Читать книгу Spirituelles Selbstmanagement - Barbara von Meibom - Страница 22
Lieben lernen
Оглавление„Überall suchen wir Gott, auf Festen und Orgien
und Reisen, in Kinos und Bars, und doch finden wir Ihn
einzig und allein in uns selbst.“32
Die Liebe, die wir sehnlichst im Außen suchen, ist uns längst zu eigen. Sie ist unsere wahre Natur. Sie war da, sie ist da, sie wird da sein. Nur dass wir dies (meist) nicht wissen. Die jedem innewohnende Gotteskraft, welche Liebe ist, will freigelegt und gelebt werden. Geschieht dies, so verwandelt sich das Ich-Bewusstsein in ein umfassendes Selbst-Bewusstsein bzw. Bewusstsein des SELBST33. Die Welt und ihre Verstrickungen sind die Bühne, auf der sich das Schauspiel der Gottes-/Liebessuche vollzieht. Als Menschen geboren, können wir uns dieser Bühne nicht entziehen, ganz im Gegenteil. Es gilt, sich der Welt zu stellen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, Beziehung zu wagen, Macht anzunehmen und auszuüben, Leiden zu ertragen und Freuden auszukosten. Es gilt, sich in diesen Verstrickungen zu erleben, ohne in ihnen unterzugehen und ohne das Bewusstsein für das Ziel der Suche zu verlieren. Paulo Coelho hat diese Aufgabe in eine wunderbare Geschichte gekleidet.
Auf der Suche nach dem Geheimnis des Glücks (nach Coelho)
Ein junger Mann wird von seinem Vater zu einem Weisen geschickt, der ihn das Geheimnis des Glücks lehren soll. Zu seiner Überraschung findet ihn der Sohn in einem prächtigen Anwesen. Da der Weise keine Zeit hat, sich sogleich um den Ankömmling und dessen Anliegen zu kümmern, schickt er ihn los, das Haus zu erkunden, doch er gibt ihm einen Teelöffel gefüllt mit zwei Tropfen Öl mit auf den Weg und bittet den Jüngling, er möge unterwegs kein Öl verschütten.
Als er ihn nach einer geraumen Weile wiedertrifft, stellt der Weise fest, dass der junge Mann alles daran gesetzt hat, das Öl nicht zu verschütten. Von dem Palast hat er jedoch nichts gesehen. So schickt er ihn ein zweites Mal los. Zurückgekehrt kann der junge Mann nun voller Begeisterung von den Schönheiten und Kostbarkeiten berichten, die er gesehen hat, doch zu seiner Bestürzung merkt er, dass die Öltropfen verschüttet sind.
Dies ist der einzige Rat, sagt der Weise, den ich dir geben kann auf deiner Suche nach dem Glück: „Das Geheimnis des Glücks besteht darin, alle Herrlichkeiten dieser Welt zu schauen, ohne darüber die beiden Öltropfen auf dem Löffel zu vergessen. “34
Ich bin in der Welt (dem Palast des Weisen), doch ich bin nicht von der Welt (die Flamme meines Ich brennt durch das göttliche Öl). Dies immer im Bewusstsein zu behalten, verlangt eine kontinuierliche doppelte Aufmerksamkeit. Statt mich in die Wälder, die Einsamkeit, das Kloster, meine kleine heile Welt zurückzuziehen, ist es meine Aufgabe, mich dem Leben und seinen Herausforderungen zu stellen (den Palast zu erkunden). Doch wenn ich mich nicht in der Welt verlieren will, dann muss ich mich kontinuierlich auf Gott ausrichten, so wie der junge Mann konzentriert seinen Löffel mit Öl im Auge behalten sollte. Auf dem Weg geht es um das ständige Hinspüren und Prüfen im Innern, ob ich in Übereinstimmung mit meiner inneren Instanz denke, fühle, rede und handle. Gemeint ist hier sicherlich nicht allein der private Alltag. Hier geht es um eine Metapher für das ganze Leben schlechthin, für Leben und Arbeiten, für Jung und Alt.
Was dies für die Sphäre der Arbeit bedeutet, nennt Jack Hawley „Reawakening the Spirit in Work“, d.h. die Wiederbelebung der Spiritualität in der Arbeit35. Hinter diesem Titel verbirgt sich eine weitreichende Aussage: Liebe ist nicht ein privates Gefühl, das für den privaten Alltag reserviert ist. Vielmehr können sämtliche Facetten, Gesichter und Stufen der Liebe in allen Lebensbereichen gelebt werden, d.h. auch in der Arbeitswelt, der wir solche Qualität normalerweise absprechen. „Work is love in action“, Arbeiten ist Liebe in Aktion. Dieser Satz drückt den Zusammenhang von Liebe und Arbeiten aus36.
Mut zur Liebe ist nicht selbstverständlich. Zu lieben fällt schwer. Wir haben uns hermetisch ein- und abgeschlossen – in unsere Türme des Zweifels, des Schutzes und der vermeintlichen Sicherheit. Doch ohne den Zweifel an die Berge versetzende Kraft der Liebe loszulassen, ist es nicht möglich zu lieben. Die Zweifel mögen vielfältige Ursachen haben und vielfältiger Natur sein, doch der Zweifel ist immer eine Gegenkraft zur Liebe. Der Zweifel ist aus der Furcht geboren: aus der Furcht, nicht geliebt zu werden und deswegen für den anderen kein Liebesgeschenk sein zu können; nicht respektiert zu sein und deswegen auch keinen Respekt entgegenbringen zu wollen; nicht geachtet zu sein und deswegen nicht zu achten; nicht gesehen und wahrgenommen zu sein und deswegen auch nicht sehen und wahrnehmen zu wollen; über den anderen zu stehen und deswegen Liebe nicht nötig zu haben; sich sicher zu fühlen und deswegen zu meinen, Liebe sei überflüssig, verzichtbar, ja sogar fehl am Platz.
Die Liste der Gründe, warum wir uns verbieten zu lieben, ist endlos. Statt zu lieben, sagen wir ja zum Zweifel, d.h. zur Zweiheit. Wir verweigern uns der Liebe, d. h. der Einheit. Der Zweifel ist der „Teufel“, sagt Anil Kumar, ein indischer Professor. Ihm gilt es täglich, stündlich, jede Minute zu entkommen, wenn wir Liebende werden wollen. Dazu brauchen wir die Kraft des Willens, und zwar eine ganz bestimmte Willensqualität. Assagioli nennt diesen Willen den transpersonalen Willen. Darunter versteht er den Willen, der das Ich überschreitet und sich auf die entgrenzende Kraft des SELBST ausrichtet, d.h. auf jene göttliche Kraft in uns, die auf Einheit und Verschmelzung angelegt ist, die alle Mauern einreißen und uns zur Liebe von uns selbst und anderen befreien kann37.
Was es heißt, aus der Zweiheit in die Einheit zu treten und in der Machtausübung den Strom der Liebe zu erfahren, wird an einer Schilderung deutlich, welche die Ärztin Olga Kharitidi in ihrem Buch „Das weiße Land der Seele“ wiedergibt38. Es handelt sich dabei um eine Erfahrung, die ihr von ihrem Kollegen Anatolij in einem Moment der menschlichen Nähe anvertraut wird:
„Ich bin Jäger, wie du weißt. Ich meine nicht nur symbolisch, im Sinn von Bedeutungen nachjagen, sondern auch ganz konkret. Ab und an fahre ich in die Taiga und jage dort Wild. Meine Großmutter lebt im Altai. Ich brauche zwei ganze Tage für die Fahrt in ihr Dorf, deshalb besuche ich sie nur selten. Aber vor etwas über einem Jahr entschloss ich mich, Urlaub zu nehmen und in den Wäldern nahe dem Dorf meiner Großmutter auf die Jagd zu gehen. Ich nahm mein Lieblingsgewehr mit und fuhr mit großen Erwartungen los.
Ein paar Tage, nachdem ich in dem Dorf angekommen war, ging ich auf die Jagd. Der Winter war vorbei, der Schnee war größtenteils geschmolzen und hatte einen feuchten goldbraunen Teppich aus abgestorbenem Gras zurückgelassen. Bald würden die frischen grünen Frühjahrstriebe sprießen. Es war ein müheloses Gehen und ich wanderte immer tiefer in den Wald hinein.
Weißt du, es ist erstaunlich, wie sich eine Veränderung der Wahrnehmung auf unseren Geist auswirken kann. Während ich so durch den Wald lief, merkte ich, dass sich mein Geisteszustand allein dadurch, dass ich den Lärm der Großstadt hinter mir gelassen und mich in diese ursprüngliche Stille hineinbegeben hatte, stärker veränderte als die Verfassung von manch einem meiner Patienten in der tiefsten Hypnose. Ich wanderte durch vollkommene Stille, entspannt und in eine besondere Art der Meditation versunken, doch immer noch mit dem scharfen Instinkt des Jägers. Genau diesen Zustand hatte ich mir gewünscht, und ich genoss ihn.
Dann erregte ein leises Geräusch rechts von mir meine Aufmerksamkeit. Ich blickte um mich, und da war sie. Eine schöne junge Hirschkuh stand zwischen den Bäumen. Sie machte einen eigenartigen Eindruck auf mich, und ich wusste intuitiv, dass ich eine besondere Strategie brauchen würde, um sie zu erlegen.
In absoluter Stille stand sie da und beobachtete mich. Sie bewegte sich überhaupt nicht, war aber nicht etwa von einem Schock oder von Angst gelähmt. Reglos wie eine Statue stand sie vor mir. Ihre elegante Haltung und ihre schöne Gestalt waren nur mit einem meisterhaften Kunstwerk vergleichbar. Jede Linie ihres Körpers war Ausdruck höchster Anmut.
Vorher war meine Beziehung zu den Tieren, die ich jagte, rein utilitaristischer Natur gewesen. Sie waren meine Beute, und wenn ich sie überlisten und einen Volltreffer anbringen konnte, kamen sie als Braten auf den Tisch. Ich weiß nicht, warum ich nie mehr in den Tieren gesehen habe, aber bis zu diesem Augenblick im Wald hatte ich mir nicht vorstellen können, dass ein Tier von so großer Schönheit sein konnte.
Im nächsten Moment sahen wir uns in die Augen. Ihr Blick war klar und direkt. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Ich sah in die sanften schwarzen Augen der personifizierten Natur. Dann geschah etwas in meinem Inneren, und ich spürte, dass es meine eigenen Augen waren, die mich ansahen. Die Grenze zwischen mir als Mensch und der Hirschkuh als Tier löste sich auf, wir waren eins. Ich war Jäger und Beute zugleich. Das war tatsächlich so. Ich habe es mir nicht bloß eingebildet. Es war unendlich viel stärker als meine Einbildungskraft. Ich war auf jeder Ebene meines Wesens mit diesem Tier verbunden, vom kleinsten Molekül bis in die Tiefen meiner Seele. In diesem Augenblick wurde der Fluch meiner verdammten Rationalität von mir genommen, meines immerwährenden Bedürfnisses, alles logisch zu erklären, in allem ein Symbol zu sehen. Es war ein Augenblick reiner, konzentrierter Existenz.
Meine Hand bewegte sich zum Abzug, ohne dass ich darüber nachgedacht hätte. Es war alles Teil des gleichen Energiestroms, der mich mit der Hirschkuh verband. Alles war natürlich und richtig, denn ich spürte in mir beide Seiten des Geschehens. Ich war bereit zu töten, und ich war bereit getötet zu werden. Es war alles Teil eines einzigen Kontinuums, eines einzigen Gleichgewichts.
Zu zielen und den Abzug zu betätigen, waren eine Bewegung. Zuerst hörte ich kein Geräusch. Ich sah nur, dass dieses schöne, wilde Tier leicht schwankte und in den Vorderläufen einknickte. Jeder Bruchteil dieser Bewegung gab ein kompliziertes choreographisches Muster wieder, in sich selbst vollendet, so als würde eine Folge von schönen Bildern durch meinen Kopf ziehen. Und gleichzeitig spürte ich, wie ich selbst zusammensackte, wie ich aus diesem Leben heraustrat. Dann schloss sie die Augen, und die Verbindung brach ab.
Erst da hörte ich den Schuss, dieses urtümliche Geräusch, das den Tod ankündigt, ein Donnern, das den Raum um mich herum erfüllte. Ich hob den Kopf und sah zu den Wipfeln der hohen Kiefern empor, die uns umstanden. Und dann blickte ich in den Himmel. Es ist kaum zu glauben, aber fast senkrecht über mir stand ein herrlicher Regenbogen. Ich war überwältigt. Ich setzte mich auf das abgestorbene, nasse Gras und fing an zu weinen.
Ich hatte mich immer für einen sehr starken Mann gehalten, aber jetzt weinte ich wie ein Kind. Meine Tränen entsprangen einer Mischung aus Schmerz und Ekstase, ich befand mich geistig und körperlich in einem Schockzustand. Ich fühlte mich völlig verwandelt. Das ist wahrscheinlich das einzige Erlebnis in meinem Leben gewesen, bei dem ich nicht einmal den Versuch einer Deutung oder einer Erklärung unternommen habe.
Ich kehrte nach Nowosibirsk zurück, aber ich hatte mich verändert. Das Gefühl, das mich beim Tod der Hirschkuh erfasst hatte, der wundersame schöne Schmerz, den die Verbundenheit mit meiner Umwelt verursachte und der mein Herz zerriss, wurde zu einem dauerhaften Bestandteil meines Lebens.“
In dieser Geschichte erleben wir, wie sich die Macht des Jägers über Leben und Tod durch eine tief greifende Erfahrung verwandelt. Als der Mann bereit war, auf die Hirschkuh zu schießen, wusste er aus tiefstem Empfinden, dass die Hirschkuh er selbst war; er war mit ihr eins. Ein Schuss auf sie würde zugleich ein Todesschuss für ihn selbst sein, und indem er bereit war zu schießen, war er bereit, sich selbst zu töten. Doch was er schließlich mit dem tödlichen Schuss auslöschte, war nicht sein eigener Körper, sondern sein Ich-Bewusstsein, das Bewusstsein seiner getrennten Existenz. Indem er schoss und die Hirschkuh tötete, erlebte er eine machtvolle Einheitserfahrung, die ihn fortan nicht mehr losließ. Er verlor das Gefühl des Getrenntseins und entwickelte die Sehnsucht nach einer bleibenden Einheitserfahrung.