Читать книгу Dunkel ist die Finsternis - Ben Kossek - Страница 6
ОглавлениеProlog
Es war ein regnerischer und windiger Morgen, beinahe schon herbstlich, obwohl es gerade erst Mitte September war. Aber man spürte die Veränderung des Wetters hin zu kühleren Temperaturen in diesem Jahr schon sehr zeitig. Der Sommer war vorüber, und der Herbst drängte sich mit aller Kraft hinein ins Land, obwohl die meisten Menschen noch gar nicht bereit für ihn waren. Aber das wusste der Herbst nicht, und selbst wenn, es wäre ihm wohl völlig gleichgültig gewesen. Man konnte sich das Wetter nun mal nicht aussuchen – genau wie das Leben. Das konnte man sich auch nicht aussuchen. Manchmal schlug das Leben, ähnlich wie das Wetter, eine ganz andere, eigene Richtung ein als die, die man sich gewünscht hatte! Man musste sich damit abfinden, dass die Wirklichkeit nicht immer den eigenen Wünschen folgte. Eine schlichte Wahrheit, die zu akzeptieren war. So etwas Komplexes wie das Leben konnte man nicht planen.
Er wusste das. Denn ihm war es auch nicht gelungen. Auch sein Leben war in eine Strömung geraten, die er so nicht geplant hatte! Wie leicht so etwas doch geschehen konnte!
Vom Fenster seines Büros aus sah er hinüber zur Langebro, der sechsspurigen Verbindungsbrücke über den Inderhavnen, die Seeland mit Amager verband. Hier im Herzen Kopenhagens befand sich das Polizeipräsidium, in dessen drittem Stockwerk man ihm und seinem Partner ein großzügiges Büro zur Verfügung gestellt hatte. Mit imposanter Aussicht!
Und hier stand er nun, beobachtete, wie dicke Regentropfen gegen die Scheiben klatschten, um gleich darauf in kleinen Rinnsalen der Schwerkraft folgend den Weg nach unten zu suchen. Und er grübelte über dieses neue Gerücht nach, das im Präsidium seit einigen Tagen die Runde machte. Eigentlich hatte alles damit begonnen, dass eine neue Ermittlungsgruppe gebildet wurde, die einen Mann namens Frederik Mortensen beobachten sollte. Der Mann, ein Spediteur, wurde verdächtigt, in großem Stil und seit längerer Zeit illegale Geschäfte mit allem zu machen, was man transportieren konnte. Waffen, Drogen, junge Frauen aus den baltischen und anderen osteuropäischen Staaten. Man hatte sie hierher gelockt mit dem trügerischen Versprechen auf eine gut bezahlte Arbeit, um sie dann in zwielichtigen Nachtclubs auszubeuten. Die Drahtzieher dieser illegalen Machenschaften waren zahllose gut organisierte Banden aus dem osteuropäischen Raum, die nun seit geraumer Zeit versuchten, in Westeuropa, vorrangig in Dänemark, Deutschland, Belgien und den Niederlanden, Fuß zu fassen. Und dazu brauchten Sie genau solche Leute wie diesen Frederik Mortensen aus Kopenhagen, dessen größtes Interesse darin bestand, viel Geld zu verdienen. Ob mit sauberen oder unsauberen Mitteln, das spielte für ihn dabei keine große Rolle. Er schmuggelte alles, was eine gute Verdienstspanne versprach, und transportierte es mit seiner Firma dorthin, wohin es die Auftraggeber haben wollten, ganz gleich, ob es sich dabei um lebende oder tot „Ware“ handelte. Aber jetzt war dieser Frederik Mortensen aufgrund von Ermittlungen gegen einen Waffenschieberring in den Niederlanden, genauer gesagt in Amsterdam, ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten. Die Polizeikollegen in Amsterdam hatten herausgefunden, dass bereits seit längerer Zeit eindeutige Verbindungen zwischen den Waffenschiebern aus Amsterdam und Frederik Mortensen bestanden, und aus diesem Grund hatte man neuerdings ein ganz besonderes Auge auf den Spediteur, der alles transportierte, geworfen.
Zunächst konnte man Mortensen nichts nachweisen. Um aber hinter seine unlauteren Machenschaften zu kommen, hatte man beschlossen, einen verdeckten Ermittler bei ihm einzuschleusen, eine höchst gefährliche und brisante Aktion. Es hieß, man habe dafür einen der besten Undercover-Ermittler geholt, die es gab. Dieser Spezialist war von außerhalb gekommen und niemand kannte ihn, schon gar nicht seinen Namen. Aber auf eine andere Weise war dem korrupten Spediteur nicht beizukommen. Der Kerl agierte mit größter Vorsicht und hinterließ keinerlei Spuren, sodass jegliche Beweise gegen ihn fehlten. Der verdeckte Ermittler sollte nun diese Beweise beschaffen, um Frederik Mortensen letztendlich überführen und verhaften zu können.
Die erste wichtige Information, die der „Verdeckte“ lieferte, war jedoch eine völlig überraschende, die überall im Polizeipräsidium wie eine Bombe einschlug. Der Mann hatte durch einen glücklichen Zufall ein Telefonat Mortensens mitbekommen, in dem es darum ging, dass es einen Verräter hier in den Reihen der Polizei gab, einen Maulwurf also, der diesem Mortensen heimlich Informationen zukommen ließ und auf diese Weise verhinderte, dass man dem Mistkerl etwas anhängen konnte. Dieser Maulwurf stand nun im Verdacht, jede bevorstehende Aktion der Polizei zu verraten, und genau aus diesem Grund hatte man große Sorge, dass er auch die Identität des verdeckten Ermittlers preisgeben und den Mann damit in Gefahr bringen könnte.
Die Suche nach dem Maulwurf in den eigenen Reihen lief hinter den Kulissen inzwischen auf Hochtouren, doch es gab nicht den kleinsten Hinweis, um wen es sich hierbei handeln könnte. Man wusste jetzt nur aus sicherer Quelle, dass es ihn wirklich gab. Allerdings hatte einer der Ermittler vor wenigen Tagen einen von Mortensens Männern dabei beobachten können, wie dieser sich heimlich mit einem Unbekannten traf, von dem man annahm, dass es dieser Maulwurf war. Man hatte einen Dienstwagen der Kripo in unmittelbarer Nähe des Treffpunkts entdeckt, mit dem der Verräter danach auch noch unerkannt entkommen war. Der Kripomann, der den Dienstwagen normalerweise fuhr, lag seit über einer Woche mit einem Leistenbruch in einem Kopenhagener Krankenhaus. Irgendwie musste der Maulwurf an die Wagenschlüssel gekommen sein. Auch Fingerabdrücke waren keine zu finden außer denen des kranken Kollegen. Der Verräter wusste offenbar genau, wie er sich zu verhalten hatte!
Hier im Polizeipräsidium war man seit dieser erschreckenden Entdeckung in allerhöchster Alarmbereitschaft. Offenbar war der verdeckte Ermittler von Mortensens Leuten noch nicht enttarnt worden, sonst wäre der Mann mit großer Wahrscheinlichkeit bereits irgendwo tot aufgefunden worden. Jeder wusste, Frederik Mortensen fackelte nicht lange. Aber da der Mann noch lebte und sich bei seinem Kontaktmann im Präsidium gemeldet hatte, gab es für niemanden eine plausible Erklärung, weshalb er noch nicht aufgeflogen war. Die Identität des „Verdeckten“ war natürlich nur den führenden Köpfen bei der Polizei bekannt. Vielleicht hatte ihn genau dieser Umstand bisher gerettet.
Für den Mann, der immer noch in seinem Büro am Fenster stand und durch die verregneten Scheiben den Verkehr auf der Langebro beobachtete, hatte dies alles eine ganz besondere Bedeutung. Er wusste sehr genau, dass der Maulwurf die Identität des verdeckten Ermittlers nicht kannte, und er wusste auch, dass diese nur schwer herauszufinden war. Selbst sein Kontaktmann im Präsidium wurde geheim gehalten. Das alles wusste er, denn er selbst war der fieberhaft gesuchte Maulwurf! Er selbst war es, der diesem Schwein Frederik Mortensen schon seit geraumer Zeit wichtige Informationen zukommen ließ. Er tilgte auf diese Weise seine Schulden, Schulden, die er jetzt bei Mortensen hatte. Aber das war eine andere, eine eigene Geschichte, die er sich selbst zuzuschreiben hatte!
Seine Spielsucht hatte ihn in arge finanzielle Schwierigkeiten gebracht und ihn schließlich in die Arme des korrupten und verbrecherischen Spediteurs getrieben. Seine hohen Schulden, die er bei einer dieser illegalen Pokerrunden im Laufe der Zeit angesammelt hatte, konnte er irgendwann von seinem Gehalt nicht mehr zurückzahlen. Es kamen die ersten ernstgemeinten Drohungen der Geldeintreiber. Seine Familie, seine Frau und auch die beiden Kinder, die von alledem nichts wussten, waren durch sein Zutun in Gefahr geraten. Doch dann, eines Tages, stand da urplötzlich dieser Kerl in der Tiefgarage des Einkaufszentrums neben seinem Wagen – dieser Simon Faltum! Offenbar hatte er dort schon auf ihn gewartet. Er erklärte ihm ohne Umschweife, dass sein Boss von seinen Spielschulden wisse, und dass es eine Möglichkeit gäbe, ihm zu helfen. Er hatte keine Ahnung, woher zum Teufel dieser Mann von seinen finanziellen Problemen wusste und wer ihm da seine Hilfe anbot. Aber das Wasser stand ihm schon bis zum Hals und er hatte dem Vorschlag, den dieser Simon Faltum ihm unterbreitete, zugestimmt, aus reiner Verzweiflung und ohne nachzudenken. Als einzige Gegenleistung für die Übernahme seiner Schulden erwartete man von ihm „nur“ die eine oder andere kleine Information aus dem Polizeiapparat. Das wäre alles.
Damit war er erst einmal gerettet! Doch wer auch immer das mit seinen Spielschulden eingefädelt hatte, stellte für ihn eine Gefahr dar. Und derjenige war offenbar kein kleiner Fisch im Teich, was ihm ernsthaftes Unbehagen bereitete!
Und schon bald spürte der Maulwurf, dass er vom Regen in die Traufe gekommen war. Die Forderungen nach bestimmten Informationen an ihn wurden immer konkreter. Und sie waren immer schwerer zu beschaffen. Doch da war es bereits zu spät, um dagegen aufzubegehren. Er erkannte, dass er hierbei nicht nur seinen Job und vielleicht seine Familie verlieren konnte, wenn das alles herauskam, jetzt stand auch sein Leben auf dem Spiel! Simon Faltum machte ihm klar, dass er nichts zu befürchten habe, wenn er nur weiterhin die nötigen Informationen liefere. Und irgendwann hatte er sich mit dieser Situation abgefunden und aufgehört, sie zu hinterfragen. Von seinen damaligen Spielschulden hatte er nie wieder etwas gehört, und es sah ganz danach aus, als gäbe es sie nicht mehr. Doch dafür gab es jetzt eine andere Schuld, die viel schwerer auf seinen Schultern lastete!
Seit dieser Zeit war er ein Maulwurf.
Verzweifelt hatte er nun herauszufinden versucht, wer dieser „Verdeckte“ war, denn er hoffte, sich mit dieser Information, die so überaus wichtig war für Mortensen, aus dieser verdammten Abhängigkeit freikaufen zu können. Bisher wusste Frederik Mortensen noch nichts von der Existenz des verdeckten Ermittlers. Und wie sich herausstellte, war es auch wirklich nicht so einfach, dessen Identität aufzudecken. Man hatte den Mann irgendwo von außerhalb geholt, kein bekanntes Gesicht also, jedenfalls keiner, dessen plötzliche Abwesenheit im Präsidium vielleicht sogar aufgefallen wäre. Ein verdammt kluger Schachzug! Und er hing nun genau zwischendrin! Wie sein Pendant auf der anderen Seite, der „Verdeckte“.
Er musste jetzt wachsam sein!
Und dann hatte Mortensen überraschend seine rechte Hand, Simon Faltum, zu ihm geschickt und ihm einen Auftrag erteilt. Und er hatte ihm in Aussicht gestellt, dass bei Erfüllung dieses Auftrags ein Großteil seiner Schulden getilgt wären und er höchstens noch ab und zu eine Information liefern müsste – wenn es wirklich mal dringend war. Aber er war Polizist, und er wusste genau, dass solche Zusagen keinen besonderen Wert hatten. In solchen Kreisen wurden diese schnell mal für nichtig erklärt.
Bei dem Treffen mit Mortensens Kurier Simon Faltum hatte er, der Maulwurf, noch einmal Glück gehabt – um nicht zu sagen: unverschämtes Glück! Bisher hatte niemand hier im Präsidium von seiner Existenz gewusst. Man hatte keine Ahnung, dass es einen wie ihn überhaupt gab. Jemand, der Mortensen jedes Mal gewarnt hatte, wenn eine Aktion gegen den Spediteur bevorstand. Man hatte sich nur gewundert, dass der Kerl ihnen immer einen Schritt voraus zu sein schien. Und man hatte vielleicht spekuliert. Mehr nicht. Aber nun wussten sie es! Und seitdem war das Risiko für ihn größer geworden und die Kollegen waren mit der Weitergabe von Informationen sehr viel vorsichtiger als bisher. Keiner traute dem anderen mehr über den Weg.
Sein großer und vielleicht einziger Vorteil war, dass er hier bei der Kripo einen einwandfreien Ruf genoss. Keiner zweifelte seine Loyalität und Aufrichtigkeit hier in der Dienststelle an. Vielleicht hatte Mortensen ihn ja gerade deshalb ausgewählt. Er war ein angesehener und beliebter Kollege, der gemeinsam mit seinem Partner eine überragende Aufklärungsquote vorzuweisen hatte. Das war die beste Tarnung in diesem Spiel. Und die musste er unter allen Umständen aufrechterhalten! Und er musste darauf hoffen, dass die unerwartete Chance kam, den „Verdeckten“ doch noch zu enttarnen. Dieser Mann war im Augenblick sein gefährlichster Gegner – und paradoxerweise gleichzeitig auch der Einzige, der ihn retten konnte!
Der ihn retten konnte aus dieser verzweifelten Lage!
Bei allem, was er nun tat, bestand für ihn eine erhöhte Gefahr, entdeckt zu werden. Und dann Gnade ihm Gott! Dann gab es kein Erbarmen mehr für ihn. Er würde alles verlieren, alles was ihm wichtig war! Erst seinen Job, dann seine Familie und seine Pension, und am Ende vielleicht auch noch sein Leben. Doch dafür war er mit siebenundvierzig Jahren noch viel zu jung!
Es war eine verfluchte Geschichte, die sich für ihn immer wieder im Kreis zu drehen schien! Er musste diesen verdeckten Ermittler ausfindig machen, sonst würde der ihn finden. Aber noch wusste er nicht, wie er an die wenigen Leute herankommen sollte, die wussten, wer der Kerl war. Er würde vorsichtig Fragen stellen müssen und hoffen, dass niemand misstrauisch wurde.
Er musste jetzt sehr wachsam sein!
Und dann, nur wenige Tage später, ergab sich für ihn die einmalige Gelegenheit, Frederik Mortensens Auftrag zu erfüllen und gleichzeitig seine eigenen Pläne zu verfolgen …
Eine einmalige Gelegenheit!