Читать книгу "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" - Barbara Halstenberg - Страница 12

»Wir sind die Generation, die praktisch alleine groß geworden ist.« Elisabeth Krieg

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(Geboren 1935 in Thale, Kindergärtnerin)

Als mein Vater in den Krieg ging, war ich mit meiner Mutter allein. Ich war ein Einzelkind. Vor dem Krieg war Mutter Hausfrau gewesen, wie das damals üblich war. Während des Krieges mussten alle Frauen aus dem Dorf im Werk Panzer ausbauen, nur meine Mutter wurde Rot-Kreuz-Helferin. Deswegen musste sie nicht ins Werk. Sie fuhr als Beifahrer im Krankenwagen bei Bombenangriffen Richtung Hannover … bei den großen Angriffen. Wenn ich aus der Schule kam und Mutter zu einem Einsatz gefahren war, lag ein Zettel auf dem Tisch: Fahr nach Cattenstedt (das war das Dorf, wo meine Großeltern und meine Tante wohnten) oder geh zu Frau Sowieso oder Herrn Sowieso. Dann packte ich das Nötigste, ich wusste ja nie, wie lange Mutter wegblieb, und trabte los. Mutter wusste ja auch nicht, ob sie wiederkam …

Zu meinen Großeltern durfte ich bis in die nächste Stadt mit der Kleinbahn fahren. Ich freute mich jedes Mal, wenn das Geld für die Bahn auf dem Tisch lag. Alleine mit der Bahn fahren, na, das war doch was! Vom Bahnhof musste ich zum Dorf meiner Großeltern laufen. Mutter ermahnte mich immer wieder: »Du gehst nur auf der Straße, die zum Ort führt, und nicht die Abkürzung durch den Wald, die wir sonst zusammen gehen.« Warum, begriff ich damals nicht … Bei meinen Großeltern wohnte meine Tante mit meinen Cousins. Wir spielten zusammen. Das war schön! Unsere Mütter waren immer unterwegs und keiner sagte: »Nu mach und tu!« Meine Tante hatte nur Jungen. Na ja, den Rest brauche ich Ihnen nicht erzählen, ich war das einzige Mädchen. (Sie lacht.)

Oft musste Mutter auch nachts losfahren. Dann stellte sie mir einen Wecker, damit ich morgens alleine zur Schule gehen konnte. Aber ich wurde von dem Wecker schlecht wach, obwohl er groß war und Mutter ihn extra auf einen Teller und den Teller auf den Nachtschrank mit der Marmorplatte stellte, damit’s schön laut rasselte. Ich hörte den Wecker trotzdem nicht. Dann klopfte eine der Frauen aus dem Haus an die Tür und rief: »Mensch, mach, dass du in die Schule kommst. Wir haben wieder deinen Wecker gehört!«

»Der hat nich geklingelt!«, sagte ich.

»Aber wir haben den gehört!«

Immer alleine früh zur Schule … Dann die langen Zöpfe … Wenn ich morgens alleine war, kämmte ich sie nicht. Das musste meine Mutter machen, wenn sie mal zu Hause war.

Einmal war ich zu spät aufgestanden oder zu bequem gewesen und hatte mein Nachthemd nicht ausgezogen, sondern es in den Schlüpfer gesteckt. Es hatte einen Bubikragen und den fand ich schick. Nach der ersten Stunde rief mich die Lehrerin zur Seite und sagte: »Weißte, aber morgen ziehste dir dein Nachthemd nicht in der Schule an.« (Sie lacht.) Das sind so die Erinnerungen, die geblieben sind … Meiner Mutter erzählte ich das nicht, und die Lehrerin war so nett und erzählte es ihr auch nicht. Sie wusste, dass meine Mutter nicht oft da war. Wir Kinder waren alle selbstständig.

Ich wusste, wo meine Mutter hinfuhr. Sie hatte mir erzählt: »Ich fahr mit meiner Kollegin Annemarie da hin, wo Bomben abgeworfen worden sind.«

Die Bomber kannte ich, hörte sie, wenn sie über unser Dorf flogen. Als in unserer Nähe einmal Bomben abgeworfen worden waren, hatte mir Mutter die Weihnachtsbäume gezeigt, die Leuchtzeichen. Sie sagte: »Weißte, wenn die Bomben fallen und es Verletzte gibt, dann müssen wir die in die Krankenhäuser fahren.«

Von dem Ausmaß, was sich da abgespielt hat, habe ich erst später erfahren. Aber das da Häuser zerstört wurden und es Verletzte gab, wusste ich. Meine Mutter half den Ärzten – sie fuhr zum Helfen hin. So hatte sie es mir gesagt. Mehr aber auch nicht.

Bei uns im Dorf lebte ich in einer Idylle. Wir haben nur einen Angriff erlebt. Das Dorf liegt in einem Tal. Bis die Bomben ausklinken konnten, waren die Flugzeuge schon über dem Tal hinweg und mussten die Höhe der Berge fassen. Daher hatten wir Glück.

Nach dem Krieg hat mich meine Mutter einmal gefragt: »Haste denn irgendwann mal gedacht, ich komm nicht wieder?«

Ich sagte: »Nee, du bist doch praktisch wie zur Arbeit gegangen.«

Sie hat es immer so geregelt, dass keine Panik bei mir entstehen konnte. Mal ging ich zu einer der Rot-Kreuz-Schwestern, die gerade nicht im Einsatz war, mal zu meinen Großeltern. Ich dachte mir nichts dabei. Wir sind die Generation, die praktisch alleine groß geworden ist. Wir hatten keine Mutter, die uns tröstete. Warste hingefallen, haste dir selbst ein Pflaster drauf gemacht und dann war’s wieder gut. Wenn ich heute sehe, wie die Kinder so bemuttert werden … Ja, wer sollte sich auch um uns kümmern?

Was wäre noch aus der Zeit zu erzählen? Bei Fliegeralarm saß ich oft alleine mit den Nachbarn im Keller. Mutter war mit dem Krankenwagen unterwegs. In unserer Wohnung standen zwei gepackte Strohtaschen. Eine kleine für mich, in der ein paar Spielsachen, Unterwäsche und meine Puppe lagen. Mutters Tasche mit den Papieren war ein bisschen größer. Ich weiß noch, wie sie mir oft gesagt hatte: »Wenn ich nicht da bin, nimm immer beide Taschen mit, und wenn du nicht beide tragen kannst, nimm die große und deine Puppe.« Sie hätte nie gesagt, nimm die Puppe nicht mit. Ich hätte alles andere dagelassen, aber nicht die Puppe! Die war meine Schwester, der habe ich alles erzählt. Manchmal wunderte ich mich, woher meine Mutter so viel von mir wusste. Später hat sie mir erzählt, dass sie manchmal vor der Tür gehorcht hatte, was ich meiner Puppe erzählte. Was diese Puppe für Geheimnisse in sich birgt! (Sie lacht.) Ich war ja ein Einzelkind. Wenn ich also alleine war, nahm ich bei Bombenalarm die beiden Taschen mit runter. Im Keller wurde ich von den anderen Frauen aus dem Haus mitversorgt. Da gab es kein Mein und Dein, da kriegten alle Kinder was. Ach, ich machte mir keine Gedanken, wo das Essen herkam. Wir mussten eben da unten sitzen. Manchmal spielten die anderen Mütter mit uns.

Als ganz in der Nähe von uns eine Stadt bombardiert wurde, schickten die Lehrer uns Kinder schnell nach Hause. Ich lief artig los. Ich kam an einem Haus von Bekannten vorbei die mir zuriefen: »Renne! Dass du es schnell nach Hause in den Keller schaffst, falls sie ne Bombe abwerfen!« Ein paar Straßen weiter riefen mir Leute zu: »Du schaffst es nicht mehr bis nach Hause, komm zu uns rein!«

Ich rief: »Nee, ich muss nach Hause! Meine Mutti hat gesagt, wenn Alarm ist, muss ich nach Hause!«, und lief weiter. Ab und zu drehte ich mich um, sah die Weihnachtsbäume am Himmel leuchten und horchte: Nee, es knallt noch nicht, du kannst laufen. Ich schaffte es noch. Bei uns im Dorf kam nur eine kleine Brandbombe runter, die müssen die Bomber verloren haben. Sie fiel in unseren Park. Wir Kinder rannten hin und guckten uns das tiefe Loch an. So hatten wir auch eine Beziehung zu den Bomben: Häuser gehen kaputt.



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