Читать книгу Dunkel ist die Finsternis - Ben Kossek - Страница 19

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13.

Erst spät in der Nacht waren Frederik Mortensen und vier seiner Männer in Urk eingetroffen, einer Kleinstadt am Ostufer des Ijsselmeeres in der Provinz Flevoland gelegen. Das stattliche Anwesen seines Freundes Ronnie Nedermann lag etwas abgelegen drei Kilometer östlich von Urk inmitten von Feldern. Hier fiel es niemandem auf, wenn spät nachts gegen 3 Uhr noch Besuch eintraf und Motorengeräusche eines Lieferwagens zu hören waren, denn hier gab es keine direkten Nachbarn. Frederik Mortensen konnte das nur recht sein, denn er wollte auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Polizei hier in den Niederlanden auf sich lenken. Für seinen Plan, Mulders zu befreien, wäre das nicht gerade nützlich gewesen.

Ronnie Nedermann war genau der richtige, um Mortensen bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Ronnie war wohlhabend und hatte sich dazu entschlossen, das Leben zu genießen. Bisweilen tätigte er ein paar kleinere krumme Geschäftchen, nichts was von Bedeutung wäre und mehr zum Zeitvertreib, denn er hatte dies finanziell nicht nötig. Aber eine Sache, wie sie sein langjähriger Freund Mortensen soeben plante, war genau nach seinem Geschmack. Als Frederik ihn anrief, war er ohne Zögern sofort bereit, seine Segelyacht zur Verfügung zu stellen, um ihn mitsamt seinen Leute und dem befreiten Mulders auf dem Seeweg außer Landes zu bringen. Die hochseetaugliche Yacht lag bereit zum Auslaufen im Yachthafen von Urk. Im Laufe des Tages hatte er genügend Vorräte an Bord gebracht, damit die Yacht auch sofort startklar war, wenn es schnell gehen musste.

Frederik Mortensen und seine Männer waren in einem weißen Lieferwagen gekommen. Den würden sie für die Befreiung des Notars brauchen, ebenso die Maschinenpistolen und die weißen Overalls, die hinten im Fahrzeug versteckt waren. Der Maulwurf hatte ihn davon unterrichtet, dass Faltum und seine Männer zwar auf ihrer Fahrt durch Dänemark und Deutschland von der Polizei beschattet wurden, dass diese sie jedoch kurz vor der niederländischen Grenze wieder aus den Augen verloren hatten. Faltum hatte die Verfolger auf einem Waldweg mit einem geschickten Manöver in die Irre geführt und konnte so entkommen.

Leider hatte er erst viel zu spät mitbekommen, dass das Büro von Mortensen überwacht worden war. Er konnte den Spediteur nicht mehr rechtzeitig warnen, sodass die Kollegen vor Ort die Verfolgung des grauen Audis hatten aufnehmen können. Jedoch den weißen Lieferwagen, der drei Tag später ebenfalls unterwegs in die Niederlande war, hatte die Polizei nicht auf dem Schirm. Mortensen war nun vorsichtig. Der Maulwurf hatte aber davor gewarnt, dass die Ermittlungsbehörden offenbar den Verdacht hegten, dass möglicherweise die Befreiung von Hendrik Mulders geplant war und dass man künftig ein besonderes Augenmerk auf den Häftling hatte. Die Behörden hatten derweil noch keinerlei Ahnung, wie eine etwaige Befreiung ablaufen sollte.

Für das gesamte Vorhaben waren diese Informationen von größter Wichtigkeit. Sollte Hendrik Mulders nun unter strengerer Beobachtung stehen, war alles noch viel schwieriger, als es ohnehin schon war. Die Aktion musste reibungslos und schnell durchgezogen werden, wenn die Befreiung wie auch die anschließende Flucht nach Dänemark gelingen sollten. Fehler durften sie sich keine erlauben, sonst würden jahrelange Haftstrafen auf sie warten anstelle der hohen Belohnung, die Mulders zu zahlen bereit war. Am frühen Nachmittag führten Mortensen und Faltum ein letztes längeres Telefonat, um noch einmal jedes einzelne Detail des Plans abzusprechen. Doch am Ende blieb dieses gefährliche Restrisiko, dass keiner einschätzen konnte. Am Ende blieb es ein Spiel um alles oder nichts!

Gegen 17 Uhr am späten Nachmittag checkten Simon Faltum, Johan Jostrup und Jesper Sonnesen aus dem kleinen Hotel aus und machten sich auf den Weg zu der leerstehenden Scheune an der N701. Hier würden sie bleiben, bis sie die Aktion erfolgreich beendet hatten. Heute Abend stand die Durchführung des ersten Teils ihres Plans zur Befreiung des Notars bevor. Ihr Ziel war Ludger van Holsbeck, Mulders Anwalt. Er spielte eine gewichtige Rolle bei diesem Unterfangen.

Gegen 21 Uhr verließen Faltum und seine beiden Komplizen die Scheune und fuhren mit dem Wagen hinüber nach Amstelveen. Dort bewohnte Ludger van Holsbeck mit seiner Frau ein größeres Einfamilienhaus, dass von einem gepflegten Garten und einer hohen Hecke umgeben war. Die Kinder des Ehepaares waren erwachsen und schon seit Jahren aus dem Haus. Sie würden also leichtes Spiel haben. Bereits zuvor hatten sie die Lage und die Umgebung des Anwesens genau unter die Lupe genommen. Es war eine sehr ruhige, gutbürgerliche Wohngegend, und das Haus war von der Straße her nicht einsehbar, was ihren Plänen entgegenkam.

Inzwischen war es dunkel geworden. Der graue Audi bog langsam in die Straße ein, in der die Holsbecks wohnten, und parkte etwa hundert Meter vom Haus entfernt am Straßenrand. Simon Faltum schaltete den Motor und das Licht aus. Die drei Männer warteten zunächst geduldig und behielten die Umgebung genau im Auge. Niemand schien sich für den Wagen und seine Insassen zu interessieren. Die recht spärliche Straßenbeleuchtung ließ viele Schatten zu, was ihrem Vorhaben entgegen kam. Draußen blieb alles ruhig. Nach einigen Minuten stiegen die Männer aus dem Wagen und näherten sich schnell und geräuschlos dem Anwesen der Holsbecks. In einem der Fenster an der Frontseite des Hauses brannte gedämpftes Licht. Faltum, Jostrup und Sonnesen zogen nun Skimasken über und klingelten an der Haustür. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich von drinnen Schritte näherten. Gut möglich, dass Ludger van Holsbeck und seine Frau um diese Uhrzeit nicht mehr mit Besuch rechneten und sich gerade gefragt hatten, wer so spät noch vor ihrer Haustür stand.

Als dann die Haustür endlich geöffnet wurde, stand ihnen ein zu Tode erschrockener Ludger van Holsbeck gegenüber. Faltum und seine Männer drängten ihn sofort in den Hausflur zurück. Sie hatten den verdutzten Anwalt, der mit weit aufgerissenen Augen in den Lauf einer Pistole blickte und vor Schreck keinen Laut von sich gab, völlig überrumpelt.

„Still! Sind Sie Ludger van Holsbeck?“ fragte Simon Faltum flüsternd in Deutsch mit starkem Akzent.

„J … ja“, antwortete der Mann trotz der Angst, die er gerade verspürte, ebenfalls auf Deutsch. Mehr brachte er nicht heraus.

„Keinen Laut, Van Holsbeck, dann passiert Ihnen nichts!“, zischte Faltum ihn an, während Sonnesen hinter ihnen die Haustür schloss und das Licht im Flur löschte. Ludger van Holsbeck war so überrascht, dass er sich noch in Schockstarre befand und mit ängstlichem Blick die maskierten Männer anstarrte, sofern er im dunklen Flur überhaupt noch etwas erkennen konnte. Wer waren die Kerle, die da so überraschend in sein Haus eingedrungen waren? Seine Stimme schien ihn im Stich zu lassen. Obwohl er die Lippen bewegte, brachte er keinen Ton mehr hervor. Dafür war jetzt die Stimme einer Frau zu hören, die aus der Küche kam.

„Wer ist es denn, Ludger?“

Simon Faltum hatte Van Holsbeck am Hals gepackt und ihn an die Wand im Flur gedrückt. Mit der rechten Hand hielt er ihm die Waffe an die Stirn und flüsterte leise:

„Antworten Sie, los!“

„Wir … haben Besuch, Ilse. Ein … ein Kollege …“

„So spät noch? Muss wohl etwas Wichtiges sein“, antwortete Ilse van Holsbeck. Doch man konnte hören, dass sie verwundert war über den späten Besuch. Einen Augenblick später erschien sie in der Tür zur Küche und erstarrte. Sie blickte ebenfalls höchst erschrocken in den Lauf von Johan Jostrups Pistole.

„Keinen Laut! Wenn Sie schreien, schießen wir sofort!“, gab er unmissverständlich zu verstehen.

„Was … was wollen Sie von uns?“, war die mehr als zaghafte Frage, während sie immer noch mit verängstigter Miene in den Lauf der Pistole sah.

„Schließen Sie sofort alle Rollläden!“, befahl Faltum. „Und nur die Stehlampe im Wohnzimmer bleibt an!“

Eilig, aber dennoch völlig verstört und verängstigt, kam Ilse van Holsbeck den Aufforderungen der maskierten Eindringlinge nach. Sie zitterte am ganzen Körper, während sie die Rollläden herunterließ und alle Lampen ausschaltete, bis auf die Stehlampe. Dann schoben die Eindringlinge das Ehepaar ins Wohnzimmer und zwangen beide auf das Sofa, wo sie stocksteif sitzenblieben und nicht wagten, auch nur den kleinen Fußzeh zu bewegen. Im nächsten Augenblick herrschte im Raum Totenstille. Sofort zog Simon Faltum ein Päckchen Zigaretten aus seiner Jackentasche, öffnete es aber nicht, sondern legte es auf den niedrigen Wohnzimmertisch, der vor dem Sofa stand.

„Was … wollen Sie denn … von uns?“, meldete sich Ludger van Holsbeck, der sich mittlerweile vom ersten Schock etwas erholt hatte, mit leiser, zögernder Stimme.

„Sie sind der Anwalt von Hendrik Mulders?“, fragte Faltum.

Van Holsbeck wirkte überrascht.

„Ja … Mulders ist einer meiner Mandanten.“

„Er sitzt in Untersuchungshaft in Almere, richtig?“

„Ja.“ Ludger Van Holsbeck nickte. Seine Frau Ilse kratzte sich nervös am Handrücken und warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts.

„Wann ist ihr nächster Besuch bei ihm in Almere geplant?“

„Am Freitag … Befragung zur Prozessvorbereitung.“

Simon Faltum beugte sich nun zu Van Holsbeck hinab und sah ihm direkt in die völlig verunsicherten, glasigen Augen. Der Lauf seiner Pistole war bedrohlich auf den Kopf des Anwalts gerichtet, und seine Stimme klang unter der Maske verdammt unangenehm.

„Sie werden diesen Termin auf morgen früh vorverlegen.“

„Das … geht nicht so einfach.“ Van Holsbeck versuchte, die Augen unter der Maske zu fixieren, aber es gelang ihm nicht. Er wandte den Blick schnell wieder ab.

„Weshalb?“ Ein drohender Unterton begleitete die Frage.

„Man muss die Termine zuvor in der Anstalt anmelden.“

„Gut. Dann werden Sie gleich in der Früh dort anrufen und mitteilen, dass sie den Termin aus prozesstechnischen Gründen vorverlegen müssen.“ Simon Faltum sagte dies in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Doch der Anwalt wehrte sich.

„Ich weiß nicht, ob … das so schnell und einfach einzurichten ist.“ Van Holsbeck verzog zweifelnd das Gesicht, während der Blick seiner Frau Ilse immer noch ängstlich von ihrem Mann zu Faltum und von dort wieder zurück wanderte. Sie schien nicht zu verstehen, was diese Verbrecher von Ihnen wollten. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper wie Espenlaub.

„Was wollen Sie denn von uns?“, wiederholte sie zögerlich die Frage ihres Mannes.

„Und Sie reden nur, wenn wir Sie etwas fragen, ist das klar?“ Sie wartete nun darauf, etwas gefragt zu werden. Aber niemand fragte sie etwas. An Ludger van Holsbeck gewandt, erklärte Simon Faltum:

„Ihnen, Herr Anwalt, wird sicher ein guter Grund einfallen. Denn wir werden so lange hier bei Ihrer Frau bleiben, bis sie den Termin bei Mulders erledigt haben. Sie ist gewissermaßen unsere Sicherheit, dass Sie nicht auf dumme Gedanken kommen.“

„Sie behalten sie hier als … Geisel?“ Er starrte Faltum an, ohne dass er dessen Gesichtszüge erkennen konnte. Beide, der Anwalt wie auch seine Frau, waren von dieser Nachricht alles andere als begeistert. Die pure Angst stand ihnen im Gesicht. Van Holsbeck schüttelte ratlos den Kopf und fragte:

„Aber weshalb soll ich unbedingt morgen dorthin?“

„Weil sie Herrn Mulders einen schönen Gruß von uns ausrichten werden und ihm diese Packung Zigaretten übergeben.“

„Zigaretten? Der raucht doch gar nicht!“ Seine Worte klangen wie der letzte Versuch, das Unvermeidbare abzuwenden

„Muss er auch nicht. Aber sie bringen ihm die Zigaretten. Wird das Zigarettenpäckchen untersucht, bevor sie es an ihn weitergeben können?“

„Schon, manchmal. Aber meistens nur oberflächlich.“

„Gut. Ihre Aufgabe ist es also, Herrn Mulders dieses Päckchen mit Zigaretten zu überbringen. Einige fehlen schon, denn es soll so aussehen, als würden Sie Ihrem Mandanten die angebrochene Packung überlassen. Haben sie das erledigt, werden wir unverzüglich von hier verschwinden und Sie werden uns nie wieder zu Gesicht bekommen. Es sei denn …“

„Es sei denn?“, echote nun plötzlich Ilse van Holsbeck, als sei sie gerade aus ihrer Totenstarre wieder erwacht und etwas gefragt worden. Sie sah den Mann hinter der Skimaske mit einem verzagten Blick und den braunen Augen eines Robbenbabys an, das gleich erschlagen wird.

„Es sei denn, Sie oder ihr Mann nehmen in irgendeiner Form Kontakt mit der Polizei auf. Dann kommen wir wieder. Und das wird kein Spaß für Sie, verlassen Sie sich darauf.“ Mit einer alles erklärenden Geste zeigte Simon Faltum auf seine Waffe, als wolle er seinen Worten noch einmal besonderen Nachdruck verleihen. „Dann gehen für Sie beide die Lichter aus, verstanden?“

„Ja, gut … gut. Keine Polizei. Wir haben verstanden.“

Faltum richtete sich nun wieder auf und mit einer deutlichen Geste gab er den Holsbecks zu verstehen, dass sie sich erheben sollten, was sie auch sofort taten.

„Gehen Sie jetzt hinüber ins Schlafzimmer und legen sich auf das Bett. Sie bleiben angezogen und die Tür bleibt offen. Und keinen Laut mehr, Sie wissen ja …“ Mit einer vielsagenden Geste deutete Simon Faltum erneut auf seine Waffe, als wolle er ihnen seine Ankündigung von eben zum wiederholten Mal in Erinnerung bringen. Beide nickten nur ohne ein weiteres Wort. Danach gingen sie zögernd und wie befohlen ins Schlafzimmer. Sie legten sich nebeneinander auf das Bett. Eine Nachttischlampe erhellte spärlich den Raum.

Während Jesper Sonnesen sich einen Stuhl an die Tür zum Schlafzimmer stellte, um das Ehepaar stets im Auge behalten zu können, nahmen Simon Faltum und Johan Jonstrup auf dem Sofa Platz, auf dem bis vor wenigen Augenblicken noch Ludger und Ilse van Holsbeck gesessen hatten.

„Jetzt können wir nur noch warten“, flüsterte Simon. „Wenn du willst, kannst du etwas schlafen. Wir müssen nicht alle drei die ganze Nacht wachbleiben.“

„Gut. Weck‘ mich, wenn du mich brauchst.“ Damit machte es sich Jostrup auf dem Sofa bequem, während Faltum sich in einem der beiden Sessel niederließ und zu rauchen begann. Der Stein war ins Rollen gekommen. Jetzt gab es kein Zurück mehr …

Dunkel ist die Finsternis

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