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Flucht und Vertreibung »Wir buddelten, so gut wir konnten, legten ihn rein und schütteten das Grab zu.« Jürgen Fischer

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(Geboren 1937 in Berlin, Werbekaufmann, Podologe)

Im Februar 45 kamen die Russen. Mutter hatte sie kommen sehen. Wir flüchteten in den Wald. Es lag Schnee. Wir hatten Angst vor dem Russen. 14 Tage lang taperten wir im Schnee herum. Nachts lehnten mein Bruder und ich uns in Decken gewickelt an die Knie unserer Mutter. Sie selbst lehnte an einem Baum, meinen jüngsten Bruder hielt sie zugedeckt in den Armen. Er war erst zwei Jahre alt. Richtig schlafen konnten wir nicht. Es war sehr kalt. Nach zwei Wochen im Wald kamen wir wieder dort raus, wo wir losgelaufen waren. Wir müssen im Kreis gelaufen sein. Ich weiß nicht, wie wir das alles geschafft haben … Wir irrten weiter umher, immer weiter. Wenn wir Russen hörten, versteckten wir uns wieder im Wald. Einmal sahen wir, wie Russen einen Mann und eine Frau, wohl ein Ehepaar, auf einem Acker erschossen haben. Die beiden kullerten in den Graben runter. Ich erinnere mich auch an einen Schäferhund. Die Russen waren betrunken und schossen ihm ins Hinterteil. Der Hund rannte noch so weit er konnte, dann war er hinüber. Sie machten sich einen Spaß daraus.

Irgendwann landeten wir in Selchow. Dort hatten sich schon die Russen einquartiert. Wir konnten ihnen nicht mehr ausweichen, fanden aber endlich ein leeres Haus, wo wir mit mehreren anderen Flüchtlingen übernachten konnten. Die Bewohner des Hauses waren selbst geflüchtet.

Im Haus gegenüber wohnten die Russen. Dort übernahm Mutter die Hauswirtschaft für den Kommandanten.

Nachts waren die Russen unterwegs und nahmen sich die Frauen vor. Sie kamen auch in unser Haus und suchten sich Frauen raus. Wir lagen auf dem Boden, der mit Decken und Kleidung ausgelegt war, es gab keine richtigen Betten. »Frau komm! Frau komm!«, riefen sie immer. Dann sagte ich schon bald zu meiner Mutter: »Geh doch mit, dann bringste wieder Brot mit!«

Ich wusste ja nicht, worum es geht.

Mein jüngster Bruder schlief in einer kleinen Kinderkrippe. Er war noch nicht ganz trocken, und wenn er morgens in die Hose gemacht hatte, sagte er zu meiner Mutter: »Niss hauen, niss hauen!« (Er lacht.) Irgendwann stand er morgens nicht mehr auf, lag auch tagsüber in der Krippe. Wahrscheinlich hatte er in der Kälte eine Lungenentzündung bekommen. Er hatte nicht die Abwehrkräfte, um tagelang durch den Schnee und das Eis getragen zu werden. Meine Mutter wollte mit ihm in den Nachbarort, wo ein Arzt sein sollte, aber der Kommandant genehmigte das nicht. Am 28. März war er tot. Ich wollte es gar nicht glauben. Ich schubste ihn immer in seiner Kiste an … Im Juni wäre er drei Jahre geworden. (Er seufzt.) Wir verscharrten ihn an der Kirche. Meine Mutter buddelte, ich buddelte. Da war sonst keiner – starke Männer gab es nicht, die waren im Krieg. Im Dorf lebten nur noch Ältere oder Frauen und Kinder. Wir buddelten, so gut wir konnten, legten ihn rein und schütteten das Grab zu. Jeden Tag gingen wir zu seinem Grab …

Meine Mutter musste dann tagsüber Kühe hüten, eine riesige Herde. Wenn die Russen auch am Tage kamen und Mutter greifen wollten – »Frau komm!« –, versteckte sie sich zwischen den Kühen. An einem dieser Tage sollte sie die Kuhherde mit anderen Frauen nach Osten treiben. Abends kam sie nicht wieder und am nächsten Morgen auch nicht. Tagelang warteten mein Bruder und ich auf unsere Mutter. Wir wussten nicht, ob sie jemals wiederkommen würde. Wir verbrachten die Tage damit, etwas Essbares zu finden. Ich weiß gar nicht, wie wir da durchgekommen sind. Nach einer Woche, wir hatten schon gar nicht mehr damit gerechnet, kamen Lastwagen, auf denen die Frauen standen, die die Kühe weggetrieben hatten. Gott sei Dank! Das war eine riesige Freude – auch bei den anderen Kindern. In der Nähe unserer Mutter hatten wir uns immer sicher gefühlt. Wenn sie da war, waren wir sicher. So ein Gefühl hatten wir jetzt.

Wir Kinder suchten immer nach etwas Essbarem. Manchmal brachten wir der Mutter freudestrahlend Rüben oder Kraut, von dem wir dachten, dass wir es essen könnten. Oft sagte Mutter dann: »Nee, das geht nicht.« Wir suchten immer Essen. Man spielt ja nur, wenn man satt ist … Am 27. April 1945, meinem Geburtstag, schenkte mir Mutter sogar ein Stückchen Brot aus grobem Mehl mit ein bisschen Butter drauf. Ich weiß gar nicht, wo sie das herhatte. Das war mein Geburtstagsgeschenk.

Dann kam der 30. April, und die Russen tanzten umher: »Wir haben Berlin eingenommen!«

Der Umgang mit ihnen hatte sich inzwischen normalisiert – in Anführungszeichen. Zu uns Kindern waren sie nett, streichelten uns manchmal über den Kopf. Ich weiß noch, wie Mutter sagte: »Das schafft ihr nie, Berlin einzunehmen.« (Er lacht.) Ich dachte: ›Na, wenn die das sagen und sich so freuen, dann muss es ja wahrscheinlich so sein.‹ Wir merkten auch, dass das Militär nicht mehr kämpferisch unterwegs war. Die Soldaten stiegen aus ihren Militärfahrzeugen aus, rauchten und waren irgendwie gelöster. Wir hatten wirklich das Gefühl, es ist vorbei – zwar nicht zu unseren Gunsten, aber vorbei.

Deswegen wollten wir zurück nach Hause. Wir liefen in das Dorf, wohin wir evakuiert worden waren, aber der Bauer war weg und das Haus ausgeräumt. Zwei Häuser weiter fanden wir einen Schlafplatz bei Frau Bachschmitt aus Berlin, die dorthin mit ihren zwei Mädchen evakuiert worden war. Auch bei ihr hatten sich die Russen eingenistet und den Bauern hinterm Haus erschossen. Nun waren die Russen höchst erfreut, dass meine Mutter mit uns kam. Wir Kinder sollten im ersten Stock schlafen, und unten feierten die Russen und vergnügten sich mit den Frauen. Auch Mutter musste sich mit ihnen abgegeben. An einem der Abende spielte ein polnischer Fremdarbeiter zur Unterhaltung für die Russen auf einer Gitarre. Sie kamen betrunken rauf und sagten zu uns Kindern: »Sagt mal: Heil Hitler!«

Der Pole rief aufgeregt: »Nich sagen, nich sagen!« Meine Mutter, ach, die zitterte. Wir haben nichts gesagt. Sonst würden wir wahrscheinlich heute nicht hier sitzen! (Er lacht.)

Nach ein paar Tagen zogen wir mit der Familie Bachschmitt los, wollten über die Oder nach Berlin. Wieder zu Fuß. Im Wald kamen uns deutsche Soldaten entgegen. Sie hatten keine richtigen Schuhe mehr, trugen nur noch die Fußlappen und fragten verzweifelt: »Sind die Russen schon hier?«

»Ja«, sagte meine Mutter und gab ihnen noch Essensreste mit. Frau Bachschmitt warnte sie: »Gehen Sie nicht zu nah ran, die Russen schießen.«

Wir liefen weiter, mussten einen Fluss überqueren. Unsere Mütter stiegen in das kalte Wasser und reichten uns Kinder und das Gepäck rüber. Wie die Frauen das durchgestanden haben, weiß ich überhaupt nicht. Die Brücken über die Oder waren alle zerstört. Wir liefen am Ufer entlang Richtung Norden. Das wenige Gepäck und meinen Bruder zogen wir in einem Leiterwagen hinter uns her. Einmal versuchte ich, einen Ziegenbock vor den Wagen zu spannen, den ich auf einem Feld entdeckt hatte, aber meine Mutter war dagegen. Ich wollte meiner Mutter helfen. Ich war 45 acht Jahre alt.

Wir schlossen uns einem Treck von Flüchtlingen an. Manche hatten Wagen, andere nicht. Jeder schleppte irgendwas. Geredet wurde kaum – die Stimmung war gedrückt. Plötzlich hören wir weiter vorne im Treck furchtbares Gebrüll.

Als wir näher kommen, sehe ich am Wegesrand zwei Männer, ich weiß nicht, ob es Russen sind oder Polen. Sie greifen sich die jungen Frauen aus dem Treck und sperren sie hinter einem Zaun auf einer Weide ein. Die Kinder erschlagen sie mit einem Spaten und schmeißen sie in den Graben. Wir kommen immer näher. Vor uns wird wieder eine Frau aus dem Treck gezogen und hinter den Zaun gesperrt. Ihre Kinder, vielleicht drei, vier Jahre alt, etwas jünger als wir, erschlagen die Männer mit Spaten und schmeißen sie in den Graben. Den Kinderwagen werfen sie hinterher. Die Frauen hinter dem Zaun weinen verzweifelt. Wir sind die Nächsten, die an den Männern vorbeimüssen. Ich denke: »Mein Gott, jetzt sind wir dran.«

Ich bin erstarrt. Ich sehe, wie plötzlich ein Russe, der ein bisschen weiter weg steht, auf uns zukommt. Er schiebt den Mann beiseite, der meine Mutter wegnehmen will. Wir können weitergehen. Ich weiß nicht, warum. Wir laufen einfach weiter, drehen uns auch nicht mehr um, wir laufen einfach weiter, weiter, weiter. Erstarrt – im Schock. Wir hätten ja auch brüllen können.

Solche Grausamkeiten … Aber das hatten die Deutschen ja damals genauso in Russland gemacht. Die Russen haben dann quasi das Gleiche gemacht. Überall, wo Krieg ist, ist Brutalität. Man hört es ja heute noch. Wir können froh sein, dass wir so lange keinen Krieg hatten. Ich hoffe, dass es auch nicht mehr passiert. Aber weiß man’s?

Wie taten mir die Frauen und Kinder, die mit uns auf dem Treck waren, leid. Besonders, wenn die Kinder weinten, hätte ich ihnen am liebsten immer irgendwie helfen wollen.

Später habe ich mit Mutter nochmal über die Zeit geredet. Aber nicht so intensiv. Nicht so, wie jetzt hier mit Ihnen. Zwischendurch erzählte sie mal Bruchstücke, die ich nicht zusammensetzen konnte. Und ich wollte dann auch nicht. Es war weg – die Erlebnisse waren vermutlich ins Unterbewusstsein verschoben.

Als ich Ihren Flyer fand, habe ich mich gewundert: Da möchte jemand wissen, was ich erlebt habe? … Ich habe mir diese Notizen hier gemacht, damit auch etwas dabei herauskommt. Ich habe auch recht lebhaft geträumt in den letzten Tagen, bevor Sie heute gekommen sind. Bin oft aufgewacht, hab nicht viel geschlafen. Zumindest möchte ich der heutigen Generation sagen: Es war nicht immer so gut, wie ihr es jetzt habt.

Wo war ich stehengeblieben? Der Treck führte uns in die falsche Richtung, also kehrten wir wieder um. Nachts schliefen wir draußen oder in verlassenen Häusern. Tote Pferde lagen am Wegesrand, irgendwer hatte schon das Fleisch rausgeschnitten. Zurück an der Oder, fanden wir noch eine intakte Eisenbahnbrücke. Wir warteten auf einen offenen Güterzug, stiegen auf – keine Wände rechts und links, wir starben fast vor Angst – und stiegen auf der anderen Seite wieder runter. Zu Fuß liefen wir weiter bis nach Berlin. Meine Mutter, mein Bruder und ich hatten offene Füße. Die ganze Oberseite war offen – eingewickelt in Stoff. Im Winter waren uns die Füße eingefroren, seitdem hatten sie sich nicht erholen können. Erstaunlich, dass die später wieder geheilt sind. Wie wir überhaupt noch laufen konnten, weiß ich nicht mehr. Irgendwie haben wir es geschafft. Anfang Juli kamen wir in Berlin an. Es war sehr warm damals, das weiß ich noch. Bei meiner Großmutter kamen wir in einem Zimmer unter.

1991 sind meine Mutter und ich nach Selchow gefahren und haben das Grab von meinem kleinen Bruder gesucht. Wir fanden nichts. Unser Dolmetscher fragte eine Frau bei der Kirche nach den Gräbern. Sie erklärte uns, dass aus all den Gräbern, die sich während des Kriegsendes gebildet hatten, die Reste rausgenommen und in eine Grube auf einen verfallenen Friedhof gebracht worden waren. Wir liefen zu der Stelle, und dort lagen sogar noch ein paar Knochen auf der Erde. Meine Mutter konnte sich gar nicht halten, sie rief immer nach ihrem Sohn …



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