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10.

Als Aksel Abrahamsen am Montagmorgen das Gebäude des Amsterdamer Polizeikorps betrat, war es gerade mal 7 Uhr 50. Und doch waren schon alle Kollegen der Ermittlungsgruppe anwesend, auch Alex und Flo. Keiner wollte den neuen Kollegen aus Kopenhagen an diesem Morgen verpassen. Gegen 8 Uhr 10 betrat Roger van Leeuwen mit Aksel Abrahamsen im Schlepptau das Büro der Ermittler. Er schien guter Laune zu sein, wobei der Grund hierfür nicht jedem ersichtlich war. Gab es einen Grund, gut gelaunt zu sein an einem Morgen wie diesem?

„Guten Morgen zusammen. Ich sehe, ihr seid alle schon sehr gespannt auf Aksel. Hier ist unser neuer Mann, der uns ab heute tatkräftig unterstützen wird. Aksel Abrahamsen von der Kripo in Kopenhagen. Aksel, du hast das Wort!“

Alle begrüßten den dänischen Kollegen mit Handschlag. Man stellte sich gegenseitig mit Vornamen vor und Abrahamsen bedankte sich für den freundlichen Empfang.

„Ich hoffe, ich kann euch kräftig unterstützen, Kollegen. Wie ihr sicher schon erfahren habt, sind mein Kollege Magne Poulsen und ich schon seit geraumer Zeit hinter Frederik Mortensen her, der ja in engerer Verbindung zu Claudius Steelmans stand.“

„Ja, wir haben damals vor zwei Jahren mehrfach miteinander telefoniert, du erinnerst dich sicher noch“, ergänzte Luuk van der Beek und nickte dem Dänen zu.

„Richtig. Doch jetzt haben wir ein aktuelles Problem, weshalb man mich hierher beordert hat. Wir haben bei uns im Präsidium einen Maulwurf ausgemacht, der Mortensen Informationen zuspielt und somit unsere Arbeit sabotiert. Außerdem bringt er einen verdeckten Ermittler in Gefahr, den wir erst kürzlich erfolgreich in Mortensens Organisation eingeschleust haben.“

„Aber die Frage ist, wie wir von hier aus helfen können, wenn der Maulwurf in Kopenhagen sitzt“, warf Lizzy Huisman nun ein. Sie sprach genau das aus, was viele ihrer Kollegen gerade dachten. Sie waren in diese Sache schließlich nicht involviert. Abrahamsen versuchte gleich, die Hintergründe zu erläutern.

„Wir vermuten, dass Mortensen versuchen wird, diesen Notar, Hendrik Mulders, aus dem Untersuchungsgefängnis in Almere zu befreien. Und wir gehen weiter davon aus, dass der Maulwurf dabei eine wichtige Rolle spielen soll. Das bedeutet, dass er unter Umständen direkt Kontakt mit den Leuten aufnehmen wird, die Mortensen hier nach Amsterdam geschickt hat.“

„Gibt es denn bestätigte Verbindungen zwischen Mulders und dem Maulwurf?“, mischte sich Berger nun etwas verwundert ein. Er hatte sich wieder recht gut erholt, aber bisher noch keine Zeit gefunden, seine Kollegen von den unerwarteten Geschehnissen drüben in Heinsberg zu unterrichten. Er war auch noch gar nicht sicher, ob er das zu diesem Zeitpunkt überhaupt wollte. Und auch Flo Kramer hatte heute Morgen dazu geschwiegen, als wisse sie das. Sie war sowieso der Meinung, dass dies allein die Sache ihres Kollegen war, mit den anderen aus der Gruppe darüber zu sprechen, wenn er dies denn wollte.

„Ganz ehrlich: Wir wissen es noch nicht. Aber meine Vorgesetzten versprechen sich von meinem Einsatz hier vielleicht neue Hinweise, die uns die Identität des Maulwurfs verraten könnten. Kollege Poulsen führt in der Zwischenzeit in Kopenhagen weiter die intensive Suche nach dem verdammten Verräter. Wir bleiben täglich in Kontakt, wenn es sein muss. Fakt ist leider, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, wer der Kerl ist.“

„Ist denn nichts darüber bekannt, wie er mit Mortensen Kontakt aufnimmt?“, fragte Lizzy und zog die Stirn in nachdenkliche Falten. „Die müssen sich doch irgendwie austauschen.“

„Nun, wir wissen definitiv von einem persönlichen Treffen des Maulwurfs mit Simon Faltum, Mortensens rechter Hand. Dabei wurde erst entdeckt, dass es einen Maulwurf gibt. Es war reiner Zufall, dass unsere Leute dieses Treffen beobachten konnten und dem Verräter so auf die Spur kamen. Aber leider war es das bisher einzige Treffen, von dem wir wissen. Was wir nicht wissen ist, ob es zuvor schon ähnliche Treffen gab und wenn ja, wie viele. Wir gehen davon aus, dass der Kontakt sonst über Prepaid-Handys läuft. Simon Faltum ist zudem einer der Kerle, die Mortensen hier nach Amsterdam geschickt hat.“

„Er schickt seine rechte Hand?“, fragte Flo und zog dabei ein verdutztes Gesicht. „Dann scheint das, was er hier vor hat, ja besonders dringend und wichtig zu sein.“

„Wir hörten, dass Hendrik Mulders befreit werden soll“, ließ sich nun Jan Scheuer vernehmen. „Weshalb betreibt Mortensen einen solchen Aufwand, um Mulders da rauszuholen?“

„Ich denke, Mortensen kann einen wie Hendrik Mulders gut gebrauchen. Mulders ist gefährlich und hat in den Niederlanden und in Deutschland keinen Rückhalt mehr“, meinte Flo Kramer. Aber keinem aus der Gruppe waren die näheren Umstände klar, weshalb Mortensen dieses Risiko einging. Es musste noch einen anderen Grund geben, weshalb er Mulders unterstützte.

„Ich weiß nur, dass Hendrik Mulders damals vor etwa zwei Jahren häufiger in Kopenhagen bei Mortensen war und dass hier auch definitiv geschäftliche Verbindungen bestanden haben. Die beiden haben sich bei dieser Gelegenheit sicher auch intensiv ausgetauscht. Allerdings konnten wir weder dem einen noch dem anderen ein Vergehen nachweisen. Zu unserem größten Bedauern. Aber vielleicht haben wir ja jetzt eine Chance dazu.“ Aksel Abrahamsen hob hoffnungsvoll die Schultern. „Aber ich habe euch noch etwas anderes mitgebracht.“ Mit diesen Worten zog Abrahamsen einen USB-Stick aus der Tasche und reichte ihn Roger van Leeuwen.

„Auf diesen Stick ist eine Kopie des anonymen Anrufs, den wir damals bekommen hatten – der Hinweis auf das Treffen von Mortensen und Kraana wegen des Drogendeals. Leider kamen wir da etwas zu spät.“

„Dann hören wir uns das doch mal an“, entschied Luuk und nahm den Stick, um ihn in seinen Rechner zu stecken. Mit ein paar wenigen Klicks hatte er die Datei geöffnet. Eine Stimme, die Deutsch mit starkem niederländischen Akzent sprach, war zu vernehmen. Gespannt lauschten nun alle dem Wortlaut.

„Hören Sie zu! Es gibt ein Treffen zwischen Mortensen und einem Esten, Arto Kraana. Kraana ist auch unter dem Namen Daan van de Heijden bekannt und wird gesucht wegen Waffenschmuggel. Hier sollen Drogen übergeben werden. Das Treffen findet heute Nachmittag um 17 Uhr im Inderhavnen auf dem Industriegelände am Ved Slusen statt.“

Sie ließen die Tonaufnahme mehrmals ablaufen. Am Ende war nicht einwandfrei zu klären, ob der Anrufer Sanders oder Visser war, oder vielleicht eine bisher unbekannte andere Person. Aber im Hintergrund waren unverwechselbar Arbeitsgeräusche aus einer Werkstatt zu vernehmen. Lizzy saß hinter ihrem Bildschirm und schien auf der Suche nach einem Anhaltspunkt zu sein.

„Leider ließ sich der Anruf nicht zurückverfolgen. Er kam wie immer von einem Prepaid-Handy“, erläuterte Aksel Abrahamsen.

„Ich denke, dass der Anrufer Gerrit Visser war. Sanders ist zu weit weg von Mortensen und Kraana. Und außerdem hat er lange in Deutschland gelebt und gearbeitet. Sein Akzent war sicher nicht mehr so ausgeprägt. Es muss etwas vorgefallen sein in der Vergangenheit, entweder zwischen Visser und Kraana oder Visser und Mortensen. Ich gehe mal auf die Suche.“ Lizzy Huisman tauchte hinter ihrem Bildschirm ab und hämmerte nun auf ihre Tastatur ein, als wäre sie allein im Raum.

„Du meinst, es könne sich um eine Art Racheakt handeln?“, fragte Luuk nun.

„Schon möglich. Jedenfalls scheint mir Visser als der anonyme Anrufer viel wahrscheinlicher. Er war ein enger Vertrauter von Steelmans und deshalb viel enger an Mortensen oder Kraana dran als Marinus Sanders, der nur ein einfacher Handlanger war.“

Während die Kollegen noch weiter miteinander diskutierten, meldet sich Lizzy plötzlich nach wenigen Minuten.

„Hier, da haben wir doch was! Das ist interessant, Leute! Gerrit Visser und Arto Kraana haben gemeinsam sieben Jahre gesessen. Raubüberfall auf einen Geldtransporter! Das Ganze ist vor etwas über fünfzehn Jahren passiert. Augenblick, ich gehe da mal tiefer rein.“ Wieder hörte man Lizzys Finger über die Tastatur fliegen. Alle warteten nun gespannt, was sie finden würde. Nach weiteren zwei Minuten starrte sie gebannt auf den Bildschirm. „Verdammt aber auch! Hier ist unsere Antwort! Beim Überfall auf den Geldtransporter kam einer der Täter ums Leben. Erschossen von den Sicherheitsleuten, die den Transport begleitet haben. Der Mann, der erschossen wurde, hieß Piet Visser!“

„Was? Piet Visser? Wer soll das sein“, fragte Luuk, während er staunend auf Lizzys Bildschirm sah.

„Gerrit Vissers jüngerer Bruder“, erwiderte Lizzy. „Da haben wir das Motiv für den anonymen Anruf. Im Polizeibericht von damals steht, dass dieser Piet es nicht mehr zum Fluchtwagen geschafft hat, weil der Fahrer abgehauen ist. Und der Fahrer war ein gewisser Arto Kraana! Er wurde eine Stunde später gestellt.“

„Das ist ja unglaublich! Arto Kraana hat mit Gerrit und Piet Visser gemeinsam einen Raubüberfall auf einen Geldtransporter verübt, und Piet Visser wurde erschossen, weil Arto Kraana mit dem Fluchtwagen das Weite gesucht hat.“ Luuk schaute etwas belämmert in die Runde.

„Und Gerrit Visser hat das Treffen zwischen Mortensen und Kraana an die Kopenhagener Polizei verpfiffen, weil er hoffte, dass derjenige, der den Tod seines Bruders zu verantworten hat, dort dabei sei und verhaftet wird!“, ergänzte Berger, der die Zusammenhänge nun ebenfalls nachvollziehen konnte

„Also doch Rache“, stellte Jan fest. „Aber weshalb hat Gerrit Visser fast sieben Jahre damit gewartet? Er hat sich nach seinem Gefängnisaufenthalt volle sieben Jahre Zeit gelassen, Rache für seinen toten kleinen Bruder zu nehmen. Das leuchtet mir noch nicht so ganz ein.“

„Möglich ist auch, dass er nicht wusste, wo sich Arto Kraana nach seiner Entlassung aufgehalten hatte. Und dann passiert es. Sie treffen eines schönen Tages zufällig bei Steelmans wieder aufeinander – und Arto Kraana unter dem falschen Namen Daan van de Heijden. Und sie erkennen sich sofort. Und von da an sind Vissers Rachegelüste geschürt. Er wartet nur auf eine günstige Gelegenheit für seine Rache.“

„Aber wir hatten keinen Hinweis, dass einer der Kraana-Söhne bei dem Treffen im Inderhavnen auftauchen würde. Nach unseren Ermittlungen waren es nur die Drogenkuriere, die dort aufgekreuzt sind. Zu denen haben wir jedoch keine Namen“, erklärte Abrahamsen.

„Und hier ist noch etwas! Im Polizeibericht steht außerdem, dass es noch einen vierter Täter bei dem Überfall gab! Und jetzt haltet euch fest! Sein Name war Marinus Sanders! Der war also ebenfalls dabei! Sanders fuhr zusammen mit Visser einen zweiten Fluchtwagen. Das ganze Drama spielte sich in Rotterdam ab, wie gesagt vor gut fünfzehn Jahren. Nun Leute, wenn das nicht der Grund für den Verrat ist …“

„Das könnte auch die Erklärung dafür sein, dass es zwischen Daan van de Heijden, also Arto Kraana, und Claudius Steelmans zum Zerwürfnis kam. Und Mulders stand auf Steelmans Seite“, sinnierte Berger nun laut.

Langsam kam in die verwirrenden Ereignisse der vergangenen Monate eine klare Linie. Alles wurde mit einem Mal logisch und nachvollziehbar. Die Bande hatte sich zerstritten, als Visser und Kraana aufeinandertrafen und die alte Sache von vor fünfzehn Jahren wieder aufbrach. Deshalb hatte sich Daan van de Heijden alias Arto Kraana im April so überraschend aus dem Staub gemacht und nach Tallinn abgesetzt. Und aus dem gleichen Grund war wenige Monate später dieser verdammte Scharfschütze, Arto Kraanas Bruder Asko, aufgetaucht. Er hatte den Auftrag, die ganze Bande um Steelmans, Visser und Mulders zu erledigen, was dem Sniper auch um ein Haar gelungen wäre. Aber war das auch der Grund, weshalb Mortensen unbedingt die Befreiung Mulders wollte? Um sich gegen Arto Kraana zu schützen?

Alex Berger hatte daran seine Zweifel, genau wie Lizzy Huisman. Auch sie glaubte, dass hinter dieser Aktion mehr stecken musste.

Dunkel ist die Finsternis

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