Читать книгу "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" - Barbara Halstenberg - Страница 23

»Mir wurde auf einmal klar, wir werden vertrieben!« Barbara Schubert-Felmy

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(Geboren 1931 in Liegnitz, Lehrerin, Dozentin)

Anfang 1946 wurde es immer sicherer, dass wir das Land nicht behalten. Die Straßennamen waren alle schon polnisch. Das Geld war polnisch. Die deutschen Kinder durften nicht in die Schule, die polnischen Kinder hatten alle normalen Unterricht. Als meine Mutter von dem Beschluss über die Oder-Neiße-Linie im Radio hörte, fing sie mit den Vorbereitungen an. Sie packte Handtücher, Wäsche, Kochtöpfe und Fotoalben in Pakete und schickte alles nach Sachsen, wo ein Anverwandter ein Gut hatte. Später bekamen wir die Sachen auch wirklich zurück. Im Februar packte sie mit meinen Geschwistern und mir zur Probe. Wir durften nur das mitnehmen, was wir tragen konnten. Jeder kriegte einen Rucksack mit Wechselwäsche und warmer Kleidung und um den Rucksack aufgerollt zweimal bezogene Betten. Ich war vierzehn, meine Schwester acht und mein Bruder sechs. Er konnte noch nicht so viel tragen. Meine Mutter und die Omi häkelten Geldscheine ein, unsere Knöpfe waren dann alle mit Geld oder Schmuck gefüllt.

Ich erinnere mich an die letzte Nacht. Ich dachte: ›Mein Gott, die letzte Nacht in meinem Bett. Wo werde ich die nächste verbringen?‹ Wir hatten alles fertig. Die Wohnung war sauber.

Der Tag, an dem wir das Pfarrhaus und Bad Landeck verlassen mussten, gehört zu den Erlebnissen in meinem Leben, die ich in allen Details noch heute vor Augen habe. Ich sehe Mutter und uns drei Kinder sowie die vierzehn Flüchtlinge, die bei uns im Pfarrhaus untergekommen waren, mit dem Gepäck vorm Haus stehen. Ich sehe die polnische Miliz, die die Haustür hinter uns zuschloss, sodass wir aus dem, was uns doch eigentlich gehörte, vertrieben wurden. Auf einmal wusste ich: Das ist ein ganz großer Einschnitt in meinem Leben. Hier war ich behütet, hier war ich durch die Landschaft gestreunt. Ich hatte eine große Freiheit. Und jetzt die Fremde. Trotzdem war ich nichts wie glücklich! Ich dachte: ›So, das hast du geschafft! Weg hier!‹ Ich wollte keine Qual, kein Leiden. Ich hatte das ganz große Bedürfnis nach geregelten Verhältnissen, nach Schule, nach Ausbildung. Es war mir alles zu stumpfsinnig geworden. Ich hatte keine Bücher mehr, die mich interessierten, und meine Freunde waren zum großen Teil schon geflohen. Und dann sagte meine Mutter plötzlich in meine Gedanken hinein: »Du Barbara, im Keller steht noch ein Glas mit Honig. Das hab ich vergessen, das ist doch dumm.«

Wir hatten nicht gehungert, aber sehr, sehr sparsam gelebt. Und Honig war eine Kostbarkeit. Weil das Haus schon abgeschlossen war, lief ich zur Kellertür. Sie war noch auf. Unten dachte ich: ›Mein Gott, jahrelang haben wir in diesem Haus gelebt und niemals hätte ich gedacht, dass ich mich wie ein Einbrecher fühle, wenn ich in das Haus reinkomme, das eigentlich uns gehört.‹ Ich kriegte eine ziemliche Wut. Mir wurde auf einmal klar, ich werde vertrieben! Rausgetrieben! Wir waren keine Nazis. Mein Vater hatte viel Ärger mit den Nazis gehabt. Er war als Pfarrer angeklagt worden, dass er nicht genügend für Hitler betete und solche Sachen. Ich war zwar Jungmädel gewesen, aber das war für mich nicht die Leitlinie. Ich nahm das Honigglas, und als ich aus dem Keller kam, dachte ich: ›Das willst du nie wieder erleben, dass man dich aus dem verjagt, was dir lieb ist.‹ Ich hatte das erste Mal am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, entmündigt zu werden. Vorher war ich froh gewesen, endlich rauszukommen, und nach dem Keller kam eine richtige Traurigkeit: Die schmeißen einen raus! Ich ahnte ja nicht, was die Deutschen in Polen und überall gemacht hatten, das wurde mir erst später klar.

Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Mit unserem Gepäck liefen wir die anderthalb Kilometer zum Bahnhof. Dort standen Baracken, in denen die Ausgewiesenen kontrolliert wurden. Mit dem ganzen Gepäck stellten wir uns in die Schlange, und dann brach meine Mutter zusammen – wurde ohnmächtig und lag im Straßengraben. Monatelang hatte sie uns und die Flüchtlinge im Haus versucht durchzubringen – sie war völlig erschöpft. Ein deutscher Arzt kam und gab ihr Spritzen. Nach einer Weile machte sie die Augen auf, und dann trat sie wieder weg.

Dass die da zusammengeklappt ist, bringt mich heute noch immer an den Rand … Puh, Gott! In dem Moment war ich viel älter, als ich eigentlich war. Ich hatte meine kleineren Geschwister, ich hatte das Gepäck, das ich durch die Sperre bringen sollte. Ich dachte: ›Wie schaff ich das bloß?‹ Meine Omi, die auch mit uns ausgewiesen werden sollte, half mir. Sie ging durch die Sperre und zwinkerte mir zu. Hinter der Prüfungsstelle, wo sie ihre Unterlagen gezeigt hatte, ging sie an den Zaun und winkte mir heimlich zu. Ich wusste, was ich tun musste, stellte mich zu ihr an den Zaun und reichte ihr mehrere Taschen heimlich durch. Dann gingen meine Geschwister und ich mit unserem Gepäck durch die Sperre. Wir Kinder wurden nicht kontrolliert. Omi und ich kamen uns vor wie Sieger. Meine Mutter lag immer noch im Graben. Der Arzt sagte zu ihr: »Frau Felmy! Sie müssen jetzt mit Ihren letzten Kräften aufstehen! Sonst werden ihre Kinder einfach weggeschickt.«

Meine Mutter raffte sich auf und wankte mit einem Paket unter dem Arm zur Kontrolle in die Baracke. Dort unterzogen die Polen sie doch wahrhaftig einer Leibesvisitation. Es war grauenhaft. Sie musste sich komplett ausziehen, die Binden auseinandernehmen, sie hatte ihre Tage. Sie fragten, was Mutter denn für Schriften in dem Paket hätte. Da sagte sie: »Das sind die Predigten meines Mannes. Es wäre sehr heilsam, wenn Sie die mal läsen.«

(Sie lacht.) Die Predigten waren das Einzige, was meine Mutter für meinen Vater, der in amerikanischer Gefangenschaft war, mitnehmen konnte. Sie kam zu uns auf den Bahnsteig, wo ein Zug mit Güterwagen wartete. Es kam sogar noch die polnische Bürgermeisterin, die Mutti kannte, und brachte ihr die Sparbücher.

Die Güterwagen wurden geöffnet. Die Hälfte unseres Wagens war schon besetzt mit Leuten aus den Dörfern. Wir stapelten das Gepäck übereinander, obendrauf legten wir uns. Es gab keine Decken, es gab keine Kissen. Es gab nichts. Wir legten einen Mantel über uns. Wir lagen acht Tage auf diesen Koffern. Es gab keine Toilette und natürlich auch nichts zum Heizen. Der Zug setzte sich abends in Bewegung. Die Lichter der Kurhäuser leuchteten weit in der Ferne. Durch die Wagen hindurch sangen die Leute alle zusammen »Nun ade, du mein lieb Heimatland«. Alle heulten. Aber ich war nicht traurig! Ich dachte nur: ›Raus hier!‹ Ich wollte wieder in die Schule gehen! Ich hatte zwei Jahre keine Schule gehabt. Ich hatte als Kindermädchen gearbeitet und lauter Aushilfsarbeiten gemacht, um Essen zu kriegen. Und dann gab es noch einen Grund, einen ganz großen. Meine erste große Liebe war – wildester Zufall – im selben Zug. Ich hatte ihn immer von ferne angebetet, jetzt auf der Reise rannte ich ihm richtig nach. Immer wenn der Zug eine Pause machte, lief ich zu seinem Wagen. Er ließ sich herab und unterhielt sich mit mir, während wir vor den Waggons entlangspazierten. Ich dachte: ›Kinder, ist das schön!‹ Dieses Glücksgefühl überlagerte die Trauer über den Verlust der Heimat zunächst total.

Ansonsten war die Reise schlimm. Wir bekamen nichts zu essen und zu trinken. Wir mussten uns vom Wasser, das die Lokomotive brauchte, etwas zum Trinken holen. Meine Mutter hatte wochenlang vorher Brot geröstet, das trugen meine Geschwister und ich nun in kleinen Beuteln um unsere Hälse. So hatten wir, wenn wir Hunger hatten, wenigstens etwas Brot. In einem Topf machte Mutter ab und zu mit Wasser und Grieß eine Suppe. Wenn wir aufs Klo mussten, hängten wir uns eine Decke um und mussten mitten im Waggon in einen Topf machen. Mir war das sehr peinlich! Alle Männer und Jungen konnten zusehen. Ich kam mir so dreckig vor, wie ein Objekt. Meine Mutter sagte: »Stell dich nicht so an!« Typisch. Aber Gott sei Dank gab es einige ältere Frauen, die sich in meine Lage versetzten und sich um mich herumstellten, wenn ich auf den Topf musste. In den Haltepausen strömten die Leute in die Wälder, und du musstest aufpassen, dass du nicht überall in die Kacke tratst.

Die Erwachsenen hatten eine entsetzliche Angst: Wo werden wir hinkommen? Es wurde gesagt, dass mehrere Züge auch in die Sowjetunion umgeleitet worden waren. Ich stellte mir vor: Da, wo wir hinkommen, kann ich wieder in die Schule gehen, Deutsch sprechen und dann gibt’s wieder was zu essen.

Eines Morgens sagte meine Mutter: »Lieber Gott, danke, wir sind aus der Gefahrenzone raus.« Wir fuhren nun gen Westen.

In Kohlfurt an der Neiße wurden wir von den Engländern übernommen und entlaust, obwohl wir gepflegt und sauber aus unserem Haus gekommen waren. Das war so erniedrigend! Wir wechselten in einen Personenzug, konnten nun auf Holzbänken sitzen und bekamen Tee und eine Suppe. Als wir durch Magdeburg fuhren, sah ich das erste Mal Ruinen. Die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht! Wir fuhren weiter gen Westen, eines Morgens war der Zug geteilt und meine große Liebe war verschwunden. Ich war so verliebt! Aber es sollte nicht so sein …

Wir landeten in Lengerich in Nordrhein-Westfalen. Die Flüchtlinge wurden in der ehemaligen Irrenanstalt aufgenommen – ein Massenlager auf Stroh. Die Irren waren durch die Fürsorge Hitlers – in Anführungsstrichen – alle umgebracht worden, und nun standen die Räume leer. Davon hatte ich damals aber noch keine Ahnung. Meine Mutter wohl schon, die war entsetzt.

In der Irrenanstalt konnten wir das erste Mal richtig duschen. Es war herrlich! Wir hatten keine Seife und konnten uns die Haare nicht waschen, also ging meine Mutter mit uns zum Frisör. Da sagte doch wahrhaftig die Frisöse mit gewissem Recht: »Sowas von Dreck hab ich noch nie an einem Menschen gesehn.«

Die hat nicht geahnt, was sie bei mir dadurch auslöste. Sie meinte das wahrscheinlich gar nicht böse, aber ich empfand es als Anklage, dass ich ein Dreckfink bin. Und dass ich mich als Ausgestoßene fühlte, wurde durch das Verhalten vieler Menschen im Westen doch eindeutig bestärkt.

Die Leute wurden auf die Dörfer verteilt, bekamen ein Zimmer zugeteilt. Manche wurden freundlich aufgenommen, manche hatten es furchtbar. Das würden wir heute auch nicht gerne wollen, plötzlich fremde Leute ins Haus zu bekommen. Meine Mutter dachte: ›Was soll ich mit den Kindern auf den Dörfern, wo sollen die denn in die Schule gehen?‹ Sie ging zum Superintendenten in Lengerich und bot ihm ihre Hilfe in der Gemeinde an. Während mein Vater im Krieg war, hatte meine Mutter auch schon zu Hause die Gemeindearbeit übernommen. Der Superintendent war froh über das Angebot und gab uns das alte Gemeindehaus. Dort hatten vorher die Russen als Gefangene gelebt. Die Haustür war rausgebrochen, die Fenster waren zum Teil kaputt. Die Ratten umschwirrten das Haus und den Hof, denn dort hatten die Gefangenen die Essensreste vergraben. Die Badewanne war voller Scheiße. Es war ekelhaft. Aber wir hatten unser eigenes Haus!

Ich sagte zu meiner Mutter: »Bringt ihr den Rest in Ordnung, ich kümmere mich um die Badewanne.«

Ich holte Sand aus dem Hof und säuberte damit die dreckige Wanne. So konnten wir an unserem ersten Abend kalt duschen. Der Superintendent organisierte uns Bettgestelle und Strohsäcke. Wir hatten eine Wohnung, die uns gehörte! Mit Bruchmöbeln, aber das war ganz egal. Ich weiß noch wie heute, als ich mit meinem eigenen Bettzeug, das wir mitgebracht hatten, auf dem Strohsack lag, mit kaltem Wasser sauber geduscht, da dachte ich: ›Puh, gut!‹ Ich war so voller Willen, dass wir hier neu anfangen würden. In diesem Alter ist das einfach toll!

Und dann ging das Leben weiter, das ist eine völlig neue Geschichte. Die Hungerzeit fing erst nochmal richtig an. Wir hatten nichts, keinen Garten. Es gab Marken. Was es ohne Marken gab, waren Heringe. Also aßen wir dauernd Hering. Ich konnte nach den Notzeiten lange Zeit keine Heringe mehr essen. Die Leute um uns herum hatten alle Vorräte – ein Land, das im Grunde genommen überhaupt nicht geschädigt war, die hatten alles behalten. Wir hatten immer Hunger. Auf der Rückfahrt von der Schule sagte einmal eine der Bauerstöchter: »Hach, nun hab ich wieder die Brote nicht aufgegessen. Wenn ich nach Hause komme, krieg ich ja nichts als Schimpfe.«

Ich dachte: ›Sollst du es sagen oder sollst du lieber schweigen?‹ Es war ein richtiger Kampf in mir. Und dann sagte ich: »Ach, weißt du Inge, wenn du Ärger kriegst, ich würde sie schon essen, ich hab eigentlich immer Hunger.«

Das war ihr dann aber schon sehr peinlich. Zu Hause erzählte sie es ihrer Mutter und die ließ uns dann zur Vorweihnachtszeit eine Tüte Mehl zukommen, damit meine Mutter was backen konnte.

Es war eine friedliche Flucht, sie war ja organisiert …

Was ich in den letzten Jahren kapiert habe: Diese Angst, dass es wiederkommt. Diese Rechten machen mich fertig! Und das ist auch der Grund, warum ich ohne Schamgefühl in der Öffentlichkeit, wenn irgendjemand neben mir solche blöden Sachen sagt, widerspreche: »Ich verstehe Sie nicht, wie können Sie so reden!«

Früher hätte ich geschwiegen. Aber jetzt nehme ich es ernst. Es ist eine Gefahr.



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