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Zur Einführung Wolf Rüdiger Osburg

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Am 1. Mai 1989 stand mir das erste Interview mit einem über neunzigjährigen Teilnehmer des Ersten Weltkriegs bevor. Ich war aufgeregt, konnte mir überhaupt nicht vorstellen, einige Minuten später mit einem mir vollkommen fremden Mann ein Interview über seine höchstpersönlichen Erlebnisse in diesem Krieg zu führen. Es war dies das erste von 150 Interviews, die in den nächsten Jahren bis 1992 folgen sollten. Diese Interviews entwickelten sich bei mir beinahe zu einer Sucht, bis ich nach drei Jahren das Gefühl hatte, nun mir und den Lesern des Buches, das sich Schritt für Schritt entwickelt hatte, einen vollständigen Überblick über die Erlebnisse dieser jungen Männer in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs liefern zu können.

Überraschenderweise stellte sich heraus, dass derartig umfassende Augenzeugensammlungen, die sich nicht auf schriftliche Quellen, sondern auf das Gespräch gründen, in Deutschland keine solche Tradition haben, wie sie sie eigentlich haben sollten. Wer hätte damals schon gedacht, dass mein Buch Hineingeworfen in seiner Art das einzige zum Ersten Weltkrieg war und zu einem Grundlagenwerk werden sollte.

Und es überraschte mich und hätte ganz bestimmt auch meine Gesprächspartner überrascht, dass ihre beispielsweise an einem sonntäglichen Kaffeetisch mir gegenüber geäußerten Erinnerungen später von Historikern in deren Untersuchungen als wissenschaftliche Quellen zitiert wurden.

Dabei gibt es kaum etwas Spannenderes als Oral History. Selbstverständlich fühlte ich mich angesprochen, als ich dreißig Jahre später als Verleger darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Barbara Halstenberg mit ihrem Buch Alles schaukelt einen ähnlichen Ansatz verfolgt hatte, um dem Erleben des Zweiten Weltkriegs, in diesem Fall durch Kinder und Jugendliche, nachzugehen.

Geschichte ist für die allermeisten Menschen ein komplett abgeschlossenes System. Sie wird geprägt von Geschichtszahlen aus vergangenen Epochen, von Listen mit Angaben zu verstorbenen, vertriebenen oder misshandelten Menschen. Wir wissen davon, es ist aber die Geschichte der anderen, nicht unsere. Dabei gibt es durchaus Menschen, die noch unter uns leben und ihre Erinnerungen im Alter jeden Tag und mehr denn je mit sich herumtragen. Für die Generation der Babyboomer sind diese Zeitzeugen die Eltern, für die Nachfolgegeneration die Großeltern. Viele von ihnen schweigen, und wenn sie einmal reden, fällt es uns schwer, in ihnen die jungen Menschen von einst zu erkennen.

Es ist unfair, verschiedene Zeitepochen auf ihre Bedeutsamkeit hin zu vergleichen. Es gibt aber historische Phasen, die so unfassbar sind, dass man an ihnen nicht vorbeikommt. Das sind Epochen, zu denen auch wir Jüngeren Fragen stellen. Im vergangenen Jahrhundert sind dies zweifelsfrei die beiden Weltkriege, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, ihre Vor- und ihre Nachgeschichte. Gerade mit dem Zweiten Weltkrieg werden so viele Episoden verbunden, dass sie uns Nachkommen am ehesten aus der Reserve locken und wir bereit sind, uns auf diese Themen einzulassen.

Barbara Halstenberg hat sich der Frage verschrieben, wie die jüngsten und jungen Menschen den Zweiten Weltkrieg durchlebt haben. Sie hat sich auf die Suche nach hundert Zeitzeugen gemacht, die von ihrer Kindheit erzählen konnten, die vom Nationalsozialismus sowie von Krieg, Flucht und Vertreibung geprägt war. Gemeinsam ist ihren Interviewpartnern, dass sie den Krieg auf deutschem Boden erlebten und im hohen Alter dazu bereit waren, von ihren teils traumatischen Erlebnissen zu berichten. Barbara Halstenberg hat diesen Menschen aufmerksam zugehört und schafft es mit den Geschichten in Alles schaukelt, ihre Leserinnen und Leser die Welt von damals durch Kinderaugen sehen zu lassen.

Herausgekommen ist eine ganz einzigartige Sammlung von Stimmen, die die Vielfalt menschlicher Erlebnisse in so einer außerordentlich dramatischen Phase widerspiegelt. Es sind Kinder, deren meist unbeschwerte Kindheit mit einem Mal durch den Krieg unterbrochen wurde. Sowohl Mädchen als auch Jungen, aus der Stadt oder vom Land. Junge Menschen, die von den Ereignissen niedergeworfen wurden, Zeugen waren von Grausamkeiten vor ihren Augen oder gar in ihren Familien, die aber, wie das in diesem Alter ist, schnell einen Weg fanden, diese Erlebnisse zu überstehen. Diese Vielfalt, von der Autorin um historische Fakten ergänzt, macht die Besonderheit dieses Buches aus.

Barbara Halstenbergs Arbeit macht den Leserinnen und Lesern klar, dass diese Generation wahrlich keine normale Kindheit und Jugend hatte. Diese Menschen wurden von dem, was sie erlebt haben, für ihr ganzes Leben gezeichnet. Das ist eine wichtige Erkenntnis für das Zusammenleben der Generationen.

Dem Anspruch der Autorin entspricht es, dass sie am Ende ihrer Arbeit Anregungen für diejenigen ihrer Leserinnen und Leser gibt, die sich nach der Lektüre ermutigt fühlen, sich ihrerseits auf den Weg zu machen, um Menschen Fragen zu ihren persönlichen Erinnerungen zu stellen. Mit diesem Werkzeug in der Hand kann verhindert werden, dass dieser so wichtige und gerade noch mögliche Dialog verpasst wird, wie es auch in meinem Fall mit den Interviews von fast Hundertjährigen beinahe der Fall gewesen wäre.

Mai 2021



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