Читать книгу "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" - Barbara Halstenberg - Страница 18
»Hat sich eine Frau aufgehängt, hat die beiden Kinder unterm Baum sitzen lassen!« Hilde S.
Оглавление(Geboren 1934 in Königsberg, Postfachangestellte)
Ich habe nichts, keine Unterlagen, keine Dokumente, gar nichts … Es tut mir leid, aber da müssen Sie sich wirklich darauf verlassen, an was ich mich erinnern kann. Am 28. August 1944 wurden wir ausgebombt. Haben Sie schon mal gesehen, wenn Glas brennt? Das fließt, als ob Wasser die Straße lang läuft … Es war die Hölle! Ich war neun Jahre alt, meine Schwester zwei Jahre jünger. Wir saßen in einem Luftschutzbunker. Der Blockwart kam rein und sagte: »Borchertstraße 26 und 28 brennt.«
Da war für uns klar, es ist aus. (Spricht mit brüchiger Stimme.) Nach der Entwarnung wurden wir auf einen Sportplatz geführt, wo wir für ein paar Tage und Nächte blieben. Wir trugen nur ein Sommerkleidchen, einen Schlüpfer und Sandalen. Sonst nichts – nichts! Unsere Stiefmutter hatte nur die Tasche mit den Papieren dabei. Wir wussten ja nicht – dachten, wir könnten wieder zurück in die Wohnung. Wo sollten sie nun mit uns hin? Sie verfrachteten uns nach Eisenberg in ein Auffanglager. Aber da durften wir auch nicht bleiben. In Zügen wurden wir nach Sachsen gebracht und landeten in Neuwürschnitz, wo wir auf die Familien im Dorf aufgeteilt wurden. Aber auch dort gab es Angriffe. Ich sah, wie Dresden brannte! Sie können sich das nicht vorstellen, wenn der Himmel glutrot ist. (Sie weint.) Sie denken, es ist Abendrot, und dabei brennt alles!
Dann war der Krieg zu Ende. Zuerst kamen die Amerikaner und aßen unsere Erbsensuppe weg, die meine Stiefmutter gerade auf dem Herd stehen hatte. Die Erbsen waren noch gar nicht richtig weich.
Am schwarzen Brett im Ort hing kurz darauf ein Zettel: »Alle Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien können wieder zurück.« Meine Stiefmutter wollte zurück. Wir kamen in einem Güterwagen bis zur Oder. Dann war Schluss. Wenn ich zurückdenke, was ich alles durchgemacht habe …
Wir sitzen im Zug, unter uns die Oder, mitten auf der Brücke halten wir an. Russen kommen rein. Einige von ihnen nehmen sich ein paar Frauen vor. Meine Stiefmutter sagt zu mir: »Komm mal schnell auf meinen Schoß, du bist krank.«
Zu einem Russen sagt sie: »Nee, Kind krank, kann nich kommen!«
Der Russe sagt: »Dann Kind aus Waggon schmeißen!«
Die Frauen im Waggon schreien alle auf. Meine Stiefmutter hält dem Russen eine große Büchse mit Tabak hin. Sie raucht. Das ist ihr Glück gewesen.
Als der Zug über die Brücke gefahren war, stiegen wir aus und liefen los. Irgendwohin! Ab dann waren wir von Anfang Mai bis September 45 auf der Landstraße unterwegs. Vier Monate lang! Liefen in einem kilometerlangen Treck mit. Über Hoyerswerda, Cottbus, Seelow und wo wir überall waren – in Altlandsberg und dann auch in Berlin. Was sollten wir denn in Berlin? Da kriegten wir sowieso keine Aufenthaltsgenehmigung und in den anderen Städten auch nicht. Meine Schwester und ich verstanden das alles gar nicht. Wir liefen einfach hinter unserer Stiefmutter her. Im Endeffekt liefen wir einmal um die Welt … Vier Monate auf der Landstraße, was wir da erlebt haben! Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Hatte sich eine Frau aufgehängt, hatte die beiden Kinder unterm Baum sitzen lassen. Hatte ihnen eine Tüte Zucker und eine Tüte Salz hingestellt und sich da einfach aufgehängt! Und die Kinder saßen noch da drunter. Sowas vergisst man sein Leben lang nicht! (Sie weint.) Wir saßen nicht weit entfernt, hatten einen Herd aus Ziegelsteinen gebaut, auf dem unsere Stiefmutter eine Sauerampfersuppe kochte.
Die Frau kann sich doch nicht da aufhängen und die Kinder da drunter sitzen lassen! Das wurde meiner Schwester und mir erst ein paar Tage später klar. Ich fragte meine Schwester: »Anneliese, wo sind denn jetzt die Kinder? Sind die mit uns allen mitgelaufen?«
Sie wusste es auch nicht. Unsere Stiefmutter sagte, der große LKW hätte die Kinder mitgenommen. Es kamen häufiger LKWs vorbei, die alleingelassene, verlorene Kinder aufsammelten.
Einmal sahen wir einen alten Mann, er war bestimmt schon achtzig oder neunzig. Er lag in einem großen Handwagen und war mit Kissen zugedeckt. Seine Familie zog weiter und ließ den Mann einfach in dem Wagen zurück. Ich sagte zu meiner Schwester: »Sag, können die das denn machen, das können die doch gar nicht!«
Meine Stiefmutter zog uns weiter. Furchtbar. Und die Frau, die ihre Kinder hat sitzen lassen. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Nee …
Ich weiß gar nicht, wovon wir die ganze Zeit gelebt haben. Irgendwo lag mal ein Pferd auf der Straße. Die Leute standen mit ihren Kübeln davor an, um endlich ein Stück Fleisch zu kriegen. Und ich erinnere mich, dass auf einem verlassenen Bauernhof ein Eimer mit Käse stand. Der wurde genau aufgeteilt, jeder kriegte ein Stück. Mit Brot war es schlecht. Wenn wir in den verlassenen Bauernhäusern noch altes Brot fanden, rösteten wir kleine Stückchen überm Feuer. Wenn Ähren an den Feldrändern lagen, klopften wir die mit einem Stein aus, so hatten wir etwas Mehl. Die Sauerampfersuppe, ach, die hat geschmeckt, das glauben Sie gar nicht. (Sie lacht.) Wenn man sich das heute vorstellt … Oder es gab Brotsuppe, einfach nur mit Wasser gekocht. Auf den Feldern versuchten wir, Kartoffeln auszubuddeln. Die wurden nicht geschält, wir wischten sie nur ab und machten auf Ziegelsteinen ein Feuerchen, wo wir sie gleich kochten. Meine Schwester Anneliese hatte auf einem verlassenen Bauernhof einen Kochtopf gefunden. Das kann sich kein Mensch vorstellen … Wir schliefen auf dem nackten Feld, mit der Jacke zugedeckt. Dass wir nicht krank geworden sind … Meine Schwester und ich hatten ganz lange Zöpfe, aber keine Läuse und keine Krätze. Unsere Stiefmutter achtete immer darauf, dass wir uns regelmäßig wuschen. Wir hatten gar keine Zahnbürste. Wie wir uns da die Zähne geputzt haben? Wenn ich daran denke, was wir zum Anziehen hatten. Heutzutage braucht man jeden Tag einen neuen Schlüpfer, jeden zweiten Tag einen anderen BH. Hatten wir gar nicht. Ich weiß gar nicht, wie ich das als Kind empfunden habe. Das ist wie weggepustet.
Wenn ich an die heutigen Flüchtlinge denke, was die alles haben, die kriegen Geld, die kriegen alles. Da hat uns früher kein Mensch nach gefragt: Wie es uns geht, ob wir was zum Anziehen haben.
Meine Stiefmutter war eine Stiefmutter, wie sie im Buche steht. In Altlandsberg gab es endlich mal wieder Wasser aus einer Pumpe. Sie drückte mir eine Kanne in die Hand: »Hier, stell dich schon mal an! Geh mal Wasser holen!«
Ich war unterdessen schon zehn Jahre. Ich stellte mich mit der Wasserkanne an, pumpte Wasser und kam zurück zu der Stelle – war keiner mehr da! Meine Stiefmutter wollte mich einfach loswerden. Ich heulte wie ein Schlosshund. Irgendwann kam einer von den LKWs, die die Kinder einsammelten. Der Fahrer rief: »Sind hier noch Kinder ohne Eltern?«
Als er mich heulen sah, kam er an und fragte: »Was is denn?«
Ich sagte: »Meine Mutter und meine Schwester sind weg. Ich sollte Wasser holen und jetzt sind die nicht mehr da.«
Er nahm mich mit. Brachte mich und die anderen Kinder nach Berlin-Weißensee in eine alte Schule. Dort fragten sie mich, wo ich denn herkommen würde und wo ich bisher gewesen war. Ich erzählte: »Wir waren zwischendurch schon mal in Berlin. Und da war am Bahnhof ’ne Kirche.«
Sie fuhren mit mir durch halb Berlin, auch am Schlesischen Bahnhof vorbei. Ich rief: »Ja, hier, hier, da war das. Da ist die Kirche!«
In dem Gemeindehaus neben der Kirche war ich ein paar Wochen vorher schon mit meiner Stiefmutter gewesen. Sie musste dort Bekannte gehabt haben. Und tatsächlich waren meine Stiefmutter und meine Schwester inzwischen auch wieder dort gelandet. Meine Stiefmutter freute sich natürlich nicht, dass ich sie wiedergefunden hatte. An der Pumpe hatte meine Schwester zu ihr gesagt: »Wir müssen doch noch auf Hilde warten!«
»Die kommt schon nach! Die kommt schon nach«, hatte meine Stiefmutter zu ihr gesagt. Das war eine Stiefmutter, wie sie im Buche steht …
Nun wissen Sie ein bisschen was von mir. Was ich schon durchgemacht habe. Ach nee, nee … Eins weiß ich: Nie wieder, nie wieder Krieg! Also der liebe Gott möge das erhören. Dass es nie wieder so was gibt – dass meinen Kindern oder meinen Enkelkindern das nicht passiert. Furchtbar …