Читать книгу "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" - Barbara Halstenberg - Страница 24

Von wandelbaren Gerüchen, Hosenbeinen und dicken Kuchenblechen

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Mit den Flüchtlingen war es so: Meine Mutter lernte auf der Straße eine Frau kennen. Sie weinte furchtbar. Die Frau erzählte, dass sie und ihre Tochter geflüchtet waren, ihr Mann war im Krieg. Sie hatten nichts zu essen und so einen Hunger. Ihr Kind war zwei Jahre jünger als ich, fünf Jahre alt, und es hatte nichts zum Anziehen. Meine Mutter nahm die Frau mit zu uns nach Hause und gab ihr Sachen von mir, aus denen ich rausgewachsen war. Sie hatte bei meinen Schuhen schon die Spitzen abgeschnitten, weil wir keine Schuhe kriegten.

Ich habe das oft von anderen gehört, auch von meiner Freundin, die geflüchtet ist: Sie bekamen auf dem Land ein Zimmer zugeteilt, das nicht beheizt war. Sie hatten kaum zu essen, und die Kinder mussten immer alle mithelfen. Die da auf dem Land sollten sich was schämen, denn das waren ja Deutsche, die geflüchtet sind.

In der Stadt bei uns in Berlin war es so: Wer eine größere Wohnung hatte, musste Zimmer an Flüchtlinge abgeben. In unserem ganzen Haus wohnten überall in den Wohnungen mehrere Familien. Da hat sich keiner gegen gewehrt, von wegen das will ich nicht! Wissen Sie, das gab es nicht! Die waren hier mitten in der Stadt alle verteilt. Wir waren dann auch so viele Kinder in der Klasse, weil so viele geflüchtet sind. Als wir abgingen, waren wir neun 10. Klassen! So viele Kinder waren wir – 35 in der Klasse! Geht alles!

(Edeltraud H., Jg. 1938)

Ich erinnere mich an die Geschichten der Flüchtlinge aus Ostpreußen, die bei uns im Dorf vorbeikamen. Eine Familie hatte erzählt, dass ihr zweijähriges Kind auf der Flucht erfroren war. Die Kleinen konnten ja nicht trockengelegt werden. Die machte sich nass, und dann fror das ein. Sie hatten keine Wäsche mehr. Man kann sich heute die Kälte von 25 Grad minus auf der Flucht gar nicht vorstellen. Es muss schlimm gewesen sein … Wir mussten nur aus Westpreußen fliehen und konnten noch mit dem Zug fahren.

Ich wundere mich immer, dass darüber so wenig geredet wurde. Oder wie soll ich sagen, ich hatte später im Westen sehr viele Freundinnen, auch eine in Bayern, die es ganz normal fanden, dass wir flüchten mussten. Schließlich musste ja jemand den Krieg bezahlen, und das trifft natürlich immer irgendeinen. Damit war für meine Freundinnen das Thema erledigt. Dass das für jemand, der davon betroffen war, nie erledigt ist, weil ja was fehlt, das haben die, glaube ich, bis heute nicht begriffen. Es ist sehr einschneidend, wenn Sie aus Ihrem Umfeld rausgerissen werden. Egal, ob das nun mit einer schlimmen Flucht verbunden war oder nicht. Wir mussten weg und durften nicht wieder zurückkommen – das ist sehr einschneidend. Wir sind nicht immer mit offenen Armen aufgenommen worden. Meine Freundin aus der Schule durfte mich nicht mit nach Hause bringen, weil ich Flüchtlingskind war. Das war ihr streng verboten. Als ihre Eltern mal verreist waren, hat sie mir heimlich das Haus gezeigt. Ist das nicht ein Ding! Als hätten wir die Krätze gehabt. Das verschweigt man heute auch. Also so gut, wie die Flüchtlinge heute aufgenommen werden, wurden wir nicht aufgenommen. Und wir waren das gleiche Volk und hatten nicht mehr verbrochen als die, wo wir hingekommen sind. Das war meinen Freundinnen, die nicht flüchten mussten, irgendwie nicht klar. Das war nicht ganz einfach …

(Kristin K., Jg. 1937)

Wir wurden durch die Polen aus Stettin vertrieben, das hatten die Russen so angeordnet. Das Allernötigste konnten wir auf einem Handwagen mitnehmen. Ich durfte mich als Kind auf den Wagen setzen, das machte mir Spaß. Wir waren Wochen unterwegs. Irgendwann wurde meine Mutter von den Russen mitgenommen. Opa und ich zogen weiter, trieben uns in Scheunen rum, damit wir wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. In Mecklenburg-Vorpommern liefen wir durch eine Stadt – auf einmal kam uns meine Mutter entgegen. Solche Zufälle gab’s! Sie hatte eine Glatze. Die Russen hatten sie vergewaltigt und dann kahl geschoren – wollten sie nach Russland verschleppen. Da hatte sie gesagt, sie muss mal und war geflohen. Zusammen zogen wir weiter, übernachteten in Scheunen. Die Bauern gaben uns nichts. Wir mussten auf Knien Rüben verziehen. Wir mussten uns das Essen verdienen. Dann bekamen wir auch ein Zimmer. Das mussten wir uns verdienen. Das Schlimmste waren die Bauern, die in Saus und Braus lebten und uns das fühlen ließen. Wir waren damals die Flüchtlinge, die heute aus anderen Ländern kommen. Wir waren einfach nicht willkommen.

(Helga Schwierzke, Jg. 1936)

Wir waren nach Stettin geflüchtet. Weil wir dort fast jede Nacht in den Luftschutzkeller mussten, zogen wir weiter zu Verwandten in den Warthegau. Wir lebten dort in einem deutsch-polnischen Dorf mit einer deutschen Minderheit, das bis 1939 zu Polen gehört hatte. Die Deutschen im Dorf waren die reichen Leute und besaßen Güter rundherum. Ich konnte sehen, wie die Polen schlecht behandelt wurden. Die mussten von den Bürgersteigen runter auf die Straße gehen, wenn wir als Deutsche vorbeikamen, und uns grüßen. Die Fahrräder der Polen waren weiß gestrichen, sodass man sie gleich erkennen konnte. In den Geschäften wurden sie als Letzte bedient. Die Regel war: Solange noch ein Deutscher im Laden ist, werden Polen nicht bedient.

(Alexander A., Jg. 1932)

Nach dem Krieg war Flüchtling ein Schimpfwort. »Du Flüchting!«, haben wir immer gesagt. Wir hatten nachher viele Leute aus Ostpreußen in der Schule. Wir hörten das immer am Namen. Die mit -ky hinten. Orlowsky und wie sie alle hießen. Da hat uns unser Lehrer erzählt, das es eigentlich polnisch ein »von« war. Na ja, dann hieß er eben von Orlowsky …

(Alfred D., Jg. 1936)

Während wir auf der Flucht ständig die Züge wechselten, hing ich so gut es ging am Rockzipfel meiner Mutter. Auf einem der vielen Bahnsteige, auf denen wir umsteigen mussten, hatte ich ein Schlüsselerlebnis, von dem ich jahrelang noch nachts Albträume hatte. Da meine Mutter das Gepäck trug, sagte sie auf diesem Bahnhof zu mir: »Fass die Anneliese an.«

Meine große Schwester wollte ich aber nicht anfassen. Das war das erste und letzte Mal, dass ich als Kind aufmüpfig war. Auf einmal war ich allein! Ich Kleine sah nur noch Hosenbeine um mich herum, die sich bewegten … nur Hosenbeine. Ich fing an zu weinen. So wurden wohl Leute auf mich aufmerksam und holten eine Rot-Kreuz-Schwester. Die Schwester nahm mich an die Hand und war gerade mit mir losgelaufen, als ich plötzlich meine Schwester die Treppe runterkommen sah. Ich rief: »Da ist meine Schwester!«

Ich wusste damals nur, dass ich Roswitha heiße. Ich wusste nicht meinen Nachnamen, und wo ich wohnte und herkam, wusste ich auch nicht. Ich wäre ein Suchkind geworden. Wieder Glück gehabt … Meine Mutter saß währenddessen wie auf Kohlen mit dem Gepäck im überfüllten Zug, der gleich abfahren sollte. Aber Annie hatte mich geholt, und danach war ich immer artig. (Sie lacht.) Sehr lange hatte ich bildliche Direktträume – immer wieder dasselbe. Ich habe mir von Psychologen sagen lassen, dass solche Träume aufhören, wenn ein Kind sich selbstständig weiß. Geblieben sind Träume – die hatte ich ewig –, in denen ich zu spät komme und die Rücklichter von Zügen sehe. Ist das nicht merkwürdig?

Das war meine Kindheit, die mich geprägt hat. Ich habe mich in meinem Leben immer mitnehmen lassen. Ich habe nicht selber Initiative ergriffen. Ich habe auch nicht gesagt: ›Nee, das will ich nicht, oder das mach ich nicht.‹ Ich hab alles gemacht. Total angepasst. Das war nicht so gut für mich …

Jedenfalls haben wir es überlebt. Die Menschen haben Fürchterliches durchgemacht. Ich kann nur hoffen, dass sowas nie, nie wieder passiert. Es war schon sehr schlimm.

Ich merke, je älter ich werde, desto mehr denke ich an die Zeit zurück. Warum bloß? Merkwürdig …

(Roswitha Weiß, Jg. 1939)

Gerüche sind wandelbar. Zum Schluss des Krieges umgab uns ein ständiger Verwesungsgeruch. Ringsum war Tod. Ja, Tod und Verderben, sagt man immer, aber es war ringsum Tod, und es war ringsum Verwesung. Ich kann mich erinnern, als wir auf Kähnen die Ostsee entlanggeflüchtet waren und auf Rügen lagen und auf die Russen warteten, da starben auch Menschen. Die mussten ja beerdigt werden. Einige Leute waren bereit, Gräber zu schaufeln, wo sie die Toten einfach reinlegten. Ich guckte zu. Als ein toter Soldat nicht in das vorher geschaufelte Grab passte, wurde dem der Kopf abgehackt und danebengelegt. Anstatt das Grab größer zu machen, die Arbeit wollte man sich nicht mehr machen, ja … Das hat natürlich auch gestunken. Es war ja ein Toter, und die Leichenflüssigkeit kam raus und roch entsprechend. Der Geruch ging über das ganze Lager. Auf den Kähnen hatten wir das Problem, wo die Notdurft verrichtet werden konnte. Toiletten hatten wir nicht. Wir mussten es irgendwie über Bord bekommen. Und als wir tagelang im Hafen lagen, wurden auch keine Toiletten aufgestellt. Es wurden Donnerbalken geschaffen, auf die wir raufmussten, oder man hat sich die Hosen vollgemacht. Die Exkremente, die hinter den Donnerbalken fielen, umwehten nachher den ganzen Hafen. Und diesen Geruch haben Sie dann intus. Ich sag das jetzt mal ein bisschen drastisch, es roch nach Scheiße, Dreck und Tod. Und das hat Sie auch verfolgt. Das hat im Grunde genommen angedauert, bis wir wieder einigermaßen normale Verhältnisse hatten. Also bis die Russen im August, September 45 aufhörten, jeden zu erschießen, der ihnen nicht gefiel, oder jede Frau zu vergewaltigen. Dann ging auch der Geruch zurück. Es gab wieder ein bisschen Pflege und Reinlichkeit, obwohl wir gar keine Mittel hatten, keine Seife, nichts. Ich weiß nicht mehr, wie wir das gemacht haben. Wasser hatten wir. Ein Glück! Also, die Gerüche sind tatsächlich andere im Krieg und umwehen dann auch mehr oder minder jedes Tun. Sie werden davon bestimmt. Wenn ich daran denke, als ich die Bahnstrecke von Ueckermünde nach Berlin langlief, weil die Schienen von den Russen rausgerissen worden waren, lagerten auf den Bahnhöfen überall Flüchtlinge. Die waren auch umweht von den Gerüchen. Ich roch schon ein paar Kilometer vorher, dass ich in die Nähe eines Bahnhofs kam. (Er lacht.) Es war wirklich so. Eigentlich auch erklärlich …

(Burkhard C., Jg. 1932)

Ende 44 hörten wir plötzlich Kanonendonner. Die Stadt war in Aufregung. Die Russen! Die Russen kamen langsam näher. Was jetzt machen? Meine Mutter, sehr clever, horchte rum. An einem Vormittag sagte sie plötzlich: »Nimm deine Schultasche und tu das rein, was du gerne möchtest, wir gehen sofort zum Bahnhof und fahren raus aus Ostpreußen.«

Meine Mutter bepackte in höchster Eile den kleinen Kinderwagen mit ein paar Windeln. Wir ließen alles in der Wohnung, hatten nur das Allernötigste bei uns. Am Bahnhof stand ein völlig überfüllter Rot-Kreuz-Zug mit verwundeten Soldaten und Müttern mit Kindern. Man presste in den Zug rein, was reinging. Wir hatten Glück. In unserem Abteil saßen vier oder fünf Familien. Die Kinder lagen in den Betten und die Erwachsenen auf der Erde. Ich auch. Kein Platz. Die Gänge waren voll. Ich hörte die Schreie von den Verwundeten, die in den anderen Abteilen lagen. Der Zug fuhr mit uns nach Dresden. Der Hauptbahnhof lag in Trümmern! Diesen Eindruck habe ich bis heute nicht vergessen. Es war nichts mehr von Dresden da. Mit Bussen wurden wir auf die Dörfer verteilt. Wir bekamen eine kleine Wohnung bei einem Bauern in Friedrichsfelde, eine Küche mit einer kleinen Kammer. Meine Schwester schlief im Kinderwagen und ich mit meiner Mutter im Bett in der Kammer.

(Ursula R., Jg. 1934)

Zur Flucht muss ich sagen, weil das ja jetzt auch wieder aktuell ist: Es war damals zwar Flucht, aber wir kamen ja nicht ins Ausland. Wir konnten uns immer verständigen und kamen zu Deutschen. Nicht immer wurden wir gut empfangen. In der Nacht vor Pfingsten nahm uns keiner auf und um neun mussten die Flüchtlinge immer von der Straße runter sein. In Thüringen hatten sie nichts vom Krieg erlebt, keine Bomben, keine Flucht, nichts. Keiner nahm uns auf. Wir gingen zum Bürgermeister, der sich dann kümmerte, dass wir irgendwo aufgenommen wurden. Die Leute saßen alle vor ihren dicken Kuchenblechen. Sie gaben uns dann auch was ab. Meine Mutter und meine Tante kamen in eine Familie, wo ihnen eine Kammer angeboten wurde. Aufs Klo mussten sie in den Hof. Sie kriegten nichts zu essen und zu trinken. Sowas gab es eben …

(Heidi P., Jg. 1934)



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