Читать книгу Dunkel ist die Finsternis - Ben Kossek - Страница 12
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Langsam öffnete Alex Berger die Augen. Seine Augenlider flatterten, dann erkannte er unscharf die Umrisse einer Person, die sich über ihn beugte. Der Raum war abgedunkelt, nur eine kleine Neonröhre oberhalb des Bettes, eine Art Leselampe, war eingeschaltet. Erneut beugten sich die noch unscharfen Umrisse der Person über sein Gesicht und er hörte seinen Namen. Jemand berührte vorsichtig Bergers Hand. Sein Blick wurde jetzt langsam etwas klarer. Die Augen schafften es nun doch irgendwie, auf die Person scharfzustellen. Flo! Was machte Flo an seinem Bett und warum lag er überhaupt in einem Bett? Er öffnete die Augen nun ganz und sah Flo Kramer etwas ratlos an. Er konnte sich noch nicht erinnern. Wie war er in dieses Bett gekommen? Das Licht der Leselampe blendete ihn, aber er behielt die Augen offen. Er sah in Flo Kramers besorgtes Gesicht, sah ihren traurigen und mitfühlenden Blick. Er fühlte, wie ihre Hand sanft und beinahe liebevoll über seine Stirn streichelte.
„Alex … kannst du mich hören?“ Ihre Stimme klang immer noch ein wenig wie aus weiter Ferne, wurde aber langsam lauter und deutlicher.
Er wollte etwas antworten, doch er brachte beim ersten Versuch keinen Ton heraus. Er schluckte. Sein Kehle fühlte sich trocken an, fast wie ausgedörrt. Dann versuchte er es noch einmal. Dieses Mal hatte er mehr Glück. Er lauschte den leisen Worten, die krächzend seine trockenen Lippen verließen.
„Flo … was ist geschehen?“
„Du hattest einen Schock. Wir sind im Krankenhaus.“ Flo hielt immer noch seine Hand und schien sie nicht loslassen zu wollen.
„Schock?“ Berger versuchte, den Kopf etwas zu heben, aber er schaffte es nicht. Wieder verspürte er starken Durst und sah sich um, suchte nach etwas Trinkbarem.
„Trinken, Flo … Durst.“
„Ich hole dir etwas. Bleib nur ruhig liegen.“ Sie strich nochmals über seine Stirn, es war wie eine tröstende Geste. Dann stand sie auf und verließ das Zimmer.
Was war geschehen? Ein erster Erinnerungsfetzen drängte in seine Gedanken. Sie waren doch bei diesem Mann – bei Helmer gewesen. Verdammt, ja doch! Sie hatten nach Gabriel Schoster gefragt, und Helmer hatte ihnen dann plötzlich von dem Unfall mit der Frau erzählt – mit seiner Frau! Es war seine Frau gewesen, Rebecca, über die in diesem Zeitungsartikel berichtet wurde, den Helmer hervorgeholt hatte! Nach all den Jahren! Helmer hatte all die Jahre Bescheid gewusst, wer der Unfallverursacher war. Dann war ihm plötzlich übel geworden, alles hatte sich vor seinen Augen gedreht, als die Bilder und die Erinnerung wieder in ihm nach oben drängten. Als der Schmerz des Verlustes und seine unbändige Wut und Verzweiflung wieder nach oben gespült wurden. Er hatte nicht mehr klar denken können, daran erinnerte er sich jetzt wieder genau. Er hatte nicht auffangen können, was da mit einem Mal auf ihn einströmte, ihn mit sich riss wie ein Tsunami, der mit voller Wucht auf eine Küste trifft!
Es war Rebeccas schrecklicher Unfall, und dieser Schoster soll der Verursacher, der Schuldige gewesen sein, nachdem sie lange Zeit vergebens gesucht hatten. Nach dem vor allem er lange Zeit vergebens gesucht hatte! Aber er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, Rebeccas Tod jemals vollständig aufklären zu können. Und dann, nach all den Jahren, diese Erkenntnis! Das hatte ihn umgehauen, ihm einfach den Rest gegeben!
Berger blickte sich in dem monotonen Krankenzimmer um. Nichts Gemütliches, ein Krankenzimmer eben, zweckmäßig und nüchtern. Es war sein Krankenzimmer, er war der Patient.
Flo kam gerade zurück, eine Flasche stilles Wasser und ein Glas in den Händen. Sie schenkte ihm ein und er trank. Er trank etwas zu hastig, und sie musste ihn bremsen. Als das Glas geleert war, stellte Flo es neben auf dem metallenen Nachttisch ab.
„Schoster war es …?“
Sie nickte, sah ihn aber weiterhin besorgt an. Er sah den feuchten Schleier vor ihren Augen. Nach einer Weile sagte sie:
„Du musst dich erst einmal ausruhen, Alex. Sie haben dir etwas zur Beruhigung gegeben, damit du genügend schlafen kannst. Es ist wie ein Wunder, dass du jetzt überhaupt aufgewacht bist.“ Sie lächelte, und eine Träne kullerte über ihre linke Wange. „Ich habe Roger van Leeuwen schon angerufen und erzählt, was passiert ist und dass du heute Nacht hier im Krankenhaus bleibst. Er war genauso geschockt wie du – na ja, nicht ganz so sehr. Aber er hat mir versprochen, den anderen erstmal nichts zu sagen, bis du mit ihnen selbst gesprochen hast. Ich hoffe, dass ist in Ordnung so. Die beiden Rettungssanitäter wollten kein Risiko eingehen. Sie haben dich direkt hierher ins Krankenhaus gebracht. Aber so wie es aussieht, brauchst du jetzt einfach nur Ruhe. Und morgen sehen wir weiter, in Ordnung?“
Diesmal war es an ihm, zu nicken.
„Eine der Schwestern hat mir einen bequemen Sessel kommen lassen, in dem ich etwas schlafen kann. Ich bleibe heute Nacht bei dir, wenn du einverstanden bist.“
„Natürlich, Flo … danke. Ich hab‘ immer noch Durst“, sagte er mit einem schwachen Lächeln. Sie lächelte zurück, dann füllte sie das Glas erneut und half ihm beim Trinken. Sie hat auf einmal so etwas Weiches, Besorgtes, Behütendes, dachte Berger. Diese Seite kannte er von Flo Kramer noch nicht.
„Hast du vielleicht Hunger, brauchst du irgendetwas?“
„Nein, Flo, danke … alles ist gut. Aber du hast … sicher Hunger, oder?“ Selbst jetzt macht er sich noch Gedanken um mich, dachte sie im Stillen. So einen Mann hatte sie sich immer als Vater gewünscht! Das hatte ihr das ganze bisherige Leben lang gefehlt. Sie wusste nicht, wie es gewesen wäre, hätte sie einen Vater gehabt, einen wie diesen Hauptkommissar Alexander Berger! Vielleicht wäre er mit ihr am Sonntagnachmittag Schlittschuhlaufen gegangen, hätte sie bei ihren Hausaufgaben unterstützt und ihr abends vor dem Schlafengehen eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt. Vielleicht wäre er von der Arbeit nach Hause gekommen, hätte sie in die starken Arme genommen und sie nach ihren kleinen Sorgen gefragt. Sie wusste, dass Alex keine Kinder hatte, weil es sich nicht ergeben hatte, aber sie hatte das sichere, tiefe Gefühl, dass er ein verdammt guter Vater gewesen wäre. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers!
„Im Erdgeschoss gibt es einen Automaten mit Sandwiches und Süßkram. Und einen Kaffeeautomaten. Da hole ich mir was, das genügt. Für dich gibt es heute leider keinen Kaffee mehr. Ich bin gleich zurück.“ Wieder tat sie etwas, was sie noch vor wenigen Tagen nicht für möglich gehalten hätte! Sie drückte seine Hand! Dann erhob sie sich und machte sich auf den Weg zum Aufzug, der ganz in der Nähe war.
Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf hin und her und erzeugten ein unerwartetes Durcheinander. Was war nur mit einem Mal los mit ihr? Seit Jahren hatte sie alle ihre Gefühle tief in sich vergraben, wollte niemanden an sich heranlassen, und jetzt? Was hatte dieser Mann in seinem Schmerz und in seiner verzweifelten Not in ihr ausgelöst? Alexander Berger war ein guter und auch gestandener Polizist, der mit beiden Beinen fest im Leben stand. Zumindest war das bisher ihr Eindruck von ihm. Um ihn machte man sich normalerweise keine Sorgen. Doch heute Abend hatte sie einen völlig anderen Alexander Berger kennengelernt, einen Mann, der wie sie selbst sehr verletzlich war, der obendrein noch verzweifelt und in seiner tiefen Trauer und Hilflosigkeit gefangen war. Ein Mann, der seine Gefühle in sich vergraben hatte, weil er damit immer noch nicht zurechtkam – genau wie sie! Fühlte sie sich ihm deshalb so nahe?
Sie stand mit einem Mal vor dem Automaten, ohne zu wissen, wie sie überhaupt hierhergekommen war! Sie angelte einige Münzen aus ihrer Tasche und holte sich ein Schinkensandwich, eine Tafel Schokolade und eine Zitronenlimonade. Dann stand sie noch eine ganze Weile da, nachdenklich, als sei sie unschlüssig, ob sie nicht etwas vergessen hätte. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Die digitale Anzeige verriet ihr, dass es gerade 22 Uhr 45 war. Als sie Minuten später wieder das triste Krankenzimmer betrat, war Alex Berger eingeschlafen. Müde setzte sie sich in den bequemen Sessel, den man ihr überlassen hatte, und verzehrte ihr Sandwich und etwas Schokolade. Nachdenklich saß sie dann mit der Limonadenflasche in der Hand im Halbdunkel des Zimmers und betrachtete ihren schlafenden Kollegen. Zweifellos – er hatte in ihr etwas geweckt, etwas bewirkt und etwas berührt mit seiner Reaktion. Er hatte ihr gezeigt, dass man Gefühle nicht einfach abschalten und in sich vergraben kann. Man kann sie nicht einfach ignorieren und so tun, als gäbe es sie nicht. Man musste sich ihnen in letzter Konsequenz immer stellen – irgendwann.
Und in diesem Augenblick, als sie hier in diesem halbdunklen Krankenzimmer in ihrem Sessel kauerte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht eher ruhen würde, bis auch dieser Schweinehund Schoster zur Strecke gebracht war – der Mörder von Alex Bergers Frau! Er und Daan van de Heijden – oder besser Arto Kraana – beide sollten sie ihre Rechnungen begleichen müssen!
Kurz darauf schlief auch sie erschöpft ein.