Читать книгу Dunkel ist die Finsternis - Ben Kossek - Страница 17
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Die drei Männer, die unter Bäumen versteckt an diesem Vormittag die Zufahrt zum Untersuchungsgefängnis Almere aus der sicheren Entfernung mit Feldstechern beobachteten, registrierten genau jedes Detail, das sich am Tor zum Gelände abspielte. Selbst die kleinste Kleinigkeit, die sich hier tat, hatten sie seit den frühen Morgenstunden akribisch genau notiert: Wann Fahrzeuge hier angekommen oder abgefahren waren, um welche Fahrzeuge es sich dabei handelte, ebenso die Uhrzeit, wann was geschah. Es wurde jedes noch so unwichtige Ereignis festgehalten. Denn das genau war ihr Job: eine Schwachstelle finden, wie sie in die Haftanstalt gelangen und Mulders befreien konnten.
Simon Faltum und seine Männer hatten den unlösbaren Auftrag, einen Plan zu kreieren, wie sie mit mehreren Leuten unauffällig auf das Gefängnisgelände und zu Mulders gelangen konnten, wie man ihn hier rausschaffen konnte, und dass alles möglichst ohne Verdacht zu erregen – was eigentlich so gut wie unmöglich war. Es musste unauffällig geschehen, um auf der Flucht danach möglichst viel Vorsprung zu haben, bevor Mulders Verschwinden entdeckt wurde. Und schon sehr bald mussten die drei Beobachter ernüchtert feststellen, dass es diese Möglichkeit wohl wirklich nicht gab. Nur ein Gefangenentransport in einem Kleinbus, der direkt am Eingangstor kontrolliert wurde, danach noch einige Lebensmittel- und Materiallieferungen, die ebenfalls genauestens unter die Lupe genommen wurden – wie sollten sie, ohne Aufsehen zu erregen, eine Chance haben? Es war offensichtlich, dass es diese Möglichkeit nicht gab, und so warteten die Männer frustriert nun schon seit Stunden auf ein kleines Wunder.
Der Vormittag verging, ohne dass sich die Situation wesentlich verändert hätte. Doch gegen 11 Uhr erregte dann plötzlich das Signalhorn eines schnell näherkommenden Krankenwagens ihre volle Aufmerksamkeit, der mit Lichtsignal in hohem Tempo zur Einfahrt der Haftanstalt einbog und der sogleich ohne jede Verzögerung auf das Gelände eingelassen wurde. Wie auf ein Kommando sahen sich Faltum und seine beiden Begleiter an.
„Habt ihr das gesehen?“, fragte Johan Jostrup. „Der Krankenwagen konnte einfach passieren! Das erste Fahrzeug, dass heute nicht kontrolliert wurde!“ Fast ungläubig starrte er zur Toreinfahrt hinüber, die sich inzwischen wieder geschlossen hatte.
Da hatten sie doch noch einen Schwachpunkt entdeckt! Was wäre denn, wenn sie als Rettungssanitäter eines Krankenwagens auf das Gelände kämen …? Dann hätten sie auch gleich das ideale Fluchtfahrzeug! Mit einem Mal waren die drei Männer hellwach. Jesper Sonnesen, der dritte im Bunde, hatte schon bei der Anfahrt des Krankenwagens eine kleine Kamera hervorgeholt und alles gefilmt. Nun warteten sie gespannt. Alles hing nun davon ab, ob die wachhabenden Beamten an der Pforte das Rettungsfahrzeug zumindest bei der Ausfahrt einer flüchtigen Kontrolle unterziehen würden. Eine ganze Weile passierte nun erst einmal nichts. Dann jedoch, etwa fünfzehn Minuten später, näherte sich der Krankenwagen wieder mit Lichtsignal und eingeschaltetem Signalhorn eilig der Ausfahrt der Haftanstalt! Als die Beamten an der Pforte das Rettungsfahrzeug kommen sahen, öffneten sie sofort das große Metalltor und winkten den Fahrer ohne Verzögerung einfach durch! Sie hatten wohl von drinnen einen entsprechenden Hinweis bekommen, dass ein Notfall vorlag!
„Seht euch das an! Das ist die Lösung“, rief Simon Faltum nun überrascht. „Wir brauchen einen Krankenwagen und einen Notruf aus der Anstalt. Und dann muss einer der Wärter das Tor zur Ausfahrt freigeben. So könnte es funktionieren!“
„Ich kann es fast nicht glauben! Die kamen ohne Kontrolle auf das Gelände und auch wieder raus“, stimmte Jesper Sonnesen zu, der auch die Szene bei der Ausfahrt gefilmt hatte. „Wir brauchen nicht mal unauffällig und unbemerkt agieren. Je auffälliger wir da reingehen, mit Tatütata und Lichtorgel, umso besser!“
„Konnte jemand von euch erkennen, wie viele Sanitäter mit im Wagen waren?“, fragte Simon Faltum, während er weiter durch seinen Feldstecher sah und die Szenerie verfolgte.
„Nein, das war leider nicht auszumachen, aber ich denke, drei Sanitäter als Standardbesatzung sind es normalerweise immer“, entgegnete Sonnesen.
„Zwei Leute mehr wäre nicht schlecht.“
„Sollte das ein Problem sein? Ihr habt doch gesehen, die haben ja nicht einmal in den Rettungswagen reingesehen. Wir müssen zuerst feststellen, wo der herkam, aus welchem Krankenhaus.“
„Dann häng‘ dich am besten gleich mal dran, Jesper. Los, beeile dich.“ Mit diesen Worten warf Simon Faltum ihm die Autoschlüssel zu und Jesper Sonnesen beeilte sich, die Verfolgung des Krankenwagens aufzunehmen, bevor dieser aus ihrem Blickfeld verschwinden konnte. Faltum und Jostrup warteten und beobachteten weiterhin geduldig, was sich vor der Einfahrt zur Haftanstalt tat. Doch es geschah nichts wesentliches mehr. Jedenfalls nichts, was den Plan, der langsam in ihren Köpfen zu reifen begann, noch einmal hätte ändern können. Als Sonnesen etwa eine Stunde später zurückkam, berichtete er von den Beobachtungen, die er hatte machen können.
„Der Krankenwagen fuhr immer an der Küste entlang auf der N701 nach Lelystad, so heißt der Ort, in dem sich das Krankenhaus befindet. Eine verdammt einsame Strecke da draußen und so gut wie kein Verkehr, für unser Vorhaben also nahezu perfekt. Ich habe auf der Rückfahrt noch einige interessante Aufnahmen gemacht. Könnt ihr euch später mal ansehen.“
„Gut, dann zurück ins Hotel, bevor wir hier noch unnötigerweise Verdacht erregen“, befahl Simon Faltum. Eilig stiegen die drei Männer in ihr Fahrzeug, dass sie noch in der Nacht ihrer Ankunft in Amsterdam mit gefälschten niederländischen Kennzeichen versehen hatten, um möglichst wenig aufzufallen. Außerdem hatten sie ein kleines und unauffälliges Hotel in Amsterdam Zuidoost ausgewählt, in dem sie zurzeit noch die einzigen Gäste waren. Bei der Anmeldung verwendeten sie gefälschte Ausweise. Simon Faltum wollte um jeden Preis vermeiden, dass sie unnötig vielen Menschen über den Weg liefen, die sie vielleicht später beschreiben konnten. Kein leichtes Unterfangen, weil sie hier einige Tage verbringen mussten.
Der Auftrag, den Frederik Mortensen ihnen erteilt hatte, war eindeutig. Sie sollten eine Möglichkeit finden, wie Mulders aus der Haftanstalt befreit werden konnte – die hatten sie gefunden. Nun mussten sie noch einen Plan ausarbeiten und die gesamte Aktion vorbereiten. Danach würden sie Mortensen verständigen, da dieser mit weiteren Leuten nachkommen wollte. Alles musste schnell und reibungslos ablaufen. Doch nach der gelungenen Befreiung von Hendrik Mulders kam erst noch der schwierige Teil des Vorhabens. Sie mussten die Niederlande schnellstmöglich wieder verlassen, denn sollte am Ende wirklich alles gelingen wie geplant, würde sie jeder Streifenwagen, jede Grenzkontrolle hier im Land suchen und erbarmungslos jagen. Deshalb musste alles bis ins Detail geplant und vorbereitet werden.
Lange saßen die drei Männer in ihrem Hotelzimmer und gingen jede Einzelheit des Vorhabens durch, wägten ab, favorisierten verschiedene Strategien und verwarfen sie wieder, bis endlich viele Stunden später ein Plan gereift war, der die erfolgversprechendsten und bestmöglichen Chancen bot, auch tatsächlich ausführbar zu sein. Eine wichtige Rolle spielte dabei eine abgelegene Scheune ganz in der Nähe der N701, die leer stand und von ihnen als Unterschlupf genutzt werden konnte. Sonnesen hatte sie bei der Verfolgung des Krankenwagens entdeckt und auf dem Rückweg in Augenschein genommen. Für ihre Zwecke war sie perfekt.
Am frühen Nachmittag rief Simon Faltum endlich Frederik Mortensen an. Beide sprachen fast eine ganze Stunde, während Faltum seinem Chef den Plan erläuterte. Mortensen hörte seiner rechten Hand zu. Am Ende sagte er:
„Und du glaubst, dass der Trick mit dem Rettungswagen auch wirklich funktioniert?“
„Wenn Mulders bereit ist, sich ein wenig weh zu tun, dann sehe ich keine Probleme. Wir müssen nur den Anwalt ordentlich unter Druck setzen, damit er mitspielt. Aber das wird kein Problem.“
„Gut, dann machen wir uns auf den Weg. Ich werde Ronnie nachher gleich anrufen und ihm mitteilen, dass wir ihn dringend brauchen. Ich hoffe, er hat Zeit und freut sich auf einen Segeltörn nach Kopenhagen.“
„Ich denke, als dein guter Freund wird er das.“
„Natürlich, Simon. Ich kenne ihn schließlich schon seit über zwanzig Jahren. Wäre nicht die erste Reise, die wir gemeinsam unternehmen. Wir werden nach unserer Ankunft bei ihm wohnen. Ich melde mich, wenn wir angekommen sind. Bis dann.“
„Alles klar, bis dann.“
Simon Faltum blickte nachdenklich vor sich hin. Bei diesem Vorhaben gab es einiges, was nicht einkalkuliert werden konnte. Es konnten Dinge passieren, die nicht vorhersehbar waren oder an die sie möglicherweise noch gar nicht gedacht hatten. Dinge, die ihren schönen, sorgfältig ausgetüftelten Plan mit einem Schlag zunichtemachen konnten. Ein gewisses Restrisiko blieb immer, und man musste es eingehen. Simon Faltum wusste, wenn diese Befreiungsaktion scheitern würde, bedeutete das für alle längere Gefängnisstrafen. Würde sie aber gelingen, dann winkte jedem Einzelnen von ihnen eine Menge Geld. So viel, wie keiner seiner Männer bisher auf einem Haufen gesehen hatte!
Hendrik Mulders würde sie reich machen.
Das hatte der Notar seinem Chef versprochen …