses Taschentuch gegen den Mund. Ich kann nichts sehen. Unser Haus ist über uns eingestürzt, aber die eingebauten Balken und Pfosten haben die ganze Last von dem vierstöckigen Haus getragen. Im Keller ist nichts kaputtgegangen. Nach einer halben Stunde wird es ruhiger draußen, wir hören keine Einschläge mehr. Jemand sagt: »Raus aus dem Keller!«

Der Keller liegt unter dem Vorderhaus. Wir gehen die Treppe hoch und sehen den Luftschutzwart vor der Kellertür liegen. Er und der andere Mann waren sofort tot, als die Mine einschlug. Es wurde immer gesagt: Wenn du eine Luftmine hörst, dann passiert nichts, dann schlägt die woanders ein. Die beiden Männer hatten nichts gehört … Wir kommen hoch und sehen: Der rechte Seitenflügel ist weg, bis zur ersten Etage liegt alles in Trümmern, überall liegen Holzbalken. Das Vorderhaus steht noch, wir können über die Trümmer auf die andere Straßenseite gehen, wo auch die anderen Leute aus unserem Haus stehen. Alle rufen durcheinander: »Haste gesehn, der is tot!«

»Und der is auch tot!«

»Bei uns ist alles kaputt!«

»Gott sei Dank, dass wir noch leben«, tröstet mich Mutti.

Es ist Nacht. Dunkel. Eine Tante meiner Mutter wohnt in der gleichen Straße, acht Häuser weiter. Mutti und ich laufen zu ihr. Tante Else öffnet die Tür und sagt: »Na, hat’s euch auch erwischt?«

»Ja!«, sagt Mutti, »alles kaputt, ist nüscht mehr zu sehen von unserem Haus.«

»Na, kommt mal rein.«

Am nächsten Tag gingen wir nochmal zurück, um uns zu überzeugen. Wir stiegen über die Trümmer des Hausdurchgangs vom Vorderhaus und sahen: Es war nichts mehr übrig von unserem Haus. Die Leute versuchten die Steine wegzuräumen, um an ihre Sachen zu kommen, die jetzt in dem Schutt lagen. Ein paar Sachen fanden sie auch. Ich weiß noch, wie einer sagte: »Guck mal, hier is Opas Holzbrett, mit dem er immer den Speck geschnitten hat!«

Wir fanden die Hausschuhe meines Vaters, Mutti den einen und ich den anderen. Später habe ich diese Schuhe noch auf der Straße getragen. Lederne Hausschuhe. Wir fanden auch noch einen Boucléstoff aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Ich zog den zerrissenen Stoff aus den Trümmern, daraus konnte man noch etwas Wärmendes machen.

Bei Tante Elsa konnten wir nicht bleiben. Bei ihr wohnten schon ein Gastarbeiter und eine andere Frau. Wo sollten wir bleiben? Vaters Schwester, Tante Ella, hatte das Hotel Komet an der Warschauer Brücke. Sie war aufs Land geflohen, nachdem direkt vor ihrem Haus und dem darunter liegenden Luftschutzkeller eine Sprengbombe explodiert war. Alle Leute, die in dem Luftschutzkeller saßen, wurden getötet. Auch ihr Mann, Onkel Oskar. Tante Ella musste ihren Hotelbetrieb aufgeben, die Fenster aller Gästezimmer waren zerstört und das Mobiliar lag in Trümmern. In ihrer Wohnung sah es nicht ganz so schlimm aus, und sie hatte sie meiner Mutter angeboten.

Dort war es schlimm … Als der erste Fliegerangriff kam und meine Mutter mit mir runter in den Luftschutzkeller rannte, ließen sie uns nicht rein! Die eigenen Deutschen ließen uns nicht mit in den Keller rein! Weil wir keine Bewohner des Hauses waren. Alle Beteuerungen meiner Mutter, dass wir in der Wohnung ihrer Schwägerin wohnten, halfen nichts. Die ließen uns nicht rein. Wir setzten uns auf die Kellertreppe und warteten den Angriff ab.

Von nun an mussten wir in einen Bunker am Schlesischen Bahnhof rennen. Tausende Menschen strömten dorthin. Wir mit. Meine Mutter hatte immer ihre Umhängetasche und die Gasmasken dabei. In dieser Tasche trug sie alles, was sie besaß: alle Papiere, Schlüssel, Ausweise, Lebensmittelkarten, Geburtsurkunden, Trauschein, Sparbuch, Uhr und Ringe. Und dann wurde ihr im Bunker die Tasche geklaut! Jetzt konnte sie sich nirgends mehr identifizieren. Nach den Ereignissen auf der Flucht war dies das zweite Mal, wo meine Mutter hätte Schluss machen wollen mit dem Leben: die Wohnung verloren, die Verleumdung durch die eigenen Bürger und dann noch alles geklaut. Nur der Gedanke an mich hatte sie davon abgehalten. Das hat sie mir Jahrzehnte später erzählt.



Подняться наверх