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Vorwort »Es kann ja nur ein Antikriegsbuch werden.«

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Mit den Erzählungen über die Vertreibung meiner Großmutter aus Schlesien bin ich als Kind aufgewachsen. Als junge Erwachsene glaubte ich, schon alles darüber zu wissen. Als 2015 der Syrienkrieg in den Medien überall präsent war und viele Geflüchtete Deutschland erreichten, wurde mir bewusst, dass in unserer Gesellschaft eine weitere große Gruppe von Menschen lebt, die Krieg erfahren haben und vom Krieg geprägt wurden. Das sind die Alten, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Jeden Tag laufen wir auf der Straße an ihnen vorbei, sitzen neben ihnen im Bus oder stehen hinter ihnen an der Kasse. Damals waren es Kinder, heute sind es die letzten Zeugen, die uns von ihrer Vergangenheit erzählen können – die auch unsere Vergangenheit ist.

Als Journalistin interessieren mich die alltäglichen Geschichten der Menschen. Und so fragte ich mich 2015, was andere Kinder aus der Generation meiner Großmutter erlebt haben mussten und wie es ihnen heute damit geht. Wie leben Kinder im Krieg, was denken sie, was empfinden sie? Wie erlebten sie das Jungvolk, die Judenverfolgung, die Väter im Krieg? Und wie denken sie heute über ihre Kindheit? Was tragen sie von damals noch in sich? Welchen Einfluss haben die Kriegserfahrungen bis heute? Ich begann, in meinem Umfeld zu recherchieren.

In meinem Alltag hatte ich, wie viele andere, wenig Kontakt zu alten Menschen. Ein alltäglicher Austausch zwischen den Generationen ist heute leider selten. Ich bat meine Großmutter um Kontakte aus ihrem Bekanntenkreis – es waren wenige. Ihre Idee, mit Aushängen in Apotheken nach Kriegskindern zu suchen, brachte für meine Recherche den Durchbruch. In manchen Wochen klingelte täglich mein Telefon. Ich spürte, dass diese Generation ein großes Bedürfnis hat zu reden. Und viele von denen, die sich bei mir meldeten, waren erstaunt, dass sich jemand für ihre Geschichten interessierte. So führte ich in den folgenden zwei Jahren rund einhundert Interviews mit Menschen, die im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg Kinder gewesen waren.

Viele Kinder kannten damals keine andere Realität als die des Krieges. Eine Zeitzeugin sagte: »Wie sollte der Krieg vorbeigehen, wir sind ja mittendrin aufgewachsen.« Die Kinder waren ausgebombt, unter Trümmern verschüttet, waren durch den Feuersturm gerannt, über Leichen gestiegen und an Erhängten vorbeigelaufen. Sie erlebten die Vergewaltigungen ihrer eigenen Mütter oder wurden selbst misshandelt. Sie sahen ihre Geschwister und Eltern sterben und wie Kinder und Erwachsene neben ihnen erschossen wurden. Sie kämpften als Kindersoldaten, haben als Jungmädel Soldaten mitten im Kampfgebiet verbunden, und kamen selbst in Gefangenschaft. Sie versorgten die halb verhungerten Flüchtlinge aus dem Osten, gruben Verschüttete aus, löschten Bombenfeuer und besorgten Essen. Viele wurden Zeugen der Judenverfolgung, sie sahen, wie Menschen abgeholt wurden, dass Bekannte plötzlich nicht mehr wiederkamen, sahen die Häftlinge auf ihren Todesmärschen, hörten Gespräche über Massenerschießungen, brachten versteckten Juden Essen oder überlebten als versteckte Juden den Krieg. Auch erlebten sie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern mit.

Sie erzählen von den fehlenden Vätern, dem langen, teils vergeblichen Warten auf deren Rückkehr, den Todesnachrichten und den Rückkehrern aus der Gefangenschaft, die sie nicht wiedererkannten. Sie erzählen vom lebensbedrohlichen Hunger und von der Kälte, von Läusen, Wanzen und Flöhen und von Krankheiten, für die es keine Medikamente gab. Sie erzählen von Flucht und Vertreibung – dem Verlust der Heimat und der schlechten Behandlung der Flüchtlinge. Viele haben unter der NS-Erziehung gelitten – in der Familie, bei der Hitlerjugend oder in der Schule –, viele waren aber auch bis zum Ende begeistert, schließlich waren sie so erzogen worden und von der Propaganda geblendet. Sie erzählen von der Einsamkeit während der Kinderlandverschickung und vom Spielen in den Trümmern, vom Sammeln der Bombensplitter und von scharfer Munition.

In den Wohnzimmern der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen tauchte ich in gelebte Geschichte ein. Ich saß mit ihnen im schwach beleuchteten Keller, spürte die Detonationen, atmete den von der Decke herabrieselnden Steinstaub ein. Ich sah die Kinder von damals von der Landstraße in Gräben springen und sich unter einer grünen Decke vor den Tieffliegern verstecken oder inmitten der Trümmer nach bunten Bombensplittern suchen. Aus Daten, Zahlen und Fakten wurde plötzlich lebendige Geschichte. Es war ein großes Geschenk, das ich dem Mut und Vertrauen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu verdanken habe, die mir ihre Geschichten erzählten. Sie wollen, dass ihre Geschichten gehört werden, und ich verstehe mich als ihr Sprachrohr. Ich beschloss, die Geschichten aufzuschreiben, damit sie nicht verloren gehen und auch die Generationen nach mir die Möglichkeit haben, auf diesem direkten Weg von gelebter Geschichte zu erfahren. Sie werden nicht mehr die Möglichkeit haben, selber nachzufragen.

Ich wollte kein Buch über die Kriegskinder schreiben, in dem ich ihre Geschichten mit meinen Worten nacherzähle. Vielmehr kommen die Kriegskinder selbst zu Wort. Nur so ermöglichen die Erzählungen einen direkten persönlichen und emotionalen Zugang zu gelebter, lebendiger Geschichte.

Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählten ganz unterschiedlich. Einige durchlebten die Ereignisse ihrer Kindheit beim Erzählen erneut. Das waren bewegende Momente. Viele waren sehr emotional, manche blieben gefasst – einige waren reflektiert, andere erzählten sehr distanziert. In manchen Gesprächen war mir, als nähme das Ungesagte viel Raum ein. Als verberge sich darin das Unerklärte oder Unverarbeitete der eigenen Biografie.

Erinnerungen sind immer subjektiv und durch das weitere lange Leben gefärbt. Deswegen habe ich zur besseren Einordnung am Ende jedes Kapitels kurze Hintergrundinformationen mit geschichtlichen Fakten zusammengestellt. Meine Hoffnung ist es, dass die Fülle der gesammelten Erinnerungen sich zu einem Gesamtbild über das Vergangene zusammenfügt.

Die Themen kamen über die Menschen, die sich bei mir meldeten, zu mir. Das erklärt vielleicht, warum hier zu den Themen Verfolgung und Täterschaft vergleichsweise wenige Erzählungen versammelt sind. So fehlen bei den Verfolgten die Geschichten von Sinti- und Roma-Kindern, von Kindern der Zeugen Jehovas, von Kindern politisch verfolgter Eltern sowie von sogenannten Lebensborn-Kindern. Ebenso fehlen Geschichten von Besatzungskindern und Kindern von Zwangsarbeiterinnen. Auch konnte ich keine Kinder von Homosexuellen, den sogenannten Asozialen, »schwer erziehbare Kinder« und Kinder, die während des Krankenmordes in Heilanstalten gelandet sind, befragen.

Wenige Kinder von Nationalsozialisten haben sich in ihrem späteren Leben mit der Rolle ihrer Eltern im Regime intensiv auseinandergesetzt. Sicherlich gab es unter den Eltern der Kriegskinder noch viele, die großes Unrecht taten oder geschehen ließen. Aber die Kinder wussten es entweder nicht oder wollten es nicht wissen, haben sich später nicht getraut nachzufragen oder haben keine Antworten bekommen. Auch ich habe erst kurz nach dem Tod meines Großvaters erfahren, dass er mit achtzehn Jahren als Wehrmachtssoldat, während er mit seiner Panzerdivision in Weimar stationiert war, für vier Wochen die Außenanlage des KZs Buchenwald bewacht hat. Darüber hätte ich mit ihm reden wollen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Deswegen möchte ich die Leserinnen und Leser dazu ermutigen, in ihren Familien noch einmal genauer nachzufragen.

Kinder können nur Opfer sein. Wichtig ist, zu schauen, warum sie zu Opfern wurden: durch die Indoktrinierung und Manipulation des NS-Systems, dem viele der Eltern sicherlich auch ihre Stimme gegeben haben und in deren Unrecht sie vielfach verstrickt waren, und durch den Krieg, den das nationalsozialistische Regime begonnen hat. Auch für diese Hintergründe weiten die Geschichten den Blick.

Die Erzählungen der Kriegskinder können die deutsche Schuld in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust nicht relativieren. Wir Deutschen können uns unserer Verantwortung für unsere Geschichte nicht entziehen. Allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, mit denen ich sprach, war bewusst, dass es den Krieg nur deshalb gegeben hat, weil die Deutschen ihn angefangen haben. Die Bomber kamen nur, weil die Wehrmacht diese Länder zuvor angegriffen hatte. Die damaligen »Feinde« benahmen sich nur so, weil sich die Deutschen vorher so schändlich in den besetzten Gebieten verhalten hatten. Was die Erzählungen auch zeigen: Fast alle Kinder haben die Verbrechen der Nationalsozialisten mit ihren eigenen Augen gesehen. Und was Kinderaugen gesehen haben, das konnten die Erwachsenen erst recht sehen.

Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben heute Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. Darin, dass eine rechte Partei im Bundestag sitzt und rechte Tendenzen überall in Europa erstarken, erkennen sie eine Gefahr für die Demokratie und den Frieden. Ein Anliegen war allen Befragten gemeinsam: Sie wollen nie wieder Krieg, Flucht und Vertreibung. »Es kann ja nur ein Antikriegsbuch werden«, hat ein Zeitzeuge während unseres Interviews gesagt. Die Erinnerungen der Kinder bezeugen das in jeder Geschichte. Kein Kind, egal wo auf der Welt, sollte mit diesen Erlebnissen aufwachsen müssen.

Es schaukelt noch immer. Die Auswirkungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg sind bis heute zu spüren. Der Krieg und seine Schrecken lebten auch nach dem Krieg in vielen Kindern weiter, auch wenn sie nach außen hin schwiegen. Die meisten konnten mit niemandem über ihre teils traumatischen Erlebnisse sprechen. Im Nachkriegsdeutschland ging es ums Überleben, Nachvorneschauen und Verdrängen des Nationalsozialismus und seiner Folgen. So konnten die Kinder das Erlebte nicht verarbeiten und haben es teilweise über Erziehung und Verhalten an ihre eigenen Kinder weitergegeben.

Deswegen will dieses Buch die ältere Generation bestärken und sie zum Erzählen ermutigen. Und meine Generation möchte ich dazu anregen, noch einmal genau nachzufragen und wirklich zuzuhören, sodass ein Dialog jenseits der bisher erzählten Anekdoten stattfinden kann. Noch ist die Geschichte direkt durch die Erinnerungen der Kriegskinder erfahrbar. Doch die Zeit dafür ist knapp. Sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen, anstatt das Schweigen weiterzuführen, ist eine große Chance.

Berlin, März 2021

Barbara Halstenberg



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